© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 099/20 Unterschiedliche Zwecke von Infektionsschutzmaßnahmen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 099/20 Seite 2 Unterschiedliche Zwecke von Infektionsschutzmaßnahmen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 099/20 Abschluss der Arbeit: 8. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 099/20 Seite 3 1. Fragestellung Die Länder können nach § 32 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) im Wege der Rechtsverordnung „Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten […] erlassen“. Die Länder haben von dieser Befugnis Gebrauch gemacht, so z. B. die „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“.1 Es stellt sich die Frage, welchen Zweck bzw. welches Ziel diese Maßnahmen erfordern und ob sich aus einem unterschiedlichen Zweck verfassungsrechtliche Unterschiede ableiten lassen. Insbesondere geht es dabei um folgende beiden Ziele: – Eine Überlastung des Gesundheitssystems soll vermieden werden, indem die Anzahl der in einem bestimmten Zeitraum Infizierten möglichst gering gehalten wird (Überlastungsschutz); – möglichst wenig Nichtinfizierte sollen sich mit dem Virus anstecken (Ausbreitungsschutz). 2. Rechtsprechung Die folgenden Entscheidungspassagen gehen auf den Zweck der aktuellen Infektionsschutzmaßnahmen ein. Die zitierte Rechtsprechung ist ausnahmslos im einstweiligen Verfahren ergangen. Sie beruht daher auf einer summarischen Prüfung und ist insoweit vorläufig. Die Rechtsprechung ist vielfach noch nicht veröffentlicht. Gleichwohl dürfte die folgende Auswahl an Rechtsprechungszitaten den aktuellen Stand im Wesentlichen abdecken. Jedenfalls ganz überwiegend verknüpft die Rechtsprechung beide Ziele miteinander: „Diese massiven Eingriffe [durch Ausgangsbeschränkungen] sind aber – soweit im Eilverfahren feststellbar – von einer hinreichend bestimmten, ihrerseits verfassungskonformen gesetzlichen Grundlage getragen und zur Erreichung eines legitimen Ziels – unmittelbar der befristeten Verhinderung weiterer Infektionsfälle, mittelbar der Gewährleistung einer möglichst umfassenden medizinischen Versorgung von Personen, die an COVID-19 erkrankt sind – geeignet.“2 „Nach der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann derzeit nicht festgestellt werden, dass die in Rede stehende Untersagung gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes zur Verhinderung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 erforderlich ist. Denn entgegen der Annahme des Landkreises dränge sich eine absehbare Kollabierung des Gesundheitssystems des Landkreises infolge eines erhöhten Anstiegs der Ansteckungsgefahr wegen der bevorstehenden Anreise von Zweitwohnungsnutzern keinesfalls auf. Zwar sei es ein berechtigtes Anliegen zu verhindern, dass die medizinischen Kapazitäten, insbesondere im Bereich der Intensivmedizin, infolge einer zunehmenden Ausbreitung der 1 https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/; Ländervergleichende Übersicht (überwiegend mehrere Verordnungen pro Bundesland): https://brak.de/die-brak/coronavirus/uebersicht-covid19vo-der-laender/; https://www.tagesschau.de/inland/corona-bundeslaender-101.html; siehe auch die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und den Bundesländern „Leitlinien zum Kampf gegen die Corona-Epidemie“, vom 16. März 2020, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/meseberg/leitlinien-zum-kampf-gegen-die-corona-epidemie -1730942. 2 BayVGH, Beschluss vom 30. März 2020, 20 NE 20.632, juris, Rn. 34 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 099/20 Seite 4 Infektion nicht überschritten werden. Inwieweit allerdings ein Zusammenhang zwischen der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems im Versorgungsgebiet und der Nutzung von Nebenwohnungen bestehe, sei derzeit nicht ersichtlich [...].“3 „Auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist gewahrt. Der Eingriff in das Grundrecht der Antragstellerin und der bezweckte Erfolg, der im Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere einer Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems besteht, stehen nicht außer Verhältnis. Zwar muss die Antragstellerin einen Eingriff in ihre Berufsausübung und voraussichtlich empfindliche Einkommenseinbußen hinnehmen. Auf der anderen Seite rechtfertigt der Gesundheitsschutz, insbesondere die Verlangsamung der Ausbreitung der hoch infektiösen Viruserkrankung, in der gegenwärtigen Situation einschneidende Maßnahmen wie sie die Antragsgegnerin vorliegend getroffen hat. Wie oben dargestellt ist es nach Ansicht von Experten entscheidend, die Verbreitung des Coronavirus gerade in einer Frühphase effektiv zu bekämpfen. Ansonsten droht die nicht fernliegende Gefahr eines Kollabierens des staatlichen Gesundheitssystems, wie es beispielsweise in Italien der Fall zu sein scheint.“4 „Die starke Zunahme der Fallzahlen innerhalb weniger Tage und die daraus resultierende hohe Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung machen eine Unterbrechung der Infektionsketten dringend erforderlich. Insoweit erscheint es auch aus Sicht der Kammer als erforderlich und angemessen, Menschenansammlungen so weit wie möglich auszuschließen.“5 „Im Gegensatz dazu sind die Schäden, die bei einer weiteren und vor allem ungebremsten Verbreitung des Virus und einem deutlichen Ansteigen der Erkrankungs- und Todeszahlen für eine sehr große Zahl von Menschen zu gewärtigen wären, von deutlich höherem Gewicht.“6 „Der Verlangsamung der Ansteckungsrate durch Vermeidung sozialer Kontakte komme entscheidende Bedeutung zu, um die Überlastung und den Zusammenbruch des Gesundheitssystems und in der Folge erhebliche Gesundheitsschäden und den Tod einer Vielzahl von Menschen zu verhindern.“7 3 Pressemitteilung des VG Potsdam vom 1. April 2020, https://www.juris.de/jportal/portal /page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA200400942&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht .jsp (Hervorhebung durch Autor). 4 VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020, 5 V 553/20, juris, Rn. 43 (Hervorhebung durch Autor). 5 VG Hannover, Beschluss vom 27. März 2020, 15 B 1968/20, juris, Rn. 13 (Hervorhebung durch Autor); siehe auch VG Göttingen, Beschluss vom 20. März 2020, 4 B 56/20: Allgemeinverfügung zum Schutz vor Corona darf große Geburtstagsfeier untersagen. 6 VG Hamburg, Beschluss vom 27. März 2020, 14 E 1428/20, juris, Rn. 67, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13771374/70d4d8e4a9bc41aed170cf2c2e01a9f0/data/14-e-1428-20.pdf (Hervorhebung durch Autor). 7 Pressemitteilung vom 3. April 2020 zu VG Berlin, Beschluss vom 2. April 2020, VG 14 L 31.20, https://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.915801.php (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 099/20 Seite 5 „In Anbetracht der gesundheitlichen Gefährdung einer Vielzahl von Menschen erschienen die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit für einen vorübergehenden Zeitraum angemessen.“8 „Unter Berücksichtigung dieser fachlichen Zusammenhänge liegt auf der Hand, dass die getroffenen Maßnahmen durchaus geeignet sind, einzelne Infektionsketten zu unterbrechen bzw. eine rasch fortschreitende Ansteckung anderer Personen einzudämmen.“9 „Sie [Schließungsmaßnahmen] sind geeignet, weil durch eine Schließung der betroffenen Sport- und Freizeitstätte verhindert wird, dass sich Menschen dort aufhalten und sich oder andere mit SARS-CoV-2 infizieren.“10 „Das weitreichende Verbot der Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels ist geeignet, die weitere Verbreitung des Virus und vor allem die Verbreitungsgeschwindigkeit einzudämmen. Das Verbot verhindert eine Interaktion von Kunden und Personal. Zudem ist es geeignet, die Bevölkerung zu bewegen, vermehrt zu Hause zu bleiben und nur notwendige Besorgungen zur Befriedigung des täglichen Bedarfs zu tätigen. Bei der Auswahl und Beurteilung der Wirksamkeit von Maßnahmen zur Bekämpfung einer neuartigen Viruserkrankung muss den zuständigen Gesundheitsbehörden zudem ein Beurteilungsspielraum zugebilligt werden. Wie oben dargestellt gehen die Aussagen verlässlicher Experten dahin, dass Maßnahmen der sozialen Distanzierung (wie die Schließung von Geschäften) neben anderen Maßnahmen ein wichtiger und entscheidender Baustein bei der Verlangsamung der Ausbreitung der Infektion sind.“11 „Nicht unberücksichtigt bleiben kann hierbei, dass neben konkreten Gefahren für die körperliche Unversehrtheit der hiesigen Antragsteller auch das allgemeine Risiko einer weiteren Verbreitung des Coronavirus besteht, dem die aktuellen Handlungsempfehlungen der Bundesund Landesregierungen gerade begegnen wollen. Auch dieses kann vom Verfassungsgerichtshof in die Abwägung einbezogen werden.“12 „Unter dem Eindruck der vergangenen und aktuellen Entwicklung des Infektionsgeschehens in der Bundesrepublik Deutschland […] hat der Senat keinen Zweifel, dass die in Ziffer 5 der Allgemeinverfügung vom 23. März 2020 untersagte Anreise zur Nutzung einer im Kreis Nordfriesland gelegenen Nebenwohnung derzeit ein geeignetes, notwendiges und angemessenes Mittel darstellt, um die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus SARS-CoV-2 im Gebiet des Antragsgegners einzudämmen. Angesichts der rasanten Ausbreitung von COVID-19 besteht 8 Beck-aktuell, VG Dresden: Eilanträge gegen sächsische Maßnahmen zu Corona-Pandemie erfolglos, zu VG Dresden, Beschluss vom 30. März 2020, 6 L 212/20, 6 L 220/20, https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/vg-dresden-eilantraegegegen -saechsische-massnahmen-zur-corona-pandemie-bleiben-ohne-erfolg (Hervorhebung durch Autor). 9 VG Bayreuth, Beschluss vom 11. März 2020, B 7 S 20.223, juris, Rn. 52 (Hervorhebung durch Autor). 10 VG Hamburg, Beschluss vom 27. März 2020, 14 E 1428/20, juris, Rn. 60, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13771374/70d4d8e4a9bc41aed170cf2c2e01a9f0/data/14-e-1428-20.pdf (Hervorhebung durch Autor). 11 VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020, 5 V 553/20, juris, Rn. 39 (Hervorhebung durch Autor). 12 VerfGH Sachsen, Beschluss vom 20. März 2020, Vf. 39-IV-20, BeckRS 2020, 4039, Rn. 18 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 099/20 Seite 6 eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch die Anreise von Personen zur Nutzung einer Nebenwohnung, von denen es im Gebiet des Antragsgegners mehrere Tausend gibt, die Infektionsausbreitung verstärken würde und in der Folge auch zu einer Überlastung der medizinischen Kapazitäten im Gebiet des Antragsgegners führen könnte (die medizinischen Kapazitäten im Gebiet des Antragsgegners sind auf die Inhaber einer Erstwohnung ausgelegt). Es geht insbesondere darum, für die Bevölkerung eine ausreichende Anzahl von Intensivbetten und Beatmungsgeräten vorzuhalten, damit das medizinische Personal nicht – wie in Italien – darüber entscheiden muss, welche beatmungspflichtigen Patienten von einer intensivmedizinischen Behandlung ausgeschlossen werden.“13 „Vorliegend streiten auf Seiten des öffentlichen Interesses überragende Gründe der Abwehr von Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung und der Sicherstellung der Leistungsfähigkeit der ärztlichen, insbesondere krankenhausärztlicher (Intensiv-)Versorgung für die Bevölkerung. Hierbei ist nicht allein in den Blick zu nehmen, dass die Antragsteller selbst möglicherweise (derzeit) nicht infiziert sind und daher kein Ansteckungsrisiko für andere ausgeht. Die aktuelle Infektionsgefahr ist bekanntermaßen insbesondere dadurch extrem risikobehaftet, dass bislang unentdeckt infizierte Personen sich im öffentlichen Raum bewegen und andere unwissentlich infizieren. Alltagskontakten etwa beim Einkaufen oder auf der Straße werden auch nach aller Lebenswahrscheinlichkeit Personen wie die Antragstellerin ausgesetzt sein, sodass allein dadurch eine potentielle Erhöhung des Infektionsrisikos durch jede weitere hier aufhältliche Person anzunehmen ist. Vorliegend geht es auch bei der hier streitigen Allgemeinverfügung um den Schutz vor den Folgen der exponentiellen Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CO-2.“14 „Die in der angegriffenen Allgemeinverfügung enthaltene Anordnung des Verbots der Nutzung einer Nebenwohnung in dem Gebiet des Antragsgegners dient zuvörderst der Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit der dort lebenden, d.h. mit Erstwohnsitz ansässigen Bevölkerung . Aufgrund der derzeit ungebremsten Ausbreitung der Krankheit COVID-19 durch pandemische Ausbreitung des Infektionsvirus besteht die realistische Befürchtung, dass die medizinische Versorgung an Kapazitätsgrenzen stößt. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Gewährleistung der krankenhausärztlichen (Intensiv-)Versorgung, die bei schweren Krankheitsverläufen dringend erforderlich ist.“15 „Selbst wenn man – abweichend vom oben Gesagten – den Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache als offen ansehen wollte, führt eine allgemeine Interessenabwägung zu einem klaren Überwiegen des öffentlichen Interesses an dem Schutz von Leben und Gesundheit der 13 OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 2. April 2020, 3 MB 8/20, juris, Rn. 38 (Hervorhebung durch Autor); vorgehend VG Schleswig Holstein, Beschluss vom 25. März 2020, 1 B 30/20, juris. 14 VG Schleswig Holstein, Beschluss vom 22. März 2020, 1 B 17/20, juris, Rn. 12 (Hervorhebung durch Autor). 15 VG Oldenburg, Beschluss vom 31. März 2020, 7 B 709/20, juris, Rn. 19 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 099/20 Seite 7 Bevölkerung und der Sicherung des Gesundheitssystems gegenüber den wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin.“16 „Mit Blick auf das gesetzgeberische Ziel eines vorbeugenden Gesundheitsschutzes sind damit die Eingriffsvoraussetzungen des IfSG bewusst weit gefasst. […] Angesichts dieser Lage, die sich derzeit täglich in Richtung auf eine deutliche Zunahme der Infektionszahlen ändert, ist die Schließung von Einrichtungen, in denen Menschen zusammenkommen, eines der geeigneten Mittel, die vielfach beschriebene Infektionskurve zumindest abzuflachen, um eine kurzfristige dramatische Überlastung des gesamten Gesundheitssystems, namentlich der Krankenhäuser , zu verhindern und Zeit für die Entwicklung von Impfstoffen und Arzneimitteln zu gewinnen.“17 „Angesichts der erheblichen Ansteckungsgefahr und der dadurch drohenden Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems ist die Einschränkung nicht erforderlicher Freizeitaktivitäten gerechtfertigt.“18 3. Verfassungsrechtliche Konsequenzen 3.1. Schutzgut: Leben Der Überlastungsschutz stützt sich im Wesentlichen auf den Ausbreitungsschutz. Beim Überlastungsschutz geht es aber vor allem um die Geschwindigkeit der Ausbreitung. Beim Ausbreitungsschutz geht es zunächst nur um die Ausbreitung selbst, unabhängig von der Geschwindigkeit. Über den Überlastungsschutz hinaus kann der Ausbreitungsschutz dazu dienen, jeden Infizierten vor einer individuellen gesundheitlichen Beeinträchtigung zu schützen, die auch in einem funktionierenden Gesundheitssystem potentiell tödlich sein kann. In diesem Sinne würden sich beide Ziele denklogisch unterscheiden. Gleichwohl dienen beide Ziele letztlich dem Schutz des Lebens.19 In diese Richtung weisen auch die vorgenannten Rechtsprechungszitate. Damit dienen beide Ziele einem verfassungsrechtlich besonders hohen Rechtsgut: 16 VG Aachen, Beschluss vom 21. März 2020, 7 L 235/20, juris, Rn. 11 (Hervorhebung durch Autor). 17 VG Köln, Beschluss vom 20. März 2020, 7 L 510/20, juris, Rn. 15 und 22 (Hervorhebung durch Autor). 18 VG Göttingen, Beschluss vom 20. März 2020, 4 B 56/20, juris, Rn. 26 (Hervorhebung durch Autor). 19 Kritisch zu der Prognosesicherheit in diesem Zusammenhang: Lepsius, Verfassungsblog vom 6. April 2020, Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie, https://verfassungsblog.de/vom-niedergang -grundrechtlicher-denkkategorien-in-der-corona-pandemie/: „Aber welchen Gesundheitsschutz versprechen wir uns, für den wir Freiheitseingriffe und Finanzrisiken in Kauf nehmen? Will der Staat jedem Patienten eine 14tägige intensivmedizinische Behandlung garantieren? Sollte er das – und damit Erwartungen wecken, die er ersichtlich nicht erfüllen kann? Was wäre bei einem verheerenden Terroranschlag: Ist dann auch jedem Opfer eine intensivmedizinische Betreuung garantiert? Es ist auch hier die Zeitdimension, die wir nicht in den Griff kriegen. Wie erstaunlich, dass der sichere Freiheitseingriff in der Gegenwart eingetauscht wird gegen einen unsicheren Gesundheitsschutz in der Zukunft. Abwägung kann man das jedenfalls nicht nennen.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 099/20 Seite 8 „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“20 3.2. Unterschiede bei der Abwägung Regelmäßig dürften immer beide Zwecke betroffen sein: Jede Neuinfektion erhöht das Risiko der Weiterverbreitung und erhöht damit zugleich das Risiko einer künftigen Überlastung des Gesundheitssystems . Wohl lediglich in Ausnahmefällen ergäbe sich ein Unterschied, z. B.: Eine oder mehrere Personen bewegen sich in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Trägers der Gesundheitsfürsorge. Insoweit die Personen jeden Kontakt mit anderen vermeiden (z. B. im Auto), erhöht die Ortsveränderung als solche nicht notwendigerweise die Ausbreitungsgefahr.21 Wohl aber könnte die Ortsveränderung für ein am Zielort bereits an der Belastungsgrenze arbeitendes Gesundheitssystem eine Risikoerhöhung darstellen, falls eine oder mehrere dieser Personen sich nach Ankunft als infiziert herausstellen und ernsthaft erkranken. Inwiefern dies tatsächlich der Fall ist oder sein kann, und was hieraus rechtlich folgt, ist Frage des Einzelfalls. Ferner kommt es bei einzelnen Rechtsgrundlagen lediglich auf die Gesundheitsgefahr des Einzelnen an, so z. B. bei der Frage, ob der Betroffene in einem Betreuungsverfahren trotz „Corona-Pandemie“ persönlich durch das Gericht anzuhören ist: „Das Absehen von der persönlichen Anhörung der Betroffenen beschneidet die Betroffene zwar massiv in dem Recht auf rechtliches Gehör, welches in Art. 103 GG mit verfassungsrechtlichem Rang versehen ist. Er schützt die Betroffenen aber zugleich, denn es ist zurzeit von einer Letalität bei der Infektion von mindestens 1 % auszugehen, wobei dies eine konservative Schätzung ist.“22 Insoweit ist Zweck der Maßnahme (Absehen von der Anhörung) nur der Ausbreitungsschutz, und zwar nur im Hinblick auf die unmittelbar aus dem Virus selbst folgende Gesundheits- bzw. Lebensgefahr . Ähnliche Erwägungen gelten bei der Gefährdung eines Angeklagten durch eine Hauptverhandlung : „Hierdurch wären die Antragsteller und auch die weiteren anwesenden Personen nach derzeitiger Erkenntnislage – trotz der baulichen und organisatorischen Gegebenheiten im Verhandlungssaal und der zur Minimierung einer Ansteckungsgefahr eingeleiteten sitzungspolizeilichen 20 BVerfGE 39, 1 (42). 21 Zur Möglichkeit solcher kontaktlosen Reisen aber kritisch: VG Oldenburg, Beschluss vom 31. März 2020, 7 B 709/20, juris, Rn. 26: „Ein solcher Ortswechsel mit einer Anreise über mehr als 300 km mit entsprechenden Begegnungskontakten bei der Anreise und der Verwendung von öffentlichen Verkehrsmitteln (Fähre) erhöht die Infektionsund Verbreitungsgefahr des Coronavirus noch weiter.“ 22 AG Brandenburg, Beschluss vom 6. April 2020, 85 XVII 69/20, juris, Rn. 8 (Hervorhebung durch Autor); ebenso schon AG Dresden, Beschluss vom 23. März 2020, 404 XVII 80/20, juris, Rn. 10 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 099/20 Seite 9 Maßnahmen – nicht ganz fernliegenden Gefahren einer körperlichen Beeinträchtigung durch das neuartige Coronavirus ausgesetzt, die ggf. irreparabel sein könnten, und damit in ihren Grundrechten auf körperliche Unversehrtheit berührt.“23 *** 23 VerfGH Sachsen, Beschluss vom 20. März 2020, Vf. 39-IV-20 (eA), juris, Rn. 15 (Hervorhebung durch Autor); Das Gericht hat aber zugleich auf die Gefahr der Ansteckung Dritter hingewiesen (Rn. 18), siehe oben Fn. 12.