© 2018 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 041/18, WD 3 - 3000 - 104/18 Möglichkeiten der Anerkennung nationaler Minderheiten in Deutschland Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 041/18, WD 3 - 3000 - 104/18 Seite 2 Möglichkeiten der Anerkennung nationaler Minderheiten in Deutschland Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 041/18, WD 3 - 3000 - 104/18 Abschluss der Arbeit: 5. April 2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 041/18, WD 3 - 3000 - 104/18 Seite 3 1. Fragestellung Internationale Abkommen regeln den Schutz nationaler Minderheiten. Es stellt sich die Frage, ob in Deutschland Verfahren vorgesehen sind, um den Status nationaler Minderheiten anzuerkennen . 2. Internationale Abkommen 2.1. Spezielle Abkommen zum Schutz nationaler Minderheiten Auf völkerrechtlicher Ebene bestehen zwei Verträge, die speziell den Schutz nationaler Minderheiten zum Gegenstand haben: - das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (Europarat)1, sowie - die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (Europarat)2. Bei der Ausarbeitung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten (RÜ) konnten sich die Vertragsparteien nicht auf eine Definition des Begriffs „nationale Minderheit“ einigen.3 Da damit klare völkervertragliche Vorgaben bezüglich des persönlichen Anwendungsbereichs des RÜ fehlten, entschlossen sich mehrere Staaten dazu, ihren Ratifikationsurkunden Erklärungen beizufügen und eigene Definitionen des Begriffs zu wählen.4 Hierbei gab es zwei Ansätze: Entweder wurden abstrakt nur solche Personen in den Anwendungsbereich des RÜ einbezogen, die Angehörige einer Gruppe sind, die allgemein als „alte“ oder „traditionelle“ Minderheiten bezeichnet werden (so etwa in Österreich, Luxemburg, Schweiz und Estland).5 Diese Gruppen verfügen über Bindungen an das jeweilige Gebiet, auf dem 1 Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (zur Unterzeichnung ausgelegt am 1. Februar 1995, in Kraft getreten am 1. Februar 1998), Sammlung Europäischer Verträge Nr. 157. Weiterführend hierzu: Philips, „The Framework Convention for the Protection of National Minorities and the Protection of the Economic Rights of Minorities” (2003/4) European Yearbook of Minority Issues, Bd. 3, S. 287. 2 Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (zur Unterzeichnung ausgelegt am 5. November 1992, in Kraft getreten am 1. März 1998), Sammlung Europäischer Verträge Nr. 148. Weiterführend hierzu: Lebsanft und Wingender (Hrsg.), Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (2012); Boysen et al., Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen: Handkommentar (2011). 3 Sachstand, „Zum Begriff der Minderheit im Sinne des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten“ (9. Juni 2008), WD 2 - 3000 - 059/08 (Anlage 1), S. 5 ff.; Hofmann et al. (Hrsg.), Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten: Handkommentar (2015), S. 72, Rn. 18; Frowein und Bank, „The Effect of Member States’ Declarations Defining ‘National Minorities’ upon Signature or Ratification of the Council of Europe’s Framework Convention” (1999), Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, S. 649. 4 Ibid. 5 Ibid. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 041/18, WD 3 - 3000 - 104/18 Seite 4 sie leben, die über mehrere Generationen reichen, und sie sind Staatsangehörige ihres Wohnsitzstaates .6 Oder es wurden, wie im Falle Deutschlands, konkrete Minderheiten aufgezählt, die in den persönlichen Anwendungsbereich des RÜ fallen sollten: “The Framework Convention contains no definition of the notion of national minorities . It is therefore up to the individual Contracting Parties to determine the groups to which it shall apply after ratification. National Minorities in the Federal Republic of Germany are the Danes of German citizenship and the members of the Sorbian people with German citizenship. The Framework Convention will also be applied to members of the ethnic groups traditionally resident in Germany, the Friesians of German citizenship and the Sinti and Roma of German citizenship.”7 Der Beratende Ausschuss des RÜ behält sich in ständiger Praxis vor, den persönlichen Anwendungsbereich , den sich die Mitgliedstaaten zum RÜ selbst geben, zu überprüfen. Allerdings beschränkt er diese Prüfung auf die Frage, ob die Erklärungen bestimmte Gruppen in willkürlicher oder diskriminierender Weise ausschließen.8 Derartige Feststellungen sind jedoch äußerst selten.9 Die Auswahl der Minderheiten durch Deutschland orientiert sich an den 1979 von Francesco Capotorti entwickelten objektiven und subjektiven Merkmalen, nach denen eine Gruppe als nationale Minderheit im völkerrechtlichen Sinne anerkannt werden kann.10 Da diese Merkmale als Teil einer Studie des Sonderberichterstatters für den VN-Unterausschuss zur Verhinderung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten vorgeschlagen wurden, kommt ihnen völkerrechtlich keine Bindungswirkung zu. Es handelt sich um unverbindliche Empfehlungen. Deutschland stützt die Anerkennung nationaler Minderheiten auf folgende Merkmale: - die Betroffenen sind deutsche Staatsangehörige; 6 Kritisch hierzu Frowein und Bank (Fn. 3). 7 Declaration contained in a letter from the Permanent Representative of Germany, dated 11 May 1995, handed to the Secretary General at the time of signature, on 11 May 1995 - Or. Ger./Engl. - and renewed in the instrument of ratification, deposited on 10 September 1997 - Or. Ger./Engl.; siehe hierzu auch Elle, Das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Minderheitspolitik in der Lausitz (Bautzen, 2005), S. 18 f. 8 Hofmann et al. (Fn. 3), S. 72, Rn. 18. 9 Ibid. 10 Capotorti, Study on the Rights of Persons belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities (1979), VN- Dok. Nr. E/CN.4/Sub.2/384/Rev.1., verfügbar unter: http://undocs.org/E/CN.4/Sub.2/384/Rev.1 (zuletzt aufgerufen am 29. März 2018). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 041/18, WD 3 - 3000 - 104/18 Seite 5 - sie unterscheiden sich von der Mehrheitsbevölkerung durch eigene Sprache, Kultur und Geschichte, auf die sich ihre jeweils eigenständige Identität gründet; - sie wollen ihre eigenständige Identität bewahren; - Angehörige dieser Gruppe leben traditionell, in der Regel seit mehreren Jahrhunderten, in Deutschland in angestammten Siedlungsgebieten.11 Die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen ist demgegenüber nicht relevant für die Anerkennung als nationale Minderheit, da sich ihr sachlicher Anwendungsbereich auf Sprachenrechte konzentriert und sich die materiell-rechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten insbesondere auf Maßnahmen zur Förderung des Gebrauchs von Regional- oder Minderheitensprachen richten.12 Zu nennen ist noch die „Deklaration der Vereinten Nationen über die Minderheitenrechte“ der VN-Generalversammlung von 1992.13 Diese ist völkerrechtlich nicht bindend. 2.2. Sonstige völkerrechtliche Abkommen Neben vorgenannten speziellen Abkommen schützen auch andere völkerrechtliche Abkommen nationale Minderheiten in Deutschland mittelbar, wie etwa: - Internationales Übereinkommen vom 7. März 1966 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung ;14 - Art. 27 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966;15 - Art. 30 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989.16 11 Hofmann et al. (Fn. 3), S. 87, Rn. 2; BMI, „Nationale Minderheiten: Minderheiten- und Regionalsprachen in Deutschland“ (2. Aufl., 2014), verfügbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen /2014/Minderheiten_Minderheitensprachen.pdf;jsessionid =ACA42E3DF01FF90265C96BE1BAE3E243.2_cid287?__blob=publicationFile&v=3, S. 10; Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, „Tätigkeitsbericht 2017 (Januar bis Oktober 2017)“ (18. Januar 2018), verfügbar unter: file:///N:/GLW_wd2-gl/Austauschordner/G%C3%A4tzschmann /041_18_Anerkennung%20als%20nationale%20Minderheit_Kriterien%20der%20VN/taetigkeitsberichtkoschyk -2017.pdf, S. 12 ff. (jeweils zuletzt aufgerufen am 29. März 2018). 12 Hofmann, „Minorities, European Protection“ (2007), in: Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 29. März 2018), Rn. 17. 13 http://www.ohchr.org/EN/ProfessionalInterest/Pages/Minorities.aspx. 14 Gesetz vom 9. Mai 1969 zu dem Internationalen Übereinkommen vom 7. März 1966 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, BGBl. 1969 II S. 961. 15 Gesetz vom 15. November 1973 zu dem Internationalen Pakt vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte, BGBl. 1973 II S. 1553. 16 Gesetz vom 17. Februar 1992, BGBl. II S. 121. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 041/18, WD 3 - 3000 - 104/18 Seite 6 Auch hier gilt wie bei den speziellen Abkommen: Eine völkerrechtliche Definition des Begriffs „nationale Minderheit“ besteht nicht. Die Anerkennung nationaler Minderheiten ist Angelegenheit der Mitgliedstaaten.17 3. Bundes- und Landesrecht Auf Bundesebene sind insbesondere folgende Bestimmungen für nationale Minderheiten einschlägig : - Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG);18 - § 6 Abs. 3 Bundeswahlgesetz: „Bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Satz 1 findet auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung .“19 Ferner bestehen auf Landesebene Spezialregelungen für einzelne nationale Minderheiten, namentlich Dänen, Friesen und Sorben: - Art. 25 Verfassung des Landes Brandenburg;20 - Gesetz zur Ausgestaltung der Rechte der Sorben (Wenden) im Land Brandenburg (SWG);21 - Art. 5 Verfassung des Freistaates Sachsen;22 - Gesetz über die Rechte der Sorben im Freistaat Sachsen (Sächsisches Sorbengesetz);23 - Art. 5 Verfassung des Landes Schleswig-Holstein;24 - Gesetz zur Förderung des Friesischen im öffentlichen Raum (SHFriesischG);25 - § 184 S. 2 Gerichtsverfassungsgesetz.26 17 Strelen, in Schreiber, BWahlG (10. Aufl., 2017), § 6 Rn. 49. 18 Vom 14. August 2006, BGBl. I S. 1897. 19 Vom 3. Juli 1993, BGBl. I S. 1288, 1594: Keine „5%-Hürde“ für die Listen von Parteien nationaler Minderheiten. 20 Vom 20. August 1992, GVBl. I S. 298. 21 Vom 7. Juli 1994, GVBl. I S. 294. 22 Vom 27. Mai 1992, GVBl. S. 234. 23 Vom 31. März 1999, GVBl. S. 161. 24 In der Fassung vom 13. Juni 1990, GVOBl. S. 391. 25 Vom 13. Dezember 2004, GVBl. S. 481. 26 In der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975, BGBl. I S. 1077, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2006, BGBl. I S. 3416: sorbische Sprache vor Gericht. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 041/18, WD 3 - 3000 - 104/18 Seite 7 Vorgenannte Bestimmungen werden durch verschiedene bilaterale Absichtserklärungen flankiert, so z. B. die Bonner Erklärung vom 29. März 195527 (betreffend die Minderheit der Dänen). 4. Derzeitiger Stand: Keine besonderen Anerkennungsverfahren Keine der aktuell geltenden Bestimmungen des Bundes- oder Landesrechts sieht ein besonderes Verfahren vor, nach dem sich nationale Minderheiten formal anerkennen lassen können. Personen , die sich als Teil einer nationalen Minderheit ansehen, können ihre nach Bundes- oder Landesrecht gegebenen Rechte bei den betreffenden öffentlichen Stellen geltend machen. Im Streitfall können nationale Minderheiten ihre Rechte – z. B. nach dem AGG – vor Gericht einklagen. 5. Handlungsspielraum des Gesetzgebers Die Bundes- und Landesgesetzgeber könnten Anerkennungsverfahren für nationale Minderheiten einrichten. Diese würden im jeweiligen Kompetenzbereich gelten, den das Grundgesetz für Bund und Länder vorsieht (Artikel 70 ff. Grundgesetz). Denkbar ist, dass Anerkennungsverfahren nur klarstellende Funktion haben und nationale Minderheiten auch ohne formale Anerkennung ihre Rechte in gleichem Maße geltend machen dürften. In diesem Fall dürfte das Anerkennungsverfahren eher nicht in Grundrechte der Minderheiten eingreifen. Im Übrigen hängt die Verfassungsmäßigkeit von der Ausgestaltung im Einzelfall ab. *** 27 Bundesanzeiger Nr. 63 vom 31. März 1955, S. 4 f.