© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 097/16 Möglichkeit eines „Treaty Override“ bei so genannten gemischten Verträgen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Möglichkeit eines Treaty Override bei einem alleinigen Vertrag der EU 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 097/16 Seite 4 1. Fragestellung Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 15. Dezember 20151 festgestellt, dass ein späterer Gesetzgeber gesetzliche Regelungen erlassen darf, die von den Vereinbarungen in einem (bilateralen) völkerrechtlichen Vertag, dem ein früherer Gesetzgeber nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG in einem Gesetz zugestimmt hat, abweichen (so genannter „Treaty Override“). Vor diesem Hintergrund ist die Frage gestellt worden, ob diese Rechtsprechung (dazu unten Ziff. 2.) auch auf so genannte gemischte Verträge, d.h. auf völkerrechtliche Verträge zwischen der Europäischen Union (EU) und ihren Mitgliedstaaten einerseits und einem Drittstaat andererseits, übertragen werden kann (dazu unten Ziff. 3). Als Beispiele werden in der Frage die Freihandelsabkommen TTIP2 und CETA3 genannt. Außerdem soll dargestellt werden, ob ein Treaty Override des deutschen Gesetzgebers auch möglich wäre, wenn TTIP oder CETA nicht als gemischte, sondern allein als Verträge der EU abgeschlossen werden würden (dazu unten Ziff. 4.). 2. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Treaty Override vom 15. Dezember 2015 In dieser Entscheidung ging es um eine Regelung des deutsch-türkischen Doppelbesteuerungsabkommens von 1985, d.h. um einen bilateralen völkerrechtlichen Vertrag, dem der Bundestag im Jahr 1989 zugestimmt hatte (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG). Von dieser Regelung war der Gesetzgeber im Einkommensteuergesetz in der Fassung aus dem Jahr 2003 abgewichen.4 Das Bundesverfassungsgericht hatte daher zu entscheiden, ob die jüngere gesetzliche Regelung verfassungswidrig ist, da sie mit den Vereinbarungen des älteren völkerrechtlichen Vertrages in Widerspruch stand. Nach Auffassung des Gerichts ist die jüngere Regelung des Einkommensteuergesetzes nicht verfassungswidrig. Durch das zustimmende Gesetz des Bundestages (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG) komme völkerrechtlichen Verträgen der Rang einfacher Gesetze zu.5 Würden zwischen Bundesgesetzen inhaltliche Widersprüche bestehen, so gehe das jüngere Gesetz dem älteren Gesetz vor (so genannter lex-posterior-Grundsatz). Dieser Grundsatz gelte auch im Verhältnis zwischen völkerrechtlichen Verträgen und sonstigen Bundesgesetzen. Daher könne ein späterer Gesetzgeber 1 Die Entscheidung, Az. 2 BvL 1/12, ist im Internet aufrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht .de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/12/ls20151215_2bvl000112.html. 2 Transatlantisches Partnerschafts- und Investitionsabkommen (TTIP); siehe dazu den Sachstand des Referats PE 2 „Aktueller Verhandlungsstand zu TTIP und CETA“ vom 07.04.2016, im Intranet aufrufbar unter: http://eudoxap 01.bundestag.btg:8080/eudox/dokumentInhalt?id=135255. 3 Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA); vgl. zum Stand von CETA den in Fn. 2 genannten Sachstand. Der aktuelle Text von CETA ist im Internet in englischer Sprache aufrufbar unter: http://trade.ec.europa .eu/doclib/docs/2016/february/tradoc_154329.pdf. 4 Zu den Einzelheiten des Sachverhalts siehe die Entscheidungsgründe, Fn. 1, Absatznr. 2 ff. 5 Vgl. Entscheidungsgründe, Fn. 1, Absatznr. 45 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 097/16 Seite 5 durch ein Gesetz auch die Regelungen eines völkerrechtlichen Vertrages außer Kraft setzen (Treaty Override).6 Zwar setzt sich das Gericht in seiner Entscheidung mit den Argumenten der Gegenauffassung auseinander, erteilt ihnen jedoch eine Absage.7 Aufgrund des Demokratieprinzips und des Grundsatzes der parlamentarischen Diskontinuität sei ein Treaty Override zulässig. Da Demokratie Herrschaft auf Zeit sei, müsse es einem späteren Gesetzgeber möglich bleiben, Rechtsakte früherer Gesetzgeber zu revidieren. Auch der ungeschriebene verfassungsrechtliche Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit stehe dem nicht entgegen.8 Dies sei eine Auslegungsregelung, nach der das nationale Recht möglichst völkervertragsfreundlich auszulegen sei, daraus ergebe sich jedoch nicht die Pflicht, alle völkervertraglichen Regelungen uneingeschränkt zu befolgen. Die Anwendung dieses Grundsatzes könnte nicht dazu führen, dass dem Völkervertragsrecht im Ergebnis ein höherer Rang als einfaches Bundesgesetz zukomme. Anders könne sich dieses Ergebnis nur im Bereich der so genannten Öffnungsklauseln der Art. 23 GG (Europäische Union) und Art. 24 GG (kollektive Sicherheitssysteme) sowie bei völkerrechtlichen Vereinbarungen über Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2 GG) darstellen.9 3. Möglichkeit eines Treaty Override bei gemischten Verträgen Der Unterschied zwischen „gewöhnlichen“ völkerrechtlichen Verträgen und den so genannten gemischten Verträgen liegt darin, dass in der Regel der Großteil der Kompetenzen des Vertrags bei der EU, ein Teil jedoch auch bei den Mitgliedstaaten liegt. Daher müssen bei einem solchen Vertrag sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten Vertragspartner des Drittstaates werden. Nach Auffassung der Bundesregierung sollen die Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) und den USA (TTIP) solche gemischten Verträge sein.10 Ein Treaty Override stößt bei gemischten Verträgen auf zwei Besonderheiten. Zum einen dürfte der Spielraum des deutschen Gesetzgebers, in dem er überhaupt sinnvolle Änderungen an den Vereinbarungen eines gemischten Vertrages vornehmen kann, regelmäßig sehr gering sein (dazu unten Ziff. 3.1.). Zum anderen könnten die europarechtlichen Loyalitätspflichten Deutschlands in Verbindung mit dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit dafür sprechen, dass ein Treaty Override bei gemischten Verträgen nicht oder nicht uneingeschränkt verfassungsrechtlich zulässig ist (dazu unten Ziff. 3.2.). 6 Entscheidungsgründe, Fn. 1, Absatznr. 50. 7 Entscheidungsgründe, Fn. 1, Absatznr. 51 ff. 8 Entscheidungsgründe, Fn. 1, Absatznr. 64 ff. 9 Entscheidungsgründe, Fn. 1, Absatznr. 34. 10 Vgl. den Sachstand des Referats PE 2 „Aktueller Verhandlungsstand zu TTIP und CETA“ vom 07.04.2016, Fn. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 097/16 Seite 6 3.1. Reichweite eines denkbaren Treaty Override bei gemischten Verträgen Da, wie dargestellt, nur ein Teil eines gemischten Vertrags im Kompetenzbereich Deutschlands liegt, ist ein Treaty Override in diesen Fällen (ggf. TTIP, CETA) nur in Bezug auf diese nationalen Kompetenzbereiche denkbar. Die Vertragsteile, die in der Kompetenz der EU liegen, können die Mitgliedstaaten nicht verändern.11 Eine genaue Abgrenzung zwischen den Kompetenzen der Union und den Mitgliedstaaten wird bei gemischten Abkommen jedoch regelmäßig und bewusst nicht vorgenommen.12 Wollte der Bundestag demnach einen gemischten Vertrag durch ein Treaty Override verändern, müsste zunächst haarscharf abgegrenzt werden, welche Teile des Vertrages in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen. Dies dürfte in der Regel nicht ganz einfach sein, da sich in den vertraglichen Regelungen die unterschiedlichen Kompetenzen vermischen. Daher müsste auch berücksichtigt werden, ob ein Treaty Override überhaupt durchgeführt werden kann, ohne dass die verbleibenden Vertragsregelungen aus dem Kompetenzbereich der EU für Deutschland sinnentstellt oder gar sinnlos werden. Der Teil eines gemischten Vertrages, der (sinnvoll) durch einen Treaty Override des deutschen Gesetzgebers verändert werden könnte, dürfte daher regelmäßig sehr gering sein. 3.2. Mögliche Einschränkungen eines Treaty Override bei gemischten Verträgen Aber auch wenn ein Vertragsteil definiert werden kann, der in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fällt und der sinnvoll vom deutschen Gesetzgeber geändert werden könnte, bleibt fraglich, ob die oben dargestellte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ohne weiteres auf gemischte Verträge übertragen werden kann. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass sich das Gericht zu dieser Frage nicht geäußert hat. Auch der Hinweis in der Entscheidung, dass ein Treaty Override wohl im Rahmen der Öffnungsklausel des Europaartikels (Art. 23 Abs. 1 GG) nicht möglich wäre, hilft an dieser Stelle nicht weiter. Auf Art. 23 Abs. 1 GG stützt sich das Recht der Europäischen Verträge und das daraus abgeleitete (sekundäre) Europarecht. Der Teil, für den ein Treaty Override überhaupt denkbar wäre, fällt jedoch nicht in die Kompetenzen der EU, ist damit gerade kein Europarecht und folglich auch nicht von der Öffnungsklausel des Art. 23 Abs. 1 GG umfasst. Der nationale Anteil an einem gemischten Vertrag ist unter diesem Gesichtspunkt nicht von anderen völkerrechtlichen Verträgen zu unterscheiden. Bei der Frage eines Treaty Override ist bei gemischten Verträgen zu berücksichtigen, dass das Europarecht in Art. 4 Abs. 3 EUV den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen der EU und den Mitgliedstaaten vorsieht. Der Europäische Gerichtshof hat diesen Grundsatz für den Bereich des auswärtigen Handelns der EU näher konkretisiert. Zur den gemischten Abkommen hat er festgestellt, dass „[…] eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen sowohl bei der Aushandlung und beim Abschluss als auch bei der Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen sicherzustellen [ist]. Diese Pflicht zur Zusammenarbeit ergibt 11 Entweder besteht dafür eine ausschließliche Kompetenz der EU (z.B. für die gemeinsame Handelspolitik, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 lit. e) AEUV, Art. 207 AEUV) oder es besteht geteilte Zuständigkeit, die die Union spätestens mit dem Abschluss des Vertrages ausgeübt hat und die damit für die Mitgliedstaaten gesperrt ist (Art. 2 Abs. 2; Art. 4 AEUV). 12 Rathke, Demokratie vs. Unionsrecht? Die Bedeutung der „Treaty Override“-Entscheidung des BVerfG für gemischte Abkommen der EU, JuWissBlog vom 02.03.2016: http://www.juwiss.de/23-2016/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 097/16 Seite 7 sich aus der Notwendigkeit einer einheitlichen völkerrechtlichen Vertretung der Gemeinschaft […]“.13 Zwar geht dieses Gebot wohl nicht soweit, dass die Mitgliedstaaten gar keinen Einfluss mehr auf ihre Kompetenzbereiche nehmen dürfen.14 Es dürfte sich jedoch daraus die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Zurückhaltung ergeben. Jedenfalls wird man aus dem Loyalitätsgebot bei einem gemischten Vertrag umfassende vorherige Koordinations-, Informations- und Konsultationspflichten der Mitgliedstaaten mit den Unionsorgangen ableiten können, sollten sie einen Treaty Override planen.15 Im Unterschied zu der Treaty Override-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dem bilateralen Vertrag (Doppelbesteuerungsabkommen) kommt bei gemischten Verträgen hinzu, dass sich Deutschland hier nicht allein völkervertraglich bindet, sondern gemeinsam mit der EU und den anderen Mitgliedstaaten als „eine Partei“.16 Neben die europarechtliche Loyalitätspflicht treten somit die völkervertraglichen Verpflichtungen nicht nur gegenüber dem Vertragspartner, d.h. dem Drittstaat, sondern auch gegenüber den Mitgliedern der eigenen Vertragspartei, d.h. der EU und den anderen Mitgliedstaaten. Bei der Frage, ob ein Treaty Override auch bei gemischten Verträgen möglich sein sollte, entsteht somit ein Spannungsverhältnis zwischen diesen Loyalitätspflichten und dem auf das deutsche Demokratieprinzip und den Grundsatz der parlamentarischen Diskontinuität gestützten Möglichkeit eines Treaty Override. Zum Ausgleich dieses Spannungsverhältnis könnte der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit herangezogen werden und im Ergebnis dazu führen, dass bei gemischten Verträgen – anders als bei „gewöhnlichen“ völkerrechtlichen Verträgen – ein Treaty Override als verfassungsrechtlich nicht oder nicht uneingeschränkt zulässig angesehen werden könnte. Der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit ist derzeit noch kein eindeutig definierter und abgegrenzter Begriff.17 Das Bundesverfassungsgericht leitet ihn als ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz aus dem Verfassungsauftrag zu Verwirklichung eines vereinten Europas ab (Präambel und Art. 23 Abs. 1 GG).18 Dieser Grundsatz führt insbesondere dazu, dass das Bundesverfassungsgericht 13 EuGH, Urteil vom 20.04.2010, Rs. C-246/07, Kommission/Schweden, Rn. 73. 14 Vgl. Rathke, Fn. 12. 15 Zu solchen Koordinations-, Informations- und Konsultationspflichten vgl. von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, 51. Ergänzungslieferung, Stand: September 2013, Art. 4 EUV, Rdnr. 102 f. 16 Siehe zu dieser Formulierung der EU und den Mitgliedstaaten als „eine Partei“ die entsprechende Parteienbezeichnung im aktuellen Stand von CETA (vor der Präambel): http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2016/february/tradoc _154329.pdf. Außerdem die Ausführungen zu diesem Gedanken und das Beispiel bei Mayer, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, am 13. Januar 2016, zum Thema: Die Beteiligung des Deutschen Bundestages an gemischten völkerrechtlichen Abkommen der EU, S. 5 f., im Internet aufrufbar unter: http://www.bundestag.de/blob/401472/918b0901910dd75ea5fcc9aa9d99d2e8/mayer-data.pdf. 17 Er wurde vom Bundesverfassungsgericht vor allem in seiner Lissabon-Entscheidung (BVerfGE 123, 267) und seiner Honeywell-Entscheidung (BVerfGE 126, 286) erläutert. Dazu umfassend: Kaiser/Schübel-Pfister, Der ungeschriebene Verfassungsgrundsatz der Europarechtsfreundlichkeit: Trick or Treat?, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band II, 2011, S. 545. 18 BVerfGE 126, 267, 346 f. – Honeywell. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 097/16 Seite 8 eine Kompetenzüberschreitung der EU nur dann feststellt (ultra-vires-Akt), wenn ein hinreichend qualifizierter Kompetenzverstoß vorliegt, der offensichtlich ist und zwischen den Mitgliedstaaten ins Gewicht fällt.19 Dieser Gedanke könnte auch für die vorliegende Frage fruchtbar gemacht werden. Dies würde bedeuten, dass ein Treaty Override dem deutschen Gesetzgeber bei einem gemischten Vertrag nur gestattet ist, wenn schwerwiegende politische Interessen damit verbunden sind und eine entsprechende Vertragsänderungen unter Einhaltung der erwähnten Koordinations-, Informations- und Konsultationspflichten gegenüber den Unionsorgangen nicht erreicht werden konnte. Wenn also der Treaty Override als das „letzte Mittel“ verbleibt, um die schwerwiegenden politischen Interessen Deutschlands verwirklichen zu können. Dem könnte entgegen gehalten werden, dass nach der Entscheidung des Bundeverfassungsgerichts der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit dem Treaty Override bei „gewöhnlichen“ völkerrechtlichen Verträgen gerade nicht entgegensteht. Die Grundsätze der Europa- und der Völkerrechtsfreundlichkeit weisen jedoch entscheidende Unterschiede auf,20 so dass die Aussagen des Gerichts zur Völkerrechtsfreundlichkeit hier nicht auch für die Europarechtsfreundlichkeit gelten müssen. Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit ist vordringlich eine Auslegungsregel, die dazu verpflichtet , dass bei Widersprüchen zwischen dem Bundesrecht und dem gleichrangigen Völkervertragsrecht das Bundesrecht völkerrechtsfreundlich auszulegen ist.21 Im Bereich des Europarechts ist der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit wegen des geltenden Anwendungsvorrangs des Europarechts22 vor dem nationalen Recht in erster Linie keine Auslegungsregel. Wie im Zusammenhang mit der ultra-vires-Kontrolle beschrieben, kommt der Grundsatz zum Tragen, wenn verfassungs- und europarechtliche Bindungen auseinander zu fallen drohen,23 und fordert einen schonenden Ausgleich dieses Spannungsverhältnisses. Zudem steht der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit in engem Zusammenhang mit der Verfassungspflicht Deutschlands, sich in das europäische System einzuordnen (Präambel, Art. 23 Abs. 1 GG). Der schonende Umgang mit dem Europarecht ist Teil dieser Verfassungspflicht. Im Gegensatz dazu existiert – jedenfalls außerhalb kollektiver Sicherheitssysteme nach Art. 24 GG im Völkerrecht keine vergleichbare verfassungsrechtliche Einordnungspflicht. Nach allem ist es also möglich, dass ein Treaty Override bei einem gemischten Vertrag anders zu beurteilen ist als bei einem „gewöhnlichen“ völkerrechtlichen Vertrag. Es ist aber noch einmal darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht den Fall eines Treaty Overrides bei einem gemischten Vertrag weder entschieden noch dazu Stellung genommen hat. Daher kann letztlich nicht vorausgesagt werden, ob sich das Bundesverfassungsgericht der vorstehenden Argumentation anschließen oder zu einem gänzlich anderen Ergebnis kommen würde. 19 BVerfGE 126, 286, 303 ff. – Honeywell. 20 Ausführlich dazu Kaiser/Schübel-Pfister, Fn. 17, S. 552 ff. 21 Kaiser/Schübel-Pfister, Fn. 17, S. 553. 22 Zum Anwendungsvorrang des Europarechts vgl. BVerfGE 123, 267, 398 – Lissabon. 23 Kaiser/Schübel-Pfister, Fn. 17, S. 555. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 097/16 Seite 9 4. Möglichkeit eines Treaty Override bei einem alleinigen Vertrag der EU Liegen bei einem völkerrechtlichen Vertrag alle Vertragsteile im Kompetenzbereich der EU, so kann sie diesen Vertrag auch ohne die Mitgliedstaaten mit dem Drittstaat abschließen. Da die Mitgliedstaaten somit nicht Vertragspartner werden, muss der Vertrag auch von ihnen nicht ratifiziert werden. Der Deutsche Bundestag müsste daher dazu auch kein zustimmendes Gesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erlassen. Würde der Bundestag später ein Gesetz erlassen, dessen Inhalt mit diesem völkerrechtlichen Vertrag, den nur die EU mit dem Drittstaat abgeschlossen hat, in Widerspruch steht, so würden wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts24 die Vertragsregelungen als abgeleitetes Europarecht die Anwendung des widersprechenden Bundesrechts überlagern. Das Bundesrecht wäre nicht anwendbar, solange die widersprechenden völkerrechtlichen Regelungen gelten. Ende der Bearbeitung 24 Für den Fall der völkerrechtlichen Verträge der EU vgl. Art. 216 Abs. 2 AEUV.