Zulässigkeit von Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht - Ausarbeitung - © 2008 Deutscher Bundestag WD 3 – 3000- 090/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser: Zulässigkeit von Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht Sachstand WD 3 – 3000- 090/08 Abschluss der Arbeit: 05. März 2008 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaft lichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. - 3 - - Zusammenfassung - Sperrklauseln (Bsp: 5%-Hürde) sollen im Verhältniswahlrecht den Einzug von Splittergruppen in ein Parlament verhindern, um dessen Entscheidungsfähigkeit zu sichern . Solche Klauseln greifen jedoch in den Grundsatz der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit politischer Parteien ein und müssen daher gerechtfertigt sein. Während diese Rechtfertigung derzeit für Bundes- und Landtagswahlen allgemein angenommen wird, ist die Zulässigkeit von Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht umstritten . Das Bundesverfassungsgericht hat im Wege der Organleihe für das Bundesland Schleswig-Holstein dort mit Urteil vom 13.02.20081 die Sperrklausel im Kommunalwahlrecht als verfassungswidrig aufgehoben. Bei der Beurteilung der Gefährdung der Entscheidungsfähigkeit der schleswig-holsteinischen Kommunalvertretungen durch Splittergruppierungen hat das Bundesverfassungsgericht der Ausgestaltung des Kommunalverfassungsrechts entscheidendes Gewicht beigemessen. Die Frage der möglichen Funktionsbeeinträchtigung durch Splittergruppierungen lässt sich demnach nur in Bezug auf die konkreten Funktionen des zu wählenden Organs beurteilen. Sehe das Kommunalverfassungsrecht Regelungen vor, die eine Funktions- und Entscheidungsfähigkeit der Kommunalvertretungen sichere, entfalle die verfassungsrechtliche Rechtfertigung für eine Sperrklausel. Zudem müssten auch die Erfahrungen anderer Bundesländer ohne kommunale Sperrklauseln in die Wertung einbezogen werden. Auch wenn es keine rechtliche Bindungswirkung dieser Entsche idung für andere Bundesländer gibt, so dürfte aber das Bundesverfassungsgericht mit dem erwähnten Prognosemaßstab eine Präzedenzentscheidung für die Frage getroffen haben, mit welchen Methoden die Gefährdung der Entscheidungsfähigkeit künftig grundsätzlich zu bewe rten ist. 1 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07). - 4 - Inhaltsverzeichnis Seite 1. Übersicht über Sperrklauseln im kommunalen Wahlrecht 5 2. Urteil des BVerfG zur 5%-Sperrklausel in Schleswig- Holstein 7 2.1. Materielle Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts 8 2.1.1. Ausgangslage: Sperrklauseln für Bundes- und Landtagswahlen 8 2.1.2. Übertragung der Grundsätze auf das Kommunalwahlrecht in Schleswig-Holstein 9 2.1.3. Kommunalverfassungsrecht als Maßstab der Gefährdung der Entscheidungsfähigkeit von Kommunalvertretungen 9 3. Übertragbarkeit des BVerfG-Urteils auf das Kommunalwahlrecht in anderen Bundesländern 11 - 5 - 1. Übersicht über Sperrklauseln im kommunalen Wahlrecht Im Kommunalwahlrecht gibt es derzeit in fünf Bundesländern (darunter zwei Stadtstaaten ) eine Sperrklausel2, namentlich sind dies Berlin (3%-Klausel), Hamburg, Rheinland-Pfalz (3,03%-Klausel), das Saarland und Thüringen. In Schleswig-Holstein hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 13.02.20083 erst vor wenigen Wochen die Sperrklausel als verfassungswidrig aufgehoben. Nachdem solche Klauseln in den Bundesländern nach und nach abgeschafft wurden, hat zuletzt Hamburg im Oktober 2006 für die Ebene der Bezirksversammlungen wieder eine 5%-Sperrklausel eingeführt4, bemerkenswert dabei ist, dass die Sperrklausel erst am 05.07.2004 per Volksentscheid gekippt worden war5. Der Volksentscheid zur Abschaffung der Sperrklausel war damit ohne faktische Wirkung, da zwischen Juli 2004 und Oktober 2006 keine Wahl zu den Bezirksversammlungen stattfand. Die zur Entscheidung über eine Sperrklausel angerufenen Landesverfassungsgerichte haben die Verfassungsmäßigkeit bislang unterschiedlich beurteilt. Ausdrücklich als verfassungswidrig wurden Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht nur in Bayern, Berlin und Schleswig-Holstein (hier durch das Bundesverfassungsgericht als Landesverfassungsgericht ) angesehen. Ansonsten forderten die Verfassungsrichter lediglich eine Überprüfung der Sperrklausel durch den Landesgesetzgeber oder bestätigten diese. In Bayern hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof mit Urteil vom 18.03.19526 die kommunalrechtliche 5%-Klausel für nichtig erklärt, da diese – anders als für die Parlamente in Bund und Ländern – als Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit nicht mit der Sicherung der Funktionsfähigkeit kommunaler Vertretungen zu rechtfertigen wäre. Die Kommunalvertretungen hätten keine Regierung zu bilden, für welche eine stabile Ratsmehrheit erforderlich wäre. In Berlin hat der Verfassungsgerichtshof mit Urteil vom 17.03.19977 die 5%-Klausel für die Bezirksverordnetenversammlung für verfassungswidrig erklärt. Danach wurde in § 22 Abs. 2 LWG in Berlin jedoch eine 3%-Hürde eingeführt. 2 Eine Übersicht bis 2006 liefert Thomas Puhl, Die 5%-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht auf dem Rückzug, in: Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, Heidelberg, 2007, S. 441 ff. 3 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07). 4 WahlGBezV in der Fassung vom 19. Oktober 2006 (GVBl 2006, S. 519 ff.). 5 WahlGBezV in der Fassung vom 05. Juli 2004 (GVBl 2004, S. 313 ff.). 6 BayVGHE n.F. Bd. 2, Teil II, 66 (74 ff.), Kurztext abrufbar unter Juris. 7 BerlVerfGH, Urteil vom 17.03.1997 - VerfGH 90/95, Juristische Rundschau 1998, S. 140 ff. - 6 - In Bremen hat der Staatsgerichtshof mit Urteil vom 29.08.20008 die kommunale Sperrklausel als verfassungskonform bestätigt, dies jedoch vor allem mit einer Bremer Besonderheit begründet. Dort wird bei den Bürgerschaftswahlen (Landtagswahlen) in einem Wahlgang auch die Kommunalvertretung (Stadtbürgerschaft) gewählt, so dass die Abgeordneten ein Doppelmandat besitzen und in Personalunion Mandatsträger beider Volksvertretungen sind. Nach einem erfolgreichen Volksbegehren hat die Bremische Bürgerschaft im Dezember 2006 die 5%-Hürde für die Stadtverordnetenwahl Bremerhaven abgeschafft. Für die Stadt Bremen bleibt es bei der Sperrklausel. Das Hamburgische Verfassungsgericht hat mit Urteil vom 27.04.20079 die Wiedereinführung der 5%-Sperrklausel bei der Wahl zu den Bezirksversammlungen als verfassungskonform bestätigt und seine bisherige Rechtsprechung in dieser Frage bekräftigt. Die Wiedereinführung der Sperrklausel sei auch im Hinblick auf den Verfassungsgrundsatz , dass die Gleichheit der Wahl für sämtliche demokratische Wahlen politischer Art und damit auch für die Wahl zu den Bezirksversammlungen gelte, nicht zu beanstanden . Das Hamburgische Verfassungsgericht habe bereits mit seinen Urteilen vom 06.11.199810 und vom 26.11.199811 entschieden, dass dem Gesetzgeber ein Spielraum zustehe, die Belange der Funktionsfähigkeit der Bezirksversammlungen durch Fernha lten von Splitterparteien mit den Geboten der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit zum Ausgleich zu bringen. Die für die Zulässigkeit einer 5%-Sperrklausel relevanten Verhältnisse hätten sich nicht wesentlich geändert. In Mecklenburg-Vorpommern entschied das Landesverfassungsgericht mit Urteil vom 14.12.200012 ebenfalls vor dem Hintergrund der Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten, dass der Landtag die Rechtfertigung einer kommunalen Sperrklausel überprüfen müsse. Der Landtag schaffte diese daraufhin im Jahr 2003 ab. Die Sperrklausel in Nordrhein-Westfalen hielt das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 23.01.195713 für verfassungskonform, insbesondere zur Gewährleistung einer funktionierenden Wahl des Gemeindedirektors und der Beigeordneten. Zudem garantiere Art. 28 GG die Selbstverwaltung der Kommunen. Das vom Grundgesetz so stark herausgestellte und ausdrücklich garantierte Prinzip der Selbstverwaltung sei jedoch nur dann voll verwirklicht, wenn der Rat als Verwaltungsorgan normal funktionieren könne, d. h. wenn er ohne Eingreifen der Kommunalaufsicht eigenverantwortlich über Gemeindeangelegenheiten Beschluss fassen und die notwendigen Wahlen (Bür- 8 NVwZ-RR 2001, 76 f. 9 HmbJVBl 2007, S. 60 ff. 10 NVwZ-RR 1999, S. 358 ff. 11 NVwZ-RR 1999, S. 354 ff. 12 LKV 2001, 270 ff. 13 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Band 6, S. 104 (111). - 7 - germeister, Gemeindedirektor, Ausschüsse) vornehmen könne. Gerade dieses normale Funktionieren, auf das es allein ankomme, könne durch das Vorhandensein von Splitterparteien ebenso gestört werden wie im Bundestag oder den Landtagen. In zwei Entscheidungen in den Jahren 1994 und 1995 entschied der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen dann jedoch vor dem Hintergrund der 1994 eingeführten Direktwahl der Bürgermeister und Landräte, dass die Sperrklausel wegen der geänderten Funktion der Kommunalvertretungen zu überprüfen und ggf. nachzubessern sei. Nachdem der Landtag zunächst an der 5%-Sperrklausel festhielt, qualifizierte der Verfassungsgerichtshof diese als Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit politischer Parteien, der Landtag müsse – wenn er an der Klausel festhalten wolle – diese besser begründen. Der Landtag hob wenige Tage nach dem Urteil die Sperrklausel auf. Im Saarland hat der Verfassungsgerichtshof am 02. 06. 199814 mit 4 zu 4 Stimmen die kommunale 5%-Sperrklausel bestätigt. Angesichts der Größe der Kommunalvertretungen im Saarland würden, anders als in anderen Bundesländern, vergleichsweise wenige Stimmen (ab 140 Stimmen) genügen, um einen Sitz zu erringen. Je nach den in einer Gemeinde auch unvorhergesehen auftretenden Interessengegensätzen im Vorfeld einer Kommunalwahl könne es daher sehr rasch zu einer politischen Zersplitterung der Räte kommen, die einer gemeinwohlverträglichen Arbeit der kommunalen Volksvertretung abträglich sein könnten. Eine Sperrklausel sei daher notwendig. In Thüringen ist derzeit beim Verfassungsgerichtshof ein Verfahren zur Überprüfung der 5%-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht anhängig. Der Verfassungsgerichtshof hat das Verfahren am 06.11.2007 (mit 5 zu 4 Stimmen) bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Az. 2 BvK 1 / 07) zur Zulässigkeit von Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht Schleswig-Holstein ausgesetzt 15. 2. Urteil des BVerfG zur 5%-Sperrklausel in Schleswig-Holstein Das Bundesverfassungsgericht war gemäß Art. 93 Abs 1 Nr. 5, Art. 99 GG, Art. 59c Landesverfassung Schleswig-Holstein16 als Landesverfassungsgericht (Organleihe) für Schleswig-Holstein zuständig, da das Land noch kein eigenes Landesverfassungsgericht errichtet hat. Prüfungsmaßstab war daher grundsätzlich die Landesverfassung, wobei sich der Grundsatz der Gleichheit der Wahl für die Kommunalwahlen in Schles- 14 VerfGH des Saarlands, LV 4/97, LVerfGE 8, 257. 15 VerfGH Weimar, Beschluss vom 06. 11. 2007, AktZ: VerfGH 22/05, abrufbar unter JURIS. 16 In der Fassung vom 17. Oktober 2006. - 8 - wig-Holstein nicht nur aus Art. 3 Abs. 1 LV SH ergibt; für die Wahl zu Kommunalvertretungen schreibt bereits das Grundgesetz in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG verbindliche Wahlrechtsgrundsätze vor, als Wahlrechtsgrundsätze werden dabei dieselben des Art. 38 Abs. 1 GG genannt. Die Wahlrechtsgrundsätze auf Bundes- und auf Landesebene sind daher in allen Bundesländern inhaltlich identisch17. Das durch eine Sperrklausel zugleich beeinträchtigte Recht der Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen bestimmt sich auf Landesebene ebenfalls nach dem Grundgesetz. Art. 21 Abs. 1 GG umschreibt einen besonderen verfassungsrechtlichen Status der Parteien , welcher auch Bestandteil der Landesverfassungen ist18. 2.1. Materielle Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts 2.1.1. Ausgangslage: Sperrklauseln für Bundes- und Landtagswahlen Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach zu Sperrklauseln im Wahlrecht Stellung genommen. Es ist dabei ständige Rechtsprechung, dass eine Sperrklausel eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen bewirkt. Zugleich wird durch die Sperrklausel das Recht der Parteien auf Chancengleichheit beeinträchtigt19. Diese Eingriffe können grundsätzlich gerechtfertigt werden, jedoch ist es ebenfalls ständige Rechtsprechung, dass die Rechtfertigung einer Sperrklausel nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden kann20. Eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel darf daher nicht als für alle Zeiten als verfassungsrechtlich unbedenklich eingeschätzt werden. Als Leitgesichtspunkt für eine Rechtfertigung hat das Bundesverfassungsgericht die Funktions- und Entscheidungsfähigkeit einer Volksvertretung angeführt21. Entscheidend sei die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des Einzugs von Splittergruppierungen in die entsprechende Volksvertretung und die Prognose inwieweit diese die Funktionsfähigkeit des Parlaments beeinträchtigen könnten. Bei einer Vielzahl von Splittergruppierungen könne grundsätzlich die Gefahr bestehen, dass Partikularinteressen die Mehrheitskompromisse erschweren und diese Einzelinteressen im Verhältnis zu ihrem Rückhalt in der Bevölkerung unangemessen vie l Gewicht erhielten. Zudem müssen Bundestag und Landtage tragfähige Regierungsmehrheiten bilden können, die Verständigung hierauf fällt jedoch umso schwerer, je mehr Gruppen hieran beteiligt seien. 17 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 94. 18 BVerfGE 27, 240 (244); 2 BvK 01 / 07, Rn. 94. 19 BVerfGE 6, 104 (112). 20 BVerfGE 1, 208 (259). 21 Siehe vor allem: BVerfGE 34, 81 (99); 83, 322 (338). - 9 - 2.1.2. Übertragung der Grundsätze auf das Kommunalwahlrecht in Schleswig-Holstein In seiner aktuellen Entscheidung vom 13.02.2008 bestätigt das Bundesverfassungsgericht seine oben ausgeführten Grundsätze 22. Aufgrund der Zulässigkeit einer Sperrklausel für Bundestags- oder Landtagswahlen könne jedoch nicht ohne weiteres auf die Erforderlichkeit der Sperrklausel für kommunale Vertretungsorgane geschlossen werden. Anders als staatliche Parlamente würden Gemeindevertretungen und Kreistage keine Gesetzgebungstätigkeit ausüben, für welche eine klare Mehrheit unentbehr lich sei.23 Unter Berücksichtigung der Aufgaben der kommunalen Vertretungsorgane in Schleswig -Holstein kommt das Gericht zur Auffassung, dass dort eine Rechtfertigung der Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien nicht in Betracht komme24. Der Gesetzgeber dürfe sich bei seiner Prognosenentscheidung über mögliche Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit kommunaler Vertretungsorgane nicht auf die Feststellung einer rein theoretischen Möglichkeit beschränken25. Auch reiche die bloße "Erleichterung" oder "Vereinfachung" der Beschlussfassung nicht aus, um den mit der 5%-Sperrklausel verbundenen Eingriff in die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit der politischen Parteien zu rechtfertigen26. Die im Landesparlament vertretenen Parteien könnten ohne detaillierten Begründungszwang für eine kommunale Sperrklausel ansonsten versucht sein, diese Klausel schon deshalb aufrecht zu halten, um sich dadurch Konkurrenz durch kleine Parteien oder kommunale Wählergruppen fern zu halten27. Das Bundesverfassungsgericht entwickelte daher in seinem Urteil einen Prüfungsmaßstab, anhand dessen die Gefährdung der Entscheidungsfähigkeit von Kommunalvertretungen prognostiziert werden kann. 2.1.3. Kommunalverfassungsrecht als Maßstab der Gefährdung der Entsche idungsfähigkeit von Kommunalvertretungen Als Maßstab für die Prognoseentscheidung des Gesetzgebers bei der Beurteilung der Entscheidungsfähigkeit von Kommunalvertretungen bemisst das Bundesverfassungsge- 22 Siehe Punkt 2.1.1. 23 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 122. 24 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 106. 25 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 124. 26 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 127. 27 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 125. - 10 - richt der Ausgestaltung des Kommunalverfassungsrechts entscheidendes Gewicht bei28. Die Frage der möglichen Funktionsbeeinträchtigung lasse sich nur in Bezug auf die konkreten Funktionen des zu wählenden Organs beurteilen29. Bedeutsam sind für das Gericht hierbei die gesetzlichen Aufgaben sowie die gesetzlichen Vorschriften, um mögliche Entscheidungsausfälle in den Kommunalparlamenten durch das Auftreten mehrer Splittergruppierungen zu vermeiden. Das Bundesverfassungsgericht wertet dabei die gesetzlichen Aufgaben der Kommuna lparlamente als wesentlich und unterstreicht, dass eine Beeinträchtigung dieser Aufgaben erhebliches Gewicht hätte30. Vor dem Hintergrund der kommunalverfassungsrechtlich verankerten Instrumentarien zur Vermeidung von Entscheidungsausfällen sei jedoch keine Gefährdung durch Splittergruppierungen zu befürchten. a) Mit der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister in hauptamtlich verwalteten Gemeinden sowie der Landräte sei das zentrale Element weggefallen, das die Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel im schleswig-holsteinischen Kommunalwahlrecht gestützt habe31. Für die Wahl dieser hauptamtlichen Bürgermeister und Landräte seien keine stabilen Mehrheiten im Rat mehr notwendig . Da der hauptamtliche Bürgermeister oder Landrat in eigener Zuständigkeit die alleinige wirtschaftliche Verantwortung für die Leitung der Gemeindeverwaltung trägt sowie unter anderem ein Eilentscheidungsrecht bei dringenden Maßnahmen hat, geht das Bundesverfassungsgericht – ohne dies ausdrücklich zu betonen – zudem davon aus, dass durch den hauptamtlichen Bürgermeister ein wesentlicher Teil kommunaler Selbstverwaltung gesichert ist32. b) Das in ehrenamtlich verwalteten Gemeinden die Gemeindevertretung nach wie vor für die Wahl des Bürgermeisters zuständig sei (§ 52 Abs. 1 S. 2 Gemeindeordnung Schleswig-Holstein – GO SH), lasse keinen Rückschluss auf die Notwendigkeit einer Sperrklausel zu. Sämtliche ehrenamtlich verwaltete Gemeinden seien solche mit weniger als 10.000 Einwohnern. In diesen Gemeinden bestimme § 8 des Gesetzes über die Wahlen in den Gemeinden und Kreisen (GKWG SH), dass maximal 19 Ratsmitglieder zu wählen seien, die Sperrklausel greife in diesen Fällen somit ohnehin nicht, da eine Partei mit weniger als 5 Prozent der Stimmen schon faktisch nie einen Sitz im Rat erreichen könne33. c) Letztlich sehe das Kommunalverfassungsrecht Regularien vor, um auch bei schwierigen Mehrheitsverhältnissen zu Entscheidungen zu gelangen34. Die wesentlichen Punkte sind hierbei35: 28 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 129. 29 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 122. 30 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 130, 131. 31 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 132. 32 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 134. 33 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 135. 34 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 136 ff. 35 Angegeben werden nur die Normen der Gemeindeordnung. In der Kreisordnung sind jeweils ähnliche Regularien enthalten. - 11 - - Für Sachentscheidungen reiche grundsätzlich eine relative Abstimmungsmehrheit aus, § 39 Abs. 1 Satz 1 GO SH. - Bei Wahlen gelte grundsätzlich das Meiststimmenverfahren (§ 40 Abs. 3 Satz 1 GO SH), so dass es lediglich auf die für einen Kandidaten abgegebenen Stimmen ankomme. Die Wahl einer Person könne nur verhindert werden, wenn ein Alternativkandidat vorgeschlagen werde, der mehr Stimmen erhalte. - Die Gemeinde- und die Kreisordnung enthielten Sonderregelungen, welche die Entscheidungsfähigkeit der Kommunalvertretungen auch dann sicherstellen würden, wenn das übliche Quorum der Beschlussfähigkeit nicht zu wahren sei. So wäre der Rat beispielsweise in der zweiten Sitzung, in der erneut zur Verhandlung über denselben Gegenstand geladen werde, ohne Rücksicht auf die Anzahl der erschienenen Mitglieder beschlussfähig, sofern mindestens drei Ratsmitglieder anwesend seien, § 38 Abs. 3 Satz 1 GO SH. Schließlich führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass auch die in Bundesländern ohne Sperrklausel gemachten Erfahrungen bei der Prognoseentsche idung nicht außer Betracht gelassen werden könnten. Hier sei jedoch eine Störung der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen nicht bekannt geworden36. Abschließend weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass die Sperrklausel nicht mit dem Ziel gerechtfertigt werden könne, verfassungsfeindliche oder extremistische Parteien von kommunalen Vertretungsorganen fernzuhalten. Für dieses Ziel sei von der Verfassung ausschließlich Art. 21 Abs 2 GG vorgesehen.37 3. Übertragbarkeit des BVerfG-Urteils auf das Kommunalwahlrecht in anderen Bundesländern Die Frage der Übertragbarkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13.02.2008 (2 BvK 01/07) bemisst sich zunächst nach § 31 Abs. 1 BVerfGG. Danach binden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Mit der Bindungswirkung der Entscheidung der Landesverfassungsgerichte befasst sich die Norm jedoch nicht, dies würde auch außerhalb der Regelungsmacht des Bundesgesetzgebers liegen, weil die Gesetzgebung in Sachen Landesverfassungsgerichtsbarkeit den Ländern obliegt38. Sieht das Landesrecht entsprechende landesrechtliche Regelungen vor, so unterliegen nur die Gerichte und Behörden des entsprechenden Bundeslandes einer entspre- 36 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 144. 37 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 115. 38 Herbert Bethge in: Theodor Maunz / Bruno Schmidt-Bleibtreu / Franz Klein / Herbert Bethge, Bundesverfassungsgericht Kommentar, München, 2007, § 31, Rn. 314; BVerfGE 96, 345 (368). - 12 - chenden Bindungswirkung. Dies gilt auch dann, wenn das Bundesverfassungsgericht – wie vorliegend für das Land Schleswig-Holstein – als beliehenes Organ nach Art. 99 GG als Landesverfassungsgericht tätig wurde 39. Bei anderer Sichtweise würde gleichsam durch die Hintertür des Art. 99 GG eine Bindungswirkung eingeführt. Anders liegt es nur, wenn das Bundesverfassungsgericht über die Reservezuständigkeit bzw. das Selbsteintrittsrecht des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 GG tätig wird40. Obwohl sich somit aus der Entscheidung zur Sperrfrist im Kommunalwahlrecht von Schleswig-Holstein keine gesetzliche Bindungswirkung für andere Bundesländer herleiten lässt, dürfte sich dennoch eine Präzedenzwirkung ergeben. Das Bundesverfassungsgericht hat einen Maßstab für die Gefährdungsprognose kommunaler Vertretungen gesetzt, an Hand dessen sich Sperrklauseln im Kommunalwahlrecht künftig wohl beurteilen lassen müssen. Denn es lassen sich im Bereich der bundesweit identischen Wahlrechtsgrundsätze sowie des als Bestanteil aller Landesverfassungen verankerten Grundsatzes der Chancengleichheit der Parteien gemeinsame normative Grundsätze 41 ausmachen, deren Beschränkungsmöglichkeiten im Kommunalwahlrecht das Bundesverfassungsgericht nunmehr konkretisiert hat. Die Frage der möglichen Funktionsbeeinträchtigung durch Splittergruppierungen lässt sich demnach nur in Bezug auf die konkreten Funktionen des zu wählenden Organs beurteilen42, maßgebend sind somit die Regelungen im jeweiligen Kommunalverfassungsrecht. Hält dieses ausreichende gesetzliche Vorschriften bereit, um mögliche Entscheidungsausfälle in den Kommunalparlamenten zu vermeiden, dürfte eine kommunale Sperrklausel nur in Ausnahmefällen noch verfassungsrechtlich zulässig sein. Zudem müssten die Erfahrungen in anderen Bundesländern ohne Sperrklausel mit in die Prognose einbezogen werden43. Seit der Reformierung der Kommuna lverfassungen bestehen in nahezu allen Flächenländern wesentliche Übereinstimmungen in den Kommunalverfassungen44. Vor allem im Vergleich zur entsprechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1957, welche kommunale Sperrklauseln noch für verfassungskonform hielt, haben sich mittlerweile die Aufgaben der Kommunalparlamente wesentlich verändert. Zu nennen ist hier insbesondere die Direktwahl der Hauptverwaltungsbeamten (Bürgermeister 39 Bethge, § 31, Rn. 318; Andreas Heusch in: Umbach, Dieter / Clemens, Thomas / Dollinger, Franz- Wilhelm, Bundesverfassungsgerichtsgesetz Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Heidelberg, 2005, § 31, Rn. 9. 40 Bethge, § 31, Rn. 318. 41 Siehe Punkt 2. 42 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 122. 43 Entscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 13.02.2008 (2 BvK 01 / 07), Rn. 144. 44 Siehe auch: von Arnim, Hans Herbert, Auf dem Weg zur optimalen Gemeindeverfassung?, Deutsches Verwaltungsblatt 1997, 749 ff. - 13 - und Landräte). Auch die rechtlichen Instrumente zur Verhinderung einer Gefährdung der Entscheidungsfähigkeit (Bsp: einfache Mehrheit bei Abstimmungen und Wahlen, Beschlussfähigkeit im Regelfall in zweiter Sitzung zu gleichem Tagesordnungspunkt gegeben) sind mittlerweile gefestigt und sichern auch bei Einzug mehrerer Splittergruppierungen die Entscheidungen der Kommunalvertretungen. Letztlich hat die Mehrheit der Bundesländer keine kommunale Sperrklausel mehr, ohne dass hier Probleme in der Entscheidungsfähigkeit bekannt geworden seien45. Damit dürfte eine Sperrklausel im Kommunalwahlrecht nur mit erheblichem Begründungsaufwand noch als verfassungskonform angesehen werden können46. Das im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausgesetzte Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof Thüringen47 wird in der Frage der Präzedenzwirkung des Bundesverfassungsgerichtsurteils Aufschluss geben. In Rheinland-Pfalz kommt in Bezug auf die 3,03%-Klausel hinzu, dass diese ohnehin nur in Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern Wirkung entfaltet. Gemäß § 29 Abs. 2 S. 1 GemO RLP haben Gemeinden mit weniger Einwohnern nur Anspruch auf bis zu 32 Ratsmitglieder. Parteien, die weniger als 3,03% der Wählerstimmen erreichen, haben hier schon rechnerisch keinen Anspruch auf einen Sitz im Gemeinderat. 45 Siehe auch: Heinig, Hans Michael, Gleichheit trotz(t) Funktionalität, Nordrhein-Westfälische Ve rwaltungsblätter 2000, 121 ff. 46 Zur den Ansichten in der Literatur, siehe Puhl, S. 457, Fn. 93. 47 VerfGH Weimnar, Beschluss vom 06. 11. 2007, AktZ: VerfGH 22/05, abrufbar unter JURIS.