© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 087/18 Neuregelung der Wahl der französischen Nationalversammlung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 087/18 Seite 2 Neuregelung der Wahl der französischen Nationalversammlung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 087/18 Abschluss der Arbeit: 26. März 2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 087/18 Seite 3 1. Derzeitiges Wahlrecht Seit 1958 gilt in Frankreich ein absolutes Mehrheitswahlsystem in 577 Einerwahlkreisen mit zwei Wahlgängen.1 Dies bedeutet: – Im ersten Wahlgang ist derjenige Kandidat gewählt, der die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen und die Stimmen eines Viertels der eingeschriebenen Wähler erhält. – Erreicht niemand diese Zahl, so findet eine Woche später eine zweite Abstimmung statt. Gewählt ist dann, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. – Am zweiten Wahlgang können nur Kandidaten teilnehmen, die schon für den ersten Wahlgang nominiert waren und – seit 1976 geltendem Recht – mindestens 12,5 Prozent der Stimmen erhalten haben. Lediglich bei der Wahl von 1986 galt einmalig ein Verhältniswahlrecht. Dahinter soll insbesondere das Kalkül der Regierungspartei gesteckt haben, erwartete Mandatsverluste zu begrenzen. Nach dem Einzug des Front National in die Nationalversammlung kehrte Frankreich wieder zum Mehrheitswahlsystem zurück. 2. Auswirkungen Das Wahlsystem soll eine Polarisierung auf meist nur zwei Kandidaten im zweiten Wahlgang begünstigen.2 Erst durch die Erfolge des Front National seit Ende der achtziger Jahre hat sich die Zahl der Mehrfachkandidaturen erhöht: Häufig trat neben einem bürgerlichen Bewerber und einem Sozialisten ein Kandidat des Front National an. Die absolute Mehrheitswahl mit zwei Wahlgängen soll große Parteien begünstigen und kleinere Parteien benachteiligen. Z. B. gewannen der Front National und ihm politisch nahestehende Kandidaten 2012 mit 13,77 Prozent der Stimmen nur 3 Mandate (13,77 Prozent der derzeit insgesamt 577 Mandate würde 79 Mandaten entsprechen). Insgesamt hat sich durch das Mehrheitswahlsystem ein parlamentarisches Zwei-Lager-System herausgebildet.3 Für die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten soll dies günstig sein. Der Zwang, sich spätestens vor dem zweiten Wahlgang auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen, bündele die politischen Kräfte parteiübergreifend. 1 Dieser Abschnitt beruht im Wesentlichen auf: Kempf, Das politische System Frankreichs, 2017, S. 227 ff.; Kimmel, ZParl 2017, 805 (808). 2 Ausführlich: Kempf, Das politische System Frankreichs, 2017, S. 227 ff. 3 So Kempf, Das politische System Frankreichs, 2017, S. 227 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 087/18 Seite 4 3. Reformvorschlag Medienberichten zufolge erwägt der französische Präsident, 10 bis 25% der Abgeordneten per Verhältniswahl bestimmen zu lassen.4 Die genaue Prozentzahl ist noch im Fluss der Diskussion. Ferner soll die Gesamtzahl der Mandate von 577 auf 400 reduziert werden.5 4. Bewertung Der Vorschlag von Präsident Macron ließe sich als Grabenwahlsystem deuten. Hiernach würde die Mehrzahl der Abgeordneten über ein System der Direktwahl bestimmt, und – getrennt hiervon – der andere Teil per Verhältniswahl. In der Presse finden sich insbesondere folgende Kritikpunkte: – Der Anteil von 10% sei in jedem Fall zu klein: 90% der Mandate („Mehrheitsmandate“) verteilten sich weiterhin im Wesentlichen auf die großen Parteien. Ferner erhielten die großen Parteien den größten Anteil an den 10% „Verhältnismandaten“. Auf eine kleine Partei, die insgesamt 10% der Wählerstimmen erhielte, könnte so letztlich nur 1% der Mandate entfallen (=10% der Verhältnismandate), da sie bei den Mehrheitsmandaten außen vor bleibe.6 – Verhältniswahlsysteme führten zu Instabilität; Beispiele hierfür seien Italien und Deutschland.7 Die Opposition ist gespalten: Während die Republikaner für das Mehrheitswahlsystem plädieren, setzt sich der Front National für ein umfassendes Verhältniswahlsystem ein.8 4 Le Monde (10. März 2018), Macron assoit la domination de l’exécutif sur le Parlement; Präsident Macron äußerte den Vorschlag bereits 2017: BBC (3. Juli 2017), Macron seeks to cut number of France MPs by a third. 5 Le Monde (2017, undatiert), Le nombre de parlementaires; BBC (Fn. 4). 6 L’Obs (15. März 2018), Pour Lagarde, 10% de sièges à la proportionnelle serait „se foutre du monde“; Le Monde (22. März 2018), Proportionnelle : François Bayrou met la pression sur Macron: ein Anteil von 20-25% sei das erforderliche Minimum. 7 Le Jdd (17. März 2018), Réforme des institutions : quelle sera la „dose“ de proportionnelle?; siehe auch Kimmel, ZParl 2017, 805 (823): Koalitionsbildungen wohl unvermeidlich. 8 Le Jdd (21. März 2018), Législatives : à quoi ressemblerait l'Assemblée avec les différents taux de proportionnelle?. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 087/18 Seite 5 5. Übertragbarkeit auf Deutschland Das Grundgesetz legt kein Wahlsystem ausdrücklich fest. Dieser Gestaltungsspielraum ist „vom Wahlgesetzgeber auszufüllen“.9 Dabei ist insbesondere der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit von Belang. Derzeit gilt ein System der personalisierten Verhältniswahl. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag bestimmen sich allein nach dem System der Verhältniswahl. Im Grundsatz bestehen gegen ein Grabenwahlsystem – abhängig von der Ausgestaltung – keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts darf der Gesetzgeber „beide Wahlsysteme miteinander verbinden […], etwa indem er eine Wahl des Deutschen Bundestages hälftig nach dem Mehrheits- und hälftig nach dem Verhältniswahlprinzip zulässt (Grabensystem) […].“10 *** 9 BVerfGE 95, 335 (352). 10 NVwZ 2008, 991 (993).