Deutscher Bundestag Voraussetzungen für die Anerkennung als nationale Minderheit Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 101/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 101/12 Seite 2 Voraussetzungen für die Anerkennung als nationale Minderheit Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 101/12 Abschluss der Arbeit: 26. April 2012 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 101/12 Seite 3 1. Einleitung Die vorliegende Ausarbeitung befasst sich mit den Voraussetzungen für die Anerkennung einzelner Personengruppen als nationale Minderheit. Hierzu werden zunächst die einschlägigen internationalen und nationalen Rechtsgrundlagen vorgestellt. Sodann werden die Definitionen des Begriffs der Minderheit näher erläutert und damit die einzelnen Kriterien für die Anerkennung als nationale Minderheit aufgezeigt. In diesem Zusammenhang werden die im einschlägigen Schrifttum konträren Auffassungen zu der Reichweite des Minderheitenschutzes dargestellt. 2. Minderheitenschutz auf internationaler und nationaler Ebene Zum Schutz nationaler Minderheiten gibt es zahlreiche internationale Dokumente und Abkommen . Als bedeutsamste Regelung zum Schutz nationaler Minderheiten auf der Ebene des Völkerrechts ist Art. 27 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) vom 19. Dezember 1966 zu nennen,1 der bestimmt, dass Angehörigen von Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden darf, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer Sprache zu bedienen. Zudem ist die Deklaration über die Rechte von Personen, die zu nationalen oder ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten gehören der Generalversammlung der Vereinten Nationen von Relevanz.2 In dieser Deklaration werden die Staaten dazu aufgefordert , die Existenz und Identität von Minderheiten zu sichern und ihnen günstige Entwicklungsbedingungen zu schaffen. Ihr kommt aber keine rechtlich verbindliche Wirkung zu; sie hat lediglich ein politisch-moralisches Gewicht.3 Die zentrale europäische Regelung zum Minderheitenschutz ist das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, welches am 10. November 1994 vom Ministerkomitee des Europarats verabschiedet wurde.4 Das auch für Nichtmitglieder des Europarates offene Übereinkommen enthält verbindliche Grundsätze zum Schutz der nationalen Minderheiten. Es verbietet den Vertragsstaaten jede Diskriminierung einer Person wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit sowie die Assimilierung solcher Personen gegen deren Willen.5 Nach Art. 5 Abs. 1 des Übereinkommens sind die Parteien verpflichtet, die Bedingungen zu fördern, die es Angehörigen nationaler Minderheiten ermöglichen, ihre Kultur zu pflegen und weiterzuentwickeln und die wesentlichen Bestandteile ihrer Identität, nämlich ihre Religion, ihre Sprache, ihre Tradition und ihr kulturelles Erbe, zu bewahren. Das Rahmenübereinkommen des Europarates 1 Abgedruckt im Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1973 II S. 1534. 2 Deklaration der Generalversammlung vom 18. Dezember 1992 A/RES/47/135, abzurufen unter: http://www.un.org/documents/ga/res/47/a47r135.htm. Stand aller Internetangaben 25. April 2012. 3 Kimminich, Otto/Hobe, Stephan, Einführung in das Völkerrecht, 9. Auflage 2008, S. 467. 4 Abgedruckt im Bundesgesetzblatt (BGBl.) II 1997, S. 1408. 5 Nationale Minderheiten in Deutschland, Bundesministerium des Innern (BMI), S. 41, abzurufen unter: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/2010/natmin.pdf;jsessionid=7DA06E068C9 D4B284415DE9DDD338998.2_cid295?__blob=publicationFile. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 101/12 Seite 4 zum Schutz nationaler Minderheiten wurde bisher von 39 Mitgliedstaaten ratifiziert.6 In der Bundesrepublik Deutschland ist es seit dem 1. Februar 1998 in Kraft. Nach dem Vertragsgesetz7 vom 22. Juni 1997 gilt das Übereinkommen in Deutschland als Bundesgesetz, das nachrangiges Recht – einschließlich Landesgesetze – bricht und gegenüber sonstigen Bundesgesetzen grundsätzlich als das speziellere Gesetz anzuwenden ist.8 Daneben ist die Europäische Charta der Regional - oder Minderheitensprachen von Relevanz, die am 1. März 1998 in Kraft getreten ist.9 Diese enthält eine umfangreiche Verpflichtung, die Regional- oder Minderheitensprachen als Ausdruck des kulturellen Reichtums anzuerkennen und ungerechtfertigte Bevorzugungen und Benachteiligungen dieser Sprachen zu beseitigen.10 Sie trat in Deutschland am 1. Januar 1999 in Kraft und gilt hier ebenfalls als Bundesgesetz. Im deutschen Rechtssystem finden sich spezifische Minderheitenschutzregelungen vor allem im Bundeswahlrecht und Parteienrecht.11 So findet gem. § 6 Abs. 6 S. 2 Bundeswahlgesetz (BWG)12 die Sperrklausel des § 6 Abs. 6 S. 1 keine Anwendung auf Parteien nationaler Minderheiten. Diese Parteien haben gem. § 18 Abs. 4 S. 3 Parteiengesetz (PartG)13 einen Anspruch auf staatliche Finanzierung nach § 18 Abs. 3, auch wenn sie nicht die in § 18 Abs. 4 S. 1 und 2 PartG vorausgesetzten Anteile an Wählerstimmen erreicht haben. Ferner werden sie durch § 25 Abs. 2 Nr. 3b PartG hinsichtlich ausländischer Spendengelder privilegiert. Daneben enthalten manche Länderverfassungen besondere Bestimmungen zum Minderheitenschutz.14 3. Voraussetzungen für die Anerkennung als nationale Minderheit 3.1. Der Begriff der Minderheit im internationalen Recht Eine einheitliche Definition des Begriffs „nationale Minderheit“ existiert nicht. Die im Völkerrecht vorherrschende Definition geht auf Francesco Capotorti zurück, die dieser in den späten 6 Stand April 2012, eine Auflistung der Staaten findet sich unter: http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=157&CM=1&DF=&CL=GER. 7 Gesetz zu dem Rahmenübereinkommen des Europarats vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten , BGBl. (Fn. 4), S. 1406 f. 8 Nationale Minderheiten (Fn. 5), S. 41. 9 Abgedruckt in BGBl. II 1998, S. 1314 ff. 10 Hölscheidt, Sven, in: Meyer, Jürgen, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Auflage 2011, Art. 22 Rn. 3. 11 Auch in der Protokollnotiz Nr. 14 zu Art. 35 des Einigungsvertrags findet der Minderheitenschutz Erwähnung, sieh hierzu Nationale Minderheiten (Fn. 5), S. 40. 12 Bundeswahlgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Juli 1993 (BGBl. I S. 1288, 1594), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 12. April 2012 (BGBl. I S. 518) geändert worden ist. 13 Parteiengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (BGBl. I S. 149), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. August 2011 (BGBl. I S. 1748) geändert worden ist. 14 Siehe hierzu die Auflistung in Nationale Minderheiten (Fn. 5), S. 48 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 101/12 Seite 5 1970er Jahren im Auftrag der Vereinten Nationen entwickelt hat.15 Nach der Definition von Capotorti wird eine Personengruppe als Minderheit eingestuft, wenn diese sich: – ethnisch, religiös oder sprachlich von der übrigen Bevölkerung unterscheidet, – zahlenmäßig unterlegen ist, – keine beherrschende Stellung innehat, – sich aus Staatsangehörigen des Wohnsitzstaates zusammensetzt – und ihre Gruppenidentität bewahren will.16 Diese Kriterien sind zwar weitgehend anerkannt, jedoch herrscht über die Reichweite des Minderheitenschutzes Uneinigkeit. Strittig ist, welche Personengruppen dem Minderheitenbegriff unterfallen, genauer: ob neben den im jeweiligen Staatsgebiet beheimateten (sogenannte alte oder autochthone Minderheiten) auch Ausländer (Personengruppen ohne Staatsangehörigkeit) und eingebürgerte Immigranten (sogenannte neue oder allochthone Minderheiten) erfasst werden.17 Die im Schrifttum herrschende Auffassung18 begrenzt den Anwendungsbereich des Begriffs „Minderheit“ auf die autochthonen Minderheiten. Es wird angeführt, dass die Entstehung von Idee und Konzeption des Minderheitenschutzes mit der Entstehung des Nationalstaates und der Änderung der Staatsgrenzen eng zusammenhänge. Die durch die Nationalstaatenbildung und den Grenzänderungen zwangsläufig entstandenen ethnischen Minderheiten hätten einen Anspruch darauf, dass ihre Identität geachtet und bewahrt wird, weil sie „seit jeher in ihrem Siedlungsgebiet ansässig“ seien und damit in ihrer Heimat lebten.19 Dagegen seien - unabhängig von den Migrationsgründen - aus eigenem Entschluss einwandernde Personengruppen weniger schutzbedürftig , weil der Aufenthaltsstaat gerade nicht ihre Heimat darstelle.20 Diese seien durch anderweitige Rechtsinstrument ausreichend geschützt. Zudem würde die Souveränität des betreffenden Staates aufgehoben und damit die Idee des Nationalstaates in Frage gestellt, wenn Minderheitenschutz aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen jedem Einwanderer gewährt würde.21 15 Vgl. Schneider, Katja, Assimilation und Integration – Begriffsanalyse aus der Perspektive der Rechtswissenschaft , ZAR 2011, S. 8 ff., S. 13. 16 Zitiert nach Beaucamp, Guy, Minderheitenschutz in den Baltischen Staaten und in der Bundesrepublik Deutschland – ein Rechtsvergleich im Überblick, ZaöRV 2003, S. 779 ff., S. 783; siehe für eine ausführliche Darstellung der einzelnen Kriterien Niewerth, Johannes, Der kollektive und der positive Schutz von Minderheiten und ihre Durchsetzung im Völkerrecht, 1996, S. 32 ff. 17 Siehe zu den Begrifflichkeiten und der Problematik im allgemeinen Schneider (Fn. 13), S. 13f. 18 Murswiek, Dietrich, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, Handbuch des Staatsrechts, 1995, Bd. VIII, § 201 Rn. 36 ff; Siegert, Anja, Minderheitenschutz in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, S. 41 ff.; Beaucamp (Fn. 16), S. 784; Mäder, Werner, Sprache und Recht: Minderheitenschutzrecht in Deutschland, JuS 2000, S. 1150, S. 1152. 19 Murswiek (Fn. 18), Rn. 38 ff.; Siegert, Anja, Minderheitenschutz in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, S. 50 f. lässt für die „Ansässigkeit“ der betreffenden Gruppe genügen, wenn diese 90 Jahre oder oder seit drei Generationen im Land leben. 20 Murswiek (Fn. 18), Rn. 43 ff. 21 Vgl. Beaucamp (Fn. 16), S. 784; Murswiek (Fn. 18), Rn. 47. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 101/12 Seite 6 Nach einer weiten Auffassung22 dagegen unterfallen auch Ausländer und eingebürgerte Immigranten dem völkerrechtlichen Minderheitenbegriff. Angeführt wird, dass die zeitgeschichtlichen Entwicklungen, insbesondere die Migrationsbewegungen, die zu erheblichen Veränderungen der Bevölkerungsstrukturen führen, eine Modifikation des bestehenden Minderheitenbegriffs erforderlich machen.23 Argumentiert wird, dass auch Angehörigen der Einwanderergruppen ein Recht auf Erhalt ihrer Identität zustehe.24 Da sowohl die einschlägigen Völkerrechtsinstrumente als auch die Definition Capotortis keine übereinstimmende Antwort auf die Frage, ob eine gewisse Existenzdauer einer Gruppe auf dem Staatsgebiet bzw. eine Abstammung zu verlangen ist, gäben, sei ein enges Verständnis des Begriffs der Minderheit nicht zwingend. Eine Auslegung des Art. 27 IPbürgR nach dem Wortlaut und seinem Sinn und Zweck zeige lediglich, dass Gruppen eine gewisse Dauer auf dem betreffenden Staatsgebiet gelebt haben müssten, demnach könnten auch Einwanderer und Gastarbeiter, die das Erfordernis einer gewissen Dauerhaftigkeit erfüllten, vom Minderheitenschutz erfasst werden und zwar unabhängig davon, ob sie die Staatsbürgerschaft besäßen.25 3.2. Der Begriff der Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland Den einzelnen Staaten steht es grundsätzlich frei, bei der Ratifizierung völkerrechtlicher Übereinkommen einen Vorbehalt zu machen, um zu präzisieren, auf welche Minderheitengruppen das Übereinkommen Anwendung finden soll, solange dieser mit dem Zweck des Vertrages vereinbar ist. 26 Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Ratifizierung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten deutlich gemacht, dass nur die traditionell in Deutschland beheimateten ethnischen Gruppen als nationale Minderheit im Sinne völkerrechtlicher Verträge und nationaler Vorschriften verstanden werden sollen.27 Die Bundesrepublik 22 Niewerth (Fn. 16), S. 40 ff., Hofmann, Rainer, Menschenrechte und der Schutz nationaler Minderheiten, ZaöRV 2005, S. 587ff., S. 592 u. 601 f., Klebes, Heiner, Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, Einführung von Klebes, EuGRZ 1995, S. 263 Fn. 12. 23 Vgl. Faisst, Sabine, Minderheitenschutz im Grundgesetz und in den Landesverfassungen, 2000, S. 30. 24 Niewerth (Fn. 16), S. 41 f. 25 Niewerth (Fn. 16), S. 41 ff. 26 Vgl. Klebes (Fn. 22), S. 263 Fn. 12; Hofmann (Fn. 22), S. 601. 27 Vgl. Schneider (Fn. 15), S. 14; siehe dazu die Erklärung der Bundesrepublik Deutschland bei der Zeichnung des Rahmenabkommens zum Schutz nationaler Minderheiten am 11. Mai 1995, BGBl. II 1997, S. 1418; die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS zur Förderung deutscher Minderheiten in Osteuropa seit 1991/1992 (BT-Drs. 14/4006) vom 6. September 2000, BT-Drs. 14/4045, S. 2; siehe auch die Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland zu der Stellungnahme des Beratenden Ausschusses zu dem Bericht über die Umsetzung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland vom Juli 2002, S. 8, abzurufen unter: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/MigrationIntegration/NationaleMinderheiten/Ra hmenuebereinkommen_des_Europarates_zum_Id_23218_de.pdf?__blob=publicationFile. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 101/12 Seite 7 Deutschland legt damit eine enge Definition zugrunde und sieht Gruppen der Bevölkerung als nationale Minderheiten an, die folgenden Kriterien entsprechen28: – ihre Angehörigen sind deutsche Staatsangehörige, – sie unterscheiden sich vom Mehrheitsvolk durch eigene Sprache, Kultur und Geschichte, also eigene Identität, – sie wollen diese Identität bewahren, – sie sind traditionell in Deutschland heimisch, – sie leben hier in angestammten Siedlungsgebieten. Mithin werden in der Bundesrepublik Deutschland vom Minderheitenschutz die sogenannten autochthonen Minderheiten erfasst, nämlich die: – Sorben in Brandenburg und Sachsen, – Friesen in Schleswig-Holstein und Niedersachen, – Dänen in Schleswig-Holstein sowie – Sinti und Roma. 28 Siehe Entwurf eines Gesetzes zu den Rahmenübereinkommen des Europarates vom 1. Februar 1995 zum Schutz nationaler Minderheiten, BT-Drs 13/6912 vom 11. Februar 1997, S. 21 und die Antwort der Bundesregierung (Fn. 27), S.1 f.