WD 3 - 3000 - 093/21 (6. Mai 2021) © 2021 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages „Verfassungsmäßigkeit von Besuchsverboten nach § 28a Abs. 1 Nr. 15 Infektionsschutzgesetz“ (WD 3 - 3000 - 063/21), befasst sich mit verfassungsrechtlichen Aspekten von Besuchsbeschränkungen in Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens als Maßnahme zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Im Folgenden wird ergänzend auf zusätzliche Aspekte eingegangen, die sich bei Besuchsbeschränkungen in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 GG ergeben. Nach Art. 6 Abs. 1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung . Familie im Sinne der Norm ist insbesondere „die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft von Eltern und Kindern“1, erfasst wird aber auch die Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln sowie zwischen nahen Verwandten der Seitenlinie, sofern zwischen ihnen „tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Bindungen“ bestehen.2 Ehe im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG ist jedenfalls die staatlich geschlossene Ehe zwischen Mann und Frau.3 Umstritten ist, ob der Ehebegriff der Norm auch die zivilrechtlich nach § 1353 Abs. 1 BGB zulässige gleichgeschlechtliche Ehe umfasst.4 Sachlich schützt Art. 6 Abs. 1 GG unter anderem das Zusammenleben und den Kontakt zwischen den Familienmitgliedern.5 Umfasst sind daher auch Besuche bei vom Schutzbereich umfassten Angehörigen , die in Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens untergebracht sind. Die in 1 BVerfGE 127, 263 (287). 2 BVerfGE 136, 382 (389). 3 Von Coelln, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 4. 4 Dagegen etwa Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 6 GG Rn. 4; dafür etwa Heiderhoff, in: v. Münch/ Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 59 5 BVerfGE 136, 382 (388 ff.); Hufen, Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen aus Anlass der COVID-19-Pandemie, S. 12, abrufbar unter https://www.bagso.de/publikationen/stellungnahme/rechtsgutachten-besuche-in-pflegheimen/. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Zu Art. 6 Abs. 1 GG Kurzinformation Zu Art. 6 Abs. 1 GG Fachbereich WD 3 (Verfassung und Verwaltung) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 § 28a Abs. 1 Nr. 15 Infektionsschutzgesetz (IfSG) vorgesehenen Besuchsbeschränkungen oder Besuchsverbote in solchen Einrichtungen stellen daher in Bezug auf den geschützten Personenkreis einen Grundrechtseingriff dar. Grundrechtseingriffe sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, also ein legitimes Ziel in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgen.6 Dazu wird im Wesentlichen auf die eingangs erwähnte Ausarbeitung verwiesen.7 In Bezug auf Art. 6 Abs. 1 GG ist als Besonderheit zu beachten, dass das Grundrecht vorbehaltslos gewährleistet wird. Die Rechtfertigung einer Beschränkung eines vorbehaltslos geltenden Grundrechts kann sich nur daraus ergeben, dass das Grundrecht mit anderen Verfassungsgütern im Konflikt steht (sog. kollidierendes Verfassungsrecht).8 Dabei kommen insbesondere Grundrechte Dritter infrage.9 In Bezug auf die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie kommt insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als mit Art. 6 Abs. 1 kollidierendes Verfassungsrecht in Betracht. Kollidierende Grundrechtspositionen müssen im Wege der sog. praktischen Konkordanz zu einem Ausgleich gebracht werden. Verfassungsrechtlich gefordert wird, dass „nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren“.10 Dieser Ausgleich ist primär Aufgabe des Gesetzgebers,11 dem dafür ein weiter Spielraum zusteht.12 § 28a Abs. 1 Nr. 15 IfSG erlaubt Beschränkungen von Besuchen in Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens als Schutzmaßnahme gegen eine Infektion mit dem Coronavirus und gegen die Ansteckung weiterer Personen. Die Norm trägt damit auf der einen Seite dem Grundrecht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit von Bewohnern, Personal und den jeweiligen Kontaktpersonen Rechnung. Um dem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG dabei Geltung zu verschaffen, hat der Gesetzgeber Einschränkungen in § 28a Abs. 2 IfSG eingeführt. Danach ist zum einen die Anordnung von Besuchsverboten für enge Angehörige nur dann zulässig, „soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre“. Zudem dürfen die Schutzmaßnahmen „nicht zur vollständigen Isolation von einzelnen Personen oder Gruppen 6 Vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 314. 7 Siehe S. 5 ff. der Ausarbeitung. 8 Siehe dazu im Allgemeinen Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, vor Art. 1 Rn. 48 ff. 9 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, vor Art. 1 Rn. 48 ff. 10 BVerfGE 93, 1 (21). 11 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, vor Art. 1 Rn. 52. 12 BVerfGE 97, 167 (176). Kurzinformation Zu Art. 6 Abs. 1 GG Fachbereich WD 3 (Verfassung und Verwaltung) Wissenschaftliche Dienste Seite 3 führen; ein Mindestmaß an sozialen Kontakten muss gewährleistet bleiben“.13 Der Gesetzgeber hat somit für die Anordnung von Besuchsverboten enge Grenzen gesetzt. Zum einen dürfen Besuchsverbote gegenüber durch Art. 6 Abs. 1 geschützten Personen nur als ultima ratio gewählt werden; zum anderen dürfen Besuche nicht vollständig ausgeschlossen, sondern nur eingeschränkt werden. Der Gesetzgeber dürfte damit hinreichende Vorkehrungen getroffen haben, um den gegenüberstehenden Grundrechtspositionen Geltung zu verschaffen. Ob eine konkrete auf § 28a Abs. 1 Nr. 15 IfSG gestützte Maßnahme zulässig ist, hängt von der Ausgestaltung der Maßnahme und vom übrigen Sachverhalt (etwa der aktuellen Infektionslage) ab und kann daher nur im Einzelfall entschieden werden. *** 13 Die letztgenannte Einschränkung dient zudem der Vereinbarkeit der Maßnahme mit der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, da staatliche Maßnahmen, durch die eine Person völlig von sozialen Kontakten isoliert wird, als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen werden, siehe bereits Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verfassungsmäßigkeit von Besuchsverboten nach § 28a Abs. 1 Nr. 15 Infektionsschutzgesetz, WD 3 - 3000 - 063/21, S. 3 f.