© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 096/20 Einschätzungsspielraum, Begründungspflicht und Beobachtungspflicht bei grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 096/20 Seite 2 Einschätzungsspielraum, Begründungspflicht und Beobachtungspflicht bei grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 096/20 Abschluss der Arbeit: 20. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 096/20 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand befasst sich mit den rechtlichen Maßstäben für grundrechtsbeschränkende Gesetze und Verordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. 2. Einschätzungsspielraum des Staates Staatliche Eingriffe in Grundrechte müssen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Sie unterliegen dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Dies bedeutet, dass die Maßnahmen einen legitimen Zweck verfolgen und zum Erreichen dieses Zwecks geeignet und erforderlich sowie angemessen sein müssen.1 Geeignet ist eine Maßnahme, wenn sie den legitimen Zweck zumindest fördert.2 Erforderlich ist eine Maßnahme, wenn kein milderes Mittel ersichtlich ist, das in gleicher Weise geeignet ist, den Zweck zu erreichen.3 Bei der Frage, ob eine Maßnahme zum Erreichen des legitimen Zwecks geeignet und erforderlich ist, hat der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber einen Einschätzungsspielraum .4 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hängt der Umfang des Einschätzungsspielraums unter anderem davon ab, inwieweit für den Staat die Möglichkeit besteht bzw. bestand, sich ein hinreichend sicheres Urteil über die Sachlage zu bilden.5 Zum Umfang der verfassungsrechtlichen Prüfung im Falle eines Einschätzungsspielraums hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: „Je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter und den Möglichkeiten des Gesetzgebers, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, kann die verfassungsgerichtliche Kontrolle dabei von einer bloßen Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen.“6 Im Hinblick auf die ungesicherte Faktenlage und teils widerstreitende Meinungen in der Wissenschaft dürfte dem Staat in Bezug auf Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ein weiter Prognosespielraum zukommen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof äußerte sich dazu wie folgt: „In einer durch zahlreiche Unsicherheiten und sich ständig weiterentwickelnde fachliche Erkenntnisse geprägten epidemischen Lage wie der vorliegenden ist dem Verordnungsgeber jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt der Entwicklung eine Einschätzungsprärogative im 1 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 20 VII Rn. 110. 2 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 20 VII Rn. 112. 3 Vgl. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 20 VII Rn. 113. 4 Siehe in Bezug auf die Corona-Maßnahmen etwa OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. März 2020, 11 S 12/20, BeckRS 2020, 4408 Rn. 8. 5 Siehe etwa BVerfGE 50, 290 (332 f.); BVerfGE 88, 87 (97). 6 BVerfG, Urteil vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 u.a. – NJW 2020, 905 (910). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 096/20 Seite 4 Hinblick auf das gewählte Mittel einzuräumen, soweit und solange sich nicht andere Maßnahmen eindeutig als gleich geeignet und weniger belastend darstellen. Eine solche eindeutige Feststellung ist hier nicht möglich. Allein der Umstand, dass andere Verordnungsgeber bei vergleichbaren äußeren Umständen und Regelungszielen ein abweichendes Regelungsmodell gewählt haben, führt jedenfalls nicht dazu, dass die hier streitgegenständlichen Regelungen als unverhältnismäßig anzusehen wären.“7 3. Begründungspflicht? Umstritten ist die Frage, ob der Normgeber verpflichtet ist, Gesetze und Rechtsverordnungen förmlich zu begründen. Das Grundgesetz enthält eine Begründungspflicht nicht ausdrücklich. Dennoch wird sie teilweise in der juristischen Literatur sowohl für den Gesetzgeber8 als auch für den Verordnungsgeber 9 angenommen. Das Bundesverfassungsgericht geht zumindest von einer „Obliegenheit“ des Normgebers aus, seine Wertungen und Entscheidungen „nachvollziehbar zu begründen“.10 In Bezug auf Prognoseentscheidungen führt es aus: „Der Prognose müssen Sachverhaltsannahmen zu Grunde liegen, die sorgfältig ermittelt sind oder sich jedenfalls im Rahmen der gerichtlichen Prüfung bestätigen lassen. Die Prognose muss sich methodisch auf ein angemessenes Prognoseverfahren stützen lassen, und dieses muss konsequent im Sinn der ‚Verlässlichkeit‘ der Prognosen verfolgt worden sein. Das Prognoseergebnis ist daraufhin zu kontrollieren, ob die die prognostische Einschätzung tragenden Gesichtspunkte mit hinreichender Deutlichkeit offen gelegt worden sind oder ihre Offenlegung jedenfalls im Normenkontrollverfahren möglich ist und ob in die Prognose keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind.“11 7 Bayerischer VGH, Beschluss vom 30. März 2020, 20 NE 20.632, juris Rn. 60; wortgleich auch Hessischer VGH, Beschluss vom 7. April 2020, 8 B 892/20.N, BeckRS 2020, 5242 Rn. 40. 8 So etwa Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 14. Aufl. 2018, Art. 76 Rn. 22; dagegen Schwarz/ Bravidor, Kunst der Gesetzgebung und Begründungspflichten, in: JZ 2011, 353 (359); Hebeler, Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, Gesetze zu begründen?, in: DÖV 2010, 754 (762). Menges/Preisner weisen darauf hin, dass die Begründung genaugenommen nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch den Verfasser des Gesetzentwurfs erfolge, also in den meisten Fällen durch die Regierung. Auf welche Weise sich der Gesetzgeber diese Begründung überhaupt aneigne, sei ungeklärt, siehe Menges/Preisner, Der Erlass von Rechtsverordnungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 2, 2011, 519 (536). 9 So etwa Mann, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 80 Rn. 31; dagegen Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 80 Rn. 131. 10 BVerfGE 125, 175 (238). 11 BVerfGE 111, 226 (255). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 096/20 Seite 5 Den Normgeber trifft somit zumindest eine Darlegungslast im verfassungsrechtlichen Verfahren. Zu beachten ist allerdings, dass einer Gesetzes- oder Verordnungsbegründung keine Bindungswirkung zukommt. Begründungen werden zwar für die Auslegung der Normtexte herangezogen, sind dafür aber nicht allein maßgeblich oder verbindlich.12 4. Pflicht zur Beobachtung und Anpassung Eine Änderung der Sachlage, die zum Erlass eines Gesetzes oder einer Verordnung geführt hat, kann dazu führen, dass die staatliche Maßnahme nicht länger geeignet oder erforderlich ist, oder dass die Interessenabwägung zugunsten von eingeschränkten Grundrechten ausfällt. Dies betrifft insbesondere Prognoseentscheidungen: „Stellt sich eine gesetzgeberische Prognose, die in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise getroffen worden ist, im Nachhinein als falsch heraus, kann der Gesetzgeber zur Nachbesserung verpflichtet sein. Unterläßt er die erforderliche Nachbesserung über längere Zeit hinweg, wird die zunächst verfassungsgemäße Norm dadurch verfassungswidrig.“13 Ein Einschätzungsspielraum des Staates geht daher einher mit der Pflicht, die weitere Entwicklung zu beobachten.14 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 10. April 2020 zum Verbot von Gottesdiensten durch die Hessische Corona-Verordnung ausgeführt: „Der überaus schwerwiegende Eingriff in die Glaubensfreiheit zum Schutz von Gesundheit und Leben ist auch deshalb derzeit vertretbar, weil die Verordnung vom 17. März 2020 und damit auch das hier in Rede stehende Verbot von Zusammenkünften in Kirchen bis zum 19. April 2020 befristet ist. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei ist – wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung – hinsichtlich des im vorliegenden Verfahren relevanten Verbots von Zusammenkünften in Kirchen eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen und zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, das Verbot von Gottesdiensten unter – gegebenenfalls strengen – Auflagen und möglicherweise auch regional begrenzt zu lockern.“15 Diese Ausführungen dürften für sämtliche grundrechtseinschränkenden Maßnahmen zur Abwehr des Coronavirus gelten. 12 Vgl. Adam: Der Umgang mit unbekannten Normen, in: JuS 2018, 1188 (1189 ff.). 13 Wieland, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 12 Rn. 119. 14 Siehe in Bezug auf Art. 3 GG BVerfGE 110, 141 (169). 15 Beschluss vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20, Rn. 14, abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht .de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/04/qk20200410_1bvq002820.html (Stand: 20. April 2020). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 096/20 Seite 6 Dementsprechend äußerte sich auch der ehemalige Verfassungsrichter Papier: „Es muss alles getan werden, um Art und Ausmaß der Gefahren genauer einzugrenzen. Politik und Verwaltung müssen immer wieder prüfen, ob es weniger einschneidende Maßnahmen gibt.“16 Aus der Beobachtungspflicht lässt sich allerdings keine Pflicht des Staates ableiten lassen, zur Gewinnung seiner Erkenntnisse selbst Studien in Auftrag zu geben, sofern allgemeine wissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Verfügung stehen, auf die zurückgegriffen werden kann. *** 16 Süddeutsche Zeitung vom 1. April 2020, „Selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet“.