© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 095/20 Zwangsweise Einsetzung von medizinisch ausgebildeten Personen Vereinbarkeit mit Grundrechten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 2 Zwangsweise Einsetzung von medizinisch ausgebildeten Personen Vereinbarkeit mit Grundrechten Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 095/20 Abschluss der Arbeit: 20. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Regelungen der Länder 4 3. Betroffene Grundrechte 6 3.1. Zwangsarbeit, Art. 12 Abs. 3 GG 6 3.2. Arbeitszwang, Art. 12 Abs. 2 GG 6 3.2.1. Tatbestand Arbeitszwang 6 3.2.2. Tatbestandsmerkmale der zulässigen Ausnahme nach Art. 12 Abs. 2 2. HS GG 7 3.2.2.1. „Dienstleistungspflicht“ 7 3.2.2.2. „Herkömmlich“ 8 3.2.2.3. „Allgemein“ 9 3.2.2.4. „Gleich“ 9 3.2.2.5. „Öffentlich“ 10 3.2.2.6. Verpflichtung bestimmter Berufsgruppen nicht zulässig nach Art. 12 Abs. 2 2. HS GG 10 3.3. Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG 10 3.4. Weitere Grundrechte 11 4. Zitiergebot, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 4 1. Fragestellung Gefragt wird, inwieweit die Zwangsverpflichtung von medizinischem Personal, also von Personen mit abgeschlossener ärztlicher oder pflegerischer Ausbildung, mit den Grundrechten vereinbar ist. 2. Regelungen der Länder Auf den wegen der Corona-Pandemie vermuteten Mangel an medizinischem Personal in Krankenhäusern etc. reagieren die Länder teilweise, indem sie Bestimmungen erlassen, die Personen mit abgeschlossener ärztlicher oder pflegerischer Ausbildung zur Erbringung von Dienstleistungen verpflichten. So bestimmen Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 Bayerisches Infektionsschutzgesetz (BayIfSG) seit dem 25. März 20201: Art. 5 – Inanspruchnahme von Organisationen (2) Die zuständige Behörde kann die Bayerische Landesärztekammer und die Bayerische Landeszahnärztekammer verpflichten, ihr kostenfrei Namen, Alter, ärztliche Fachrichtung und Kontaktdaten ihrer aktiven oder bereits im Ruhestand befindlichen Mitglieder zu übermitteln, die nach Maßgabe der zuständigen Behörde geeignet sind, einen für die Bewältigung des Gesundheitsnotstands zusätzlich erforderlichen ärztlichen Personalbedarf zu decken. Art. 6 – Inanspruchnahme Dritter (1) Soweit dies zur Bewältigung des Gesundheitsnotstands erforderlich ist, gilt Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayKSG[2] mit der Maßgabe, dass die zuständige Behörde auch eine Zuweisung an Einrichtungen der medizinischen oder pflegerischen Versorgung zur Erbringung von ausbildungstypischen Dienst-, Sach- und Werkleistungen anordnen kann. Eine Inanspruchnahme ist unzulässig, soweit die betroffene Person hierdurch in ihrer Gesundheit oder körperlichen Unversehrtheit unverhältnismäßig gefährdet wird. Die zuständige Behörde tritt an die Stelle der Katastrophenschutzbehörde.3 Auch im Land Nordrhein-Westfalen war eine Regelung bezogen auf die COVID-19-Pandemie geplant, die eine Verpflichtung von medizinischem Personal ermöglichen sollte. Der ursprüngliche 1 Bayerisches Infektionsschutzgesetz vom 25. März 2020, abrufbar unter: https://www.gesetze-bayern.de/Content /Document/BayIfSG-5 (zuletzt aufgerufen am 16. April 2020). 2 Art. 9 Bayerisches Katastrophenschutzgesetz (BayKSG): „(1) Die Katastrophenschutzbehörde kann zur Katastrophenabwehr von jeder Person die Erbringung von Dienst-, Sach- und Werkleistungen verlangen sowie die Inanspruchnahme von Sachen anordnen (…)“. 3 Hervorhebungen nur hier. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 5 § 15 Abs. 1 des Gesetzentwurfs der Landesregierung Nordrhein-Westfalen vom 28. März 20204 lautete: „Die zuständigen Behörden nach § 3 können von Personen, die zur Ausübung der Heilkunde befugt sind oder über eine abgeschlossene Ausbildung in der Pflege, im Rettungsdienst oder in einem anderen Gesundheitsberuf verfügen, die Erbringung von Dienst-, Sach- und Werkleistungen verlangen, soweit das zur Bewältigung der epidemischen Lage nach § 11 dringend erforderlich und angemessen ist. Die Behörden können jede Person nach Satz 1 unter gleichen Voraussetzungen auch zur Erbringung von Dienst-, Sach- und Werkleistungen an Einrichtungen der medizinischen oder pflegerischen Versorgung zuweisen und verpflichten.“5 In der nach dritter Lesung am 14. April 2020 verabschiedeten und am 15. April 2020 in Kraft getretenen Fassung des § 15 Abs. 1 des sog. Epidemie-Gesetzes NRW ist die Regelung des Entwurfs nicht mehr enthalten. Der Paragraph sieht nun die Erstellung eines „Freiwilligenregisters“ vor, in das jeder, der helfen will, aufgenommen werden kann: „Die für Gesundheit zuständige oberste Landesbehörde oder das Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen erstellt ein Register aller Personen, die zur Ausübung der Heilkunde befugt sind oder über eine abgeschlossene Ausbildung in der Pflege, im Rettungsdienst, in einem anderen Gesundheitsberuf oder in einem Verwaltungsberuf des Gesundheitswesens verfügen und die freiwillig zur Erbringung von Dienst-, Sach- und Werkleistungen zur Bewältigung einer epidemischen Lage nach § 11 Absatz 1 bereit sind (Freiwilligenregister). Die Aufnahme in das Register erfolgt auf freiwilliger Basis mit Einwilligung der betroffenen Personen.“6 Ob die Länder überhaupt die erforderliche Gesetzgebungskompetenz für eigene Infektionsschutzgesetze und im Besonderen zur Verpflichtung medizinischen Personals haben, kann bezweifelt werden.7 4 Gesetz zur konsequenten und solidarischen Bewältigung der COVID-19-Pandemie in Nordrhein-Westfalen und zur Anpassung des Landesrechts im Hinblick auf die Auswirkungen einer Pandemie, https://www.landtag.nrw.de/files /live/sites/landtag/files/WWW/I.A.4/Gesetzgebung/Aktuell/gesetzentwurf-epidemiegesetz.pdf (zuletzt aufgerufen am 16. April 2020). 5 Hervorhebung nur hier. 6 Gesetz zur konsequenten und solidarischen Bewältigung der COVID-19-Pandemie in Nordrhein-Westfalen und zur Anpassung des Landesrechts im Hinblick auf die Auswirkungen einer Pandemie vom 14. April 2020, abrufbar unter: https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_detail_text?anw_nr=6&vd_id=18406&menu=1&sg=0&keyword=Gesetz %20zur%20konsequenten%20und%20solidarischen%20Bew%E4ltigung%20der%20COVID-19-Pandemie %20in%20Nordrhein-Westfalen%20und%20zur%20Anpassung%20des%20Landesrechts%20im%20Hinblick %20auf%20die%20Auswirkungen%20einer%20Pandemie (zuletzt aufgerufen am 17. April 2020). 7 Vgl. dazu ausführlich: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Gesetzgebungskompetenz für den Infektionsschutz, WD 3 - 3000 - 081/20 vom 9. April 2020. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 6 3. Betroffene Grundrechte Zu prüfen ist zunächst, welcher Schutzbereich durch die Maßnahmen nach Art. 6 Abs. 1 BayIfSG berührt wird. In Betracht kommen insbesondere die Rechte aus Art. 12 Grundgesetz (GG). 3.1. Zwangsarbeit, Art. 12 Abs. 3 GG Zwangsarbeit, die gemäß Art. 12 Abs. 3 GG „nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig“ ist, erfasst „die unfreiwillige Zurverfügungstellung der gesamten Arbeitskraft des Betroffenen“.8 Dies ist z. B. bei der Einweisung in ein Arbeitslager oder in geschlossene Arbeitseinheiten der Fall.9 Vorliegend geht es nicht um eine derartige Zurverfügungstellung der gesamten Arbeitskraft bei gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehung, sodass die Zwangsarbeit nach Art. 12 Abs. 3 GG nicht vorliegt. 3.2. Arbeitszwang, Art. 12 Abs. 2 GG Art. 12 Abs. 2 Grundgesetz (GG) schützt vor Arbeitszwang: „Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.“10 3.2.1. Tatbestand Arbeitszwang Der Begriff der Arbeit umfasst „jede Tätigkeit gleich welcher Art, die einen nicht unbedeutenden Aufwand erfordert“.11 Zwang zur Arbeit meint die „Beugung des individuellen Willens durch hoheitliche Maßnahmen“.12 Freiwilligkeit schließt Arbeitszwang aus.13 Arbeitszwang ist gegenständlich und zeitlich begrenzt.14 Betroffen ist nur eine bestimmte Arbeit,15 die „nach Inhalt, 8 Ruffert, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber (Hrsg.), 42. Edition, Stand: 01.12.2019, Art. 12 Rn. 146. 9 Ruffert, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber (Hrsg.), 42. Edition, Stand: 01.12.2019, Art. 12 Rn. 146. 10 Hervorhebung nur hier. 11 Ruffert, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber (Hrsg.), 42. Edition, Stand: 01.12.2019, Art. 12 Rn. 141, m.w.N. 12 Ruffert, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber (Hrsg.), 42. Edition, Stand: 01.12.2019, Art. 12 Rn. 146, m.w.N. 13 Ruffert, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber (Hrsg.), 42. Edition, Stand: 01.12.2019, Art. 12 Rn. 143. 14 Ruffert, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber (Hrsg.), 42. Edition, Stand: 01.12.2019, Art. 12 Rn. 142. 15 Ruffert, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber (Hrsg.), 42. Edition, Stand: 01.12.2019, Art. 12 Rn. 141. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 7 Zweck und Ausmaß bestimmt ist“.16 Erfasst wird die hoheitliche Heranziehung, zu einer selbständigen Arbeit, welche der Erfüllung rechtlicher Pflichten des Staats zu dienen bestimmt ist.17 Eine Herabwürdigung ist dabei nicht erforderlich.18 Erforderlich ist jedoch die Androhung persönlicher Nachteile19 im Sinne von Zwang bzw. Sanktionen .20 Nach Art. 9 BayIfSG wird ein Verstoß gegen die Verpflichtung aus Art. 6 Abs. 1 BayIfSG nicht als Ordnungswidrigkeit geahndet. Jedoch besteht für die in Bezug genommene Regelung des Art. 9 Abs. 1 S. 1 Bayerisches Katastrophenschutzgesetz (BayKSG) nach Art. 18 Nr. 1 BayKSG die Möglichkeit einer Geldbuße bis 5000 Euro für Personen die vorsätzlich oder fahrlässig einer vollziehbaren Anordnung nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig nachkommen oder deren Durchführung stören. Zudem könnten die in Art. 6 Abs. 1 BayIfSG geregelte Zuweisung von Personen als Verwaltungsakt auch vollstreckt werden. Dazu stünden nach den jeweiligen Voraussetzung die Zwangsmittel des Zwangsgeldes (Art. 31 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (BayVwZVG)), der Ersatzvornahme (Art. 32 BayVwZVG), der Ersatzzwangshaft (Art. 33 BayVwZVG) und des unmittelbaren Zwangs (Art. 34 BayVwZVG) zur Verfügung. Mithin liegt in der Anordnung der Zuweisung einer Person zu einer Einrichtung der medizinischen oder pflegerischen Versorgung zur Erbringung von ausbildungstypischen Dienst-, Sach- und Werkleistungen ein Arbeitszwang im Sinne des Art. 12 Abs. 2 GG. 3.2.2. Tatbestandsmerkmale der zulässigen Ausnahme nach Art. 12 Abs. 2 2. HS GG Nach Art. 12 Abs. 2 GG sind bestimmte öffentliche Dienstleistungspflichten von dem Verbot des Arbeitszwangs ausgenommen, die die Kriterien der Herkömmlichkeit, Allgemeinheit und Gleichheit erfüllen.21 3.2.2.1. „Dienstleistungspflicht“ Unter der Dienstleistung im Sinne des Art. 12 Abs. 2 2. HS GG wird eine Tätigkeit verstanden, die dem Gemeinwesen nutzen soll und nicht in einer reinen Geld- oder Sachleistungspflicht besteht.22 Mitunter wird ergänzt, dass es sich um eine eng umgrenzte Dienstpflicht von nur geringer Intensität handele.23 Es muss sich auch um eine bestimmte Tätigkeit handeln und nicht eine allgemeine 16 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 302 (Fußnote des Originals ausgelassen). 17 Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 12 Rn. 54. 18 Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 12 Rn. 54. 19 Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 12 Rn. 54. 20 Kämmerer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 89 (Fußnoten des Originals ausgelassen). 21 Mann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 185. 22 Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 47. EGL, Juni 2006, Art. 12 Rn. 496. 23 Wolff, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG-Handkommentar, 12. Aufl., 2018, Art. 12 Rn. 23. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 8 Pflicht zur Arbeit betreffen.24 Nicht unter den Begriff der Dienstpflicht können ehrenamtliche Tätigkeiten subsumiert werden.25 Sie dienen nicht der „Ausführung von Arbeiten zur Erfüllung einer der öffentlichen Hand obliegenden besonderen Aufgabe, sondern (…) der Teilnahme an der Verwaltung des Gemeinwesens.“26 Ehrenamtliche Tätigkeit in diesem Sinne meint unter anderem die Pflicht als Schöffe oder Wahlhelfer tätig zu werden.27 Auch die Schulpflicht ist keine Dienstpflicht im Sinne des Art. 12 Abs. 2 2. HS GG.28 3.2.2.2. „Herkömmlich“ Herkömmlich ist eine Pflicht, wenn diese Art der Dienstleistungspflicht seit geraumer Zeit, insbesondere vor der Zeit des Nationalsozialismus,29 tradiert ist.30 Es muss sich insofern mit dieser Pflicht das Rechtsbewusstsein verknüpft haben, dass diese traditioneller Bestandteil der Pflichtenordnung ist.31 Hierzu gezählt werden die in einigen Gemeinden bestehenden Hand- und Spanndienste sowie die Feuerwehr- und die Deichschutzpflicht.32 Die genannten Pflichten dürfen der technischen Entwicklung angepasst werden (z. B. Erfüllung des Spanndienstes nicht mehr durch Zugtiere, sondern durch Kraftfahrzeuge).33 Zudem geht die Rechtsprechung auch davon aus, dass 24 Eine solche allgemeine Pflicht zur Arbeit war früher in Art. 163 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung normiert. Vgl. dazu: Nolte, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl., 2019, Art. 12 Rn. 50. 25 BayVerfGH, Beschluss vom 4. Juni 1954 – 99 IV 53, BayVGHE 7, 77, 80; Wolff, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG- Handkommentar, 12. Aufl., 2018, Art. 12 Rn. 22. 26 BayVerfGH, Beschluss vom 4. Juni 1954 – 99 IV 53, BayVGHE 7, 77, 80. 27 Kämmerer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 89; Nolte, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl., 2019, Art. 12 Rn. 49. 28 So bereits Mertens, Die Zulässigkeit von Arbeitszwang und Zwangsarbeit nach dem Grundgesetz und der Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1964, S. 117 ff. 29 Dazu BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 1995 – 1 BvL 18/93 und 5, 6, 7/94, 1 BvR 403, 569/94, BVerfGE 92, 91, 111; Burgi/Wolff, in: Bonner Kommentar, Grundgesetz, 196. EGL, Februar 2019, Art. 12 Abs. 2 und 3 Rn. 66. 30 Wolff, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG-Handkommentar, 12. Aufl., 2018, Art. 12 Rn. 23; Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG Kommentar, 8. Aufl., 2018, Art. 12 Rn. 186; Burgi/Wolff, in: Bonner Kommentar, Grundgesetz, 196. EGL, Februar 2019, Art. 12 Abs. 2 und 3 Rn. 65; im Ergebnis wohl ebenso Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar , 47. EGL, Juni 2006, Art. 12 Rn. 497. 31 Burgi/Wolff, in: Bonner Kommentar, Grundgesetz, 196. EGL, Februar 2019, Art. 12 Abs. 2 und 3 Rn. 65; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG Kommentar, 87. EL, März 2019, Art. 12 Rn. 497; Ruffert, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Kommentar, 2. Aufl., 2013, Art. 12 Rn. 150; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar , 47. EGL, Juni 2006, Art. 12 Rn. 497; Wiemers/Petri, RuP 4/2011, 221, 222. 32 BayVerfGH, Beschluss vom 4. Juni 1954 – 99 IV 53, BayVGHE 7, 77, 81; Burgi/Wolff, in: Bonner Kommentar, Grundgesetz, 196. EGL, Februar 2019, Art. 12 Abs. 2 und 3 Rn. 66; ebenso Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz -Kommentar, 47. EGL, Juni 2006, Art. 12 Rn. 500 m.w.N.; Kämmerer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz -Kommentar, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 89. 33 Burgi/Wolff, in: Bonner Kommentar, Grundgesetz, 196. EGL, Februar 2019, Art. 12 Abs. 2 und 3 Rn. 67; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 47. EGL, Juni 2006, Art. 12 Rn. 500. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 9 Dienstpflichten dann nicht üblich im Sinne von herkömmlich sein können, wenn sie in der Vergangenheit durch Personen gegen Entgelt erledigt wurden.34 3.2.2.3. „Allgemein“ Eine Dienstleistungspflicht ist allgemein, wenn sie sich an jedermann richtet oder nach wohl überwiegender Ansicht an einen Personenkreis, der nach abstrakt-generellen Kriterien bestimmt werden kann.35 Der Kreis der Pflichtigen könnte danach durch die Normierung spezifischer Voraussetzungen bestimmt werden.36 Ausgenommen wären Personen, die geistig oder psychisch nicht zur Dienstleistungserbringung in der Lage sind, also zum Beispiel Kinder oder körperlich bzw. geistig eingeschränkte Personen. Nach anderer Ansicht genügt es nicht, dass der Personenkreis nach abstrakt-generellen Methoden bestimmbar ist, sondern die Verpflichtung müsse alle Menschen treffen, die zur Erbringung der Dienstleistung in der Lage sind.37 Wenn der Bedarf an Arbeitsleistung nicht so hoch sei, dass er durch alle dazu fähigen Menschen erfüllt werden müsse, dann verlange das Kriterium der Allgemeinheit trotzdem, keine Differenzierung seitens des Gesetzgebers vorzunehmen. Vielmehr müssten dann – ähnlich wie bei bekannten Feuerwehrpflichten – die Pflichtigen die Wahl haben, ob sie die Pflicht in Natura oder durch ein Surrogat in Form einer Abgabe erfüllen wollten.38 Ebenfalls unter die Voraussetzung der Allgemeinheit fällt die Anforderung, dass die Pflicht von allen Pflichtigen ohne weiteres erbracht werden können muss.39 Insofern können keine Dienstleistungen einbezogen werden, die eine Vor- oder Ausbildung verlangen, oder besondere Fähigkeiten voraussetzen.40 3.2.2.4. „Gleich“ Das in Art. 12 Abs. 2 2. HS GG benannte Merkmal der Gleichheit bedeutet, dass eine Dienstpflicht nach ihrem Inhalt und Umfang für alle Betroffenen eine identische Belastung darstellen muss.41 Als Alternative zur persönlichen Diensterbringung wurden Ersatzabgaben jedoch als zulässig 34 BayVerfGH, Beschluss vom 4. Juni 1954 – 99 IV 53, BayVGHE 7, 77, 83. 35 Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG Kommentar, 8. Aufl., 2018, Art. 12, Rn. 186; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG Kommentar, 15. Aufl., 2018, Art. 12 Rn. 119; Nolte, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl., 2019, Art. 12 Rn. 96. 36 BayVerfGH, Beschluss vom 4. Juni 1954 – 99 IV 53, BayVGHE 7, 77, 78. 37 Kämmerer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 93; Burgi/Wolff, in: Bonner Kommentar, Grundgesetz, 196. EGL, Februar 2019, Art. 12 Abs. 2 und 3 Rn. 74. 38 Kämmerer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 1, 6. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 93 m.w.N. 39 BayVerfGH, Beschluss vom 4. Juni 1954 – 99 IV 53, BayVGHE 7, 77, 83; Wolff, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG- Handkommentar, 12. Aufl., 2018, Art. 12 Rn. 23. 40 BayVerfGH, Beschluss vom 4. Juni 1954 – 99 IV 53, BayVGHE 7, 77, 83. 41 BayVerfGH, Beschluss vom 4. Juni 1954 – 99 IV 53, BayVGHE 7, 77, 84; Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG Kommentar, 8. Aufl., 2018, Art. 12 Rn. 188; Ruffert, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Kommentar, 2. Aufl., 2013, Art. 12 Rn. 152; Wolff, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG-Handkommentar, 12. Aufl., 2018, Art. 12 Rn. 23. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 10 angesehen.42 Eine Differenzierung der Gesamtheit der Bevölkerung ist nach überwiegender Auffassung durchaus zulässig, solange alle, die nach abstrakten Kriterien als vergleichbare Gruppe identifiziert werden, gleich behandelt werden.43 3.2.2.5. „Öffentlich“ Öffentlich ist eine Dienstpflicht, wenn sie zum Nutzen des Gemeinwesens44 ist bzw. im öffentlichen Interesse erbracht wird.45 Ob die Leistung entgeltlich erbracht wird, ist insoweit unerheblich.46 3.2.2.6. Verpflichtung bestimmter Berufsgruppen nicht zulässig nach Art. 12 Abs. 2 2. HS GG Bei der Arbeit in den von Art. 6 Abs. 1 S. 1 BayIfSG genannten medizinischen und pflegerischen Einrichtungen handelt es sich um eine bestimmte Tätigkeit im Sinne einer Dienstpflicht, die auch dem Gemeinwesen nutzen soll, also öffentlich ist. Sie ist jedoch nicht herkömmlich, da sie kein Bestandteil tradierter Pflichten ist, zumal die Tätigkeiten normalerweise durch angestelltes Personal gegen Entgelt erbracht werden. Zudem sind die Pflichten nicht allgemein, da nur speziell ausgebildete Personen adressiert sind und die Dienstleistungen gerade nicht von jedermann erbracht werden können. Insofern unterscheidet sich die Norm auch entscheidend – entgegen der Behauptung der Gesetzesbegründung47 – von der in Bezug genommenen Verpflichtungsmöglichkeit von jedermann im Katastrophenfall nach Art. 9 Abs. 1 BayKSG. Mithin handelt es sich nicht um eine zulässige Ausnahme für eine Dienstleistungsverpflichtung. 3.3. Berufsfreiheit, Art. 12 Abs. 1 GG An der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG wäre zum einen eine allgemeine Arbeitspflicht zu messen, wie sie in Art. 163 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung48 normiert war.49 Eine solche wird 42 BVerfG, Beschluss vom 20. Mai 1959 – 1 BvL 1, 7/58, BVerfGE 9, 291, 299; BVerfG, Beschluss vom 17. Oktober 1961 – 1 BvL 5/61, BVerfGE 13, 167, 173. 43 BayVerfGH, Beschluss vom 4. Juni 1954 – 99 IV 53, BayVGHE 7, 77, 84. 44 Ruffert, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Kommentar, 2. Aufl., 2013, Art. 12 Rn. 148; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, 1. Band, 3. Aufl., 2013, Art. 12 Rn. 89. 45 Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 47. EGL, Juni 2006, Art. 12 Rn. 496; Burgi/Wolff, in: Bonner Kommentar, Grundgesetz, 196. EGL, Februar 2019, Art. 12 Abs. 2 und 3 Rn. 64. 46 Burgi/Wolff, in: Bonner Kommentar, Grundgesetz, 196. EGL, Februar 2019, Art. 12 Abs. 2 und 3 Rn. 64 m.w.N. 47 LT-Drs. 18/6945, S. 7. 48 Art. 163, außer Kraft, Text galt vom 14.08.1919 bis 23.03.1933: „(1) Jeder Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert.“ 49 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 302. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 11 nicht von Art. 6 Abs. 1 BayIfSG sowie § 15 Abs. 1 des Gesetzentwurfs der Landesregierung Nordrhein -Westfalen geregelt. Diese beziehen sich nur auf eine bestimmte Tätigkeit eines bestimmten Personenkreises und sind somit nicht allgemein. Zum anderen werden berufliche Tätigkeiten erfasst, die „einem Selbstständigen oder Unselbstständigen nur als Nebenwirkung seiner eigentlichen beruflichen Tätigkeit auferlegt“50 werden. Darunter fallen z. B. „die nicht kostendeckende Beurkundungspflicht von Notaren [oder] die Pflicht des Arbeitgebers zur Abführung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen seiner Arbeitnehmer“.51 Auch der sonntägliche Notdienst von Apotheken und Ärzten wird nach herrschender Auffassung von Art. 12 Abs. 1 GG und nicht von Art. 12 Abs. 2 GG erfasst.52 Denn Arbeitszwang besteht nur bei Tätigkeiten „die mehr als unbedeutenden Aufwand verursachen und eigenständig, also nicht nur notwendige Nebenwirkung einer anderweitigen Verpflichtung sind“53. Bei jenen Notdiensten handelt es sich dagegen nur um „Zwang zu beruflicher Tätigkeit innerhalb eines frei gewählten Berufs“54. Aufgrund der verbleibenden „freie[n] Wahl des beruflichen Rahmens“55, unterfallen entsprechende Notdienste der allgemeinen Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG.56 Die Maßnahmen nach Art. 6 Abs. 1 BayIfSG unterfallen hingegen, wie bereits festgestellt, dem Regelungsbereich des Art. 12 Abs. 2 GG. Im Ergebnis ist somit der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG nicht eröffnet. 3.4. Weitere Grundrechte Die Arbeitszuweisung von medizinisch ausgebildeten Personen zu besonderen Einrichtungen verstößt des Weiteren auch gegen die Allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. Die Allgemeine Handlungsfreiheit ist jedoch subsidiär gegenüber Art. 12 Abs. 2 GG, sodass hier keine gesonderte Prüfung mehr notwendig ist. 50 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 298 (Fußnote des Originals ausgelassen). 51 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 298 (Fußnoten des Originals ausgelassen). 52 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 298, unter Verweis auf BVerwGE 41, 261 (264); 65, 362 (363). 53 Mann, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Aufl. 2018, Art. 12 Rn. 180 (Fußnote des Originals ausgelassen). 54 Kämmerer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 89. 55 Kämmerer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 89. 56 Kämmerer, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 12 Rn. 89 (Fußnote des Originals ausgelassen); BVerwG, Urteil vom 16. April 1970, VIII C 18367: „Für den Zwang zu beruflicher Tätigkeit innerhalb eines frei gewählten Berufs ist Art. 12 Abs. 1 GG Spezialnorm, so daß dem Art. 12 Abs. 2 GG kein Einfluß auf die Regelungsbefugnis zukommt.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 095/20 Seite 12 4. Zitiergebot, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG Gemäß dem Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG muss das das Grundrecht einschränkende Gesetz das tangierte Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. Das Zitiergebot gilt nur bei Grundrechten , die auf Grund einer ausdrücklichen Ermächtigung in der jeweiligen Norm vom Gesetzgeber eingeschränkt werden dürfen.57 Dazu gehört auch der Arbeitszwang nach Art. 12 Abs. 2 GG.58 Art. 10 BayIfSG, der Grundrechtseinschränkungen durch das BayIfSG benennt, verweist jedoch nicht auf Art. 12 Abs. 2 GG. *** 57 Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 3. Aufl. 2008, abrufbar unter: http://hdr.bmj.de/page_c.9.html (zuletzt aufgerufen am 16. April 2020). 58 Ebenda.