© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 086/20 Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 086/20 Seite 2 Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 086/20 Abschluss der Arbeit: 2. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 086/20 Seite 3 1. Fragestellung 4 2. § 28 IfSG alte Fassung 4 2.1. „Ort nicht verlassen oder betreten“ 4 2.2. „Notwendige Schutzmaßnahmen“ 5 2.2.1. Literatur 5 2.2.1.1. Ausgangsbeschränkungen möglich 5 2.2.1.2. Keine Ausgangsbeschränkungen 6 2.3. Rechtsprechung 7 3. § 28 IfSG neue Fassung 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 086/20 Seite 4 1. Fragestellung Länder haben zu Zwecken des Infektionsschutzes Ausgangsbeschränkungen erlassen. So heißt es z. B. in § 14 der „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“:1 „Im Stadtgebiet von Berlin […] befindliche Personen haben sich, vorbehaltlich anderweitiger Regelungen dieser Verordnung, ständig in ihrer Wohnung oder gewöhnlichen Unterkunft aufzuhalten.“ Es stellt sich die Frage, ob die zuständigen Behörden solche Ausgangsbeschränkungen nach § 28 IfSG erlassen konnten bzw. können. 2. § 28 IfSG alte Fassung Der Bundestag hat am 25. März 2020 Änderungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) beschlossen.2 Die Änderung des § 28 IfSG ist am Tag nach der Verkündung in Kraft getreten, mithin am 28. März 2020.3 Die bis zum 27. März 2020 geltende Fassung von § 28 Abs. 1 IfSG lautete:4 „Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen; sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind. Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden. Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 Grundgesetz) werden insoweit eingeschränkt.“5 2.1. „Ort nicht verlassen oder betreten“ Nach § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG kann die Behörde „Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden , nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten“. Die Verpflichtung steht unter der zeitlichen Einschränkung, „bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden 1 https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/#headline_1_10. 2 BT-Drs. 19/18111, Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. 3 Gesetz vom 27. März 2020, Bundesgesetzblatt Teil I 2020 Nr. 14 vom 27. März 2020, S. 587. 4 Siehe hierzu auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, § 28 Infektionsschutzgesetz als Rechtsgrundlage für Schutzmaßnahmen bei übertragbaren Krankheiten, WD 9 - 3000 - 010/20 (3. März 2020). 5 Hervorhebung durch Autor. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 086/20 Seite 5 sind“. Daraus leitet die Literatur ab, dass die Beschränkungen vorübergehend gelten, bis die konkrete Gefahrenquelle beseitigt ist.6 Hierzu soll zum Beispiel eine Anordnung gehören, ein Flugzeug oder Schiff nicht zu verlassen, bis ein ansteckungsfähiger Passagier isoliert ist.7 2.2. „Notwendige Schutzmaßnahmen“ § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG ermöglicht die „notwendigen Schutzmaßnahmen, […] soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“. 2.2.1. Literatur Zur Reichweite der „notwendigen Schutzmaßnahmen“ finden sich in der Literatur zwei Ansichten: 2.2.1.1. Ausgangsbeschränkungen möglich Nach einer Ansicht ist § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG nicht auf bestimmte Maßnahmen oder auch solche von einer bestimmten Eingriffsintensität beschränkt.8 – Nur für die Anordnung von Heilbehandlungen bestehe nach Satz 3 ein Verbot. Im Umkehrschluss seien nach Satz 1 Ausgangssperren möglich.9 – Zudem wären auch die weiteren in Satz 2 vorgesehenen Maßnahmen zeitlich unbeschränkt möglich (zum Beispiel Badeanstalten oder Schulen zu schließen) und seien somit als Dauerverwaltungsakte zulässig. Insofern sei die zeitliche Beschränkung für Maßnahmen nach Satz 2 („Ort nicht verlassen oder betreten“ siehe oben 2.1) nicht zu verallgemeinern und gelte nicht für „notwendige Schutzmaßnahmen“ nach Satz 1. – Eine zeitliche Beschränkung wäre nur bei der Erforderlichkeit der Maßnahme zu prüfen. Es stehe im Ermessen der zuständigen Behörde festzustellen, ob eine Ausgangssperre eine erforderliche , notwendige Schutzmaßnahme ist.10 6 Edenharter, Freiheitsrechte ade?, Verfassungsblog vom 19. März 2020, abrufbar unter https://verfassungsblog .de/freiheitsrechte-ade/; Kießling, Ausgangssperren wegen Corona nun auch in Deutschland (?), JuWissBlog Nr. 29/2020 vom 19. März 2020, https://www.juwiss.de/29-2020/; Klafki, Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland?, JuWissBlog Nr. 27/2020 vom 18. März 2020, https://www.juwiss.de/27-2020/; Thiele, Ausgangssperren wegen Corona, Im Katastrophenfall geht anders, LTO vom 20. März 2020, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ausgangssperren-wegen-corona-zulaessig-infektionsschutzgesetz-katastrophenfall -bayern/. 7 Edenharter (Fn. 6); Klafki (Fn. 6); Thiele (Fn. 6). 8 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 28, Rn. 8. 9 Vgl. Kießling (Fn. 6). 10 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 28, Rn. 34. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 086/20 Seite 6 – Adressaten von Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 IfSG könnten auch Nichtinfizierte sein.11 – Dem Einwand der fehlenden Bestimmtheit der Norm für den Erlass einer Ausgangssperre könne man das Argument der außergewöhnlichen Lage und das erstmalige Auftreten eines Virus von dieser Intensität entgegensetzen. Weil der Gesetzgeber eine Corona-Epidemie nicht habe vorhersehen können, sei es vertretbar, Ländern und Kommunen über den Wortlaut der Norm hinaus weitreichende Befugnisse für Verbote zuzugestehen: „Denn Sinn und Zweck des Gesetzes sei es, die Ausbreitung von Infektionen zu unterbinden. Dazu seien gewisse Beschränkungen der Bewegungsfreiheit ausdrücklich erwähnt.“12 Gerade daher sei auch ein Tätigwerden auf Grundlage der Generalklausel möglich.13 – Generalklauseln seien notwendig, um „in unvorhergesehen Situationen zu Unvorhergesehenem “ zu ermächtigen. Dies gelte auch für § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG. Die Gesetzesbegründung zur Vorgängervorschrift führe hierzu aus: „Die Fülle der Schutzmaßnahmen, die bei Ausbruch einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, lässt sich von vorneherein nicht übersehen. Man muss eine generelle Ermächtigung in das Gesetz aufnehmen, will man für alle Fälle gewappnet sein“.14 2.2.1.2. Keine Ausgangsbeschränkungen Nach einer anderen Ansicht sollen „notwendige Schutzmaßnahmen“ nach § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG keine Ausgangsbeschränkungen umfassen: – Die Gesetzesbegründung zur Vorgängervorschrift in § 34 Bundesseuchengesetz erwähnt für Nichtstörer nur das „Verbot […], einen Kranken aufzusuchen“, nicht jedoch mehrwöchige Ausgangssperren für alle Einwohner.15 – § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG regele andere erhebliche Maßnahmen, wie Ansammlungsverbote. Hierzu stehe im Widerspruch, dass die eingriffsintensivere Ausgangsbeschränkung sich auf die Generalklausel solle stützen müssen.16 – Die Ausgangssperre bedeute erhebliche Grundrechtseingriffe.17 Je tiefer der Eingriff in die Grundrechte sei, desto präziser müsse er gesetzlich geregelt sein.18 11 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 28, Rn. 17 f. 12 Wieland, Süddeutsche Zeitung, 21./22. März 2020, S. 2. 13 Kießling (Fn. 6). 14 Bethge, Ausgangssperre, Verfassungsblog vom 24. März 2020, https://verfassungsblog.de/ausgangssperre/, unter Berufung auf BT-Drs. 8/2468, S. 27. 15 Edenharter (Fn. 6); Klafki (Fn. 6). 16 Klafki (Fn. 6). 17 Klafki (Fn. 6). 18 Janisch, Süddeutsche Zeitung, 21./22. März 2020, S. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 086/20 Seite 7 2.3. Rechtsprechung Die Rechtsprechung sieht sowohl in Satz 1 als auch Satz 2 des § 28 Abs. 1 IfSG („Ort nicht verlassen oder betreten“ bzw. „notwendige Schutzmaßnahmen“) eine hinreichende Grundlage für Ausgangsbeschränkungen : – Verwaltungsgericht Freiburg (Breisgau): „Die Allgemeinverfügung [allgemeines zweiwöchiges Betretungsverbot öffentlicher Orte] findet ihre Rechtsgrundlage in § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG. […] Ob diese [in der Literatur geäußerten] grundsätzlichen Zweifel bei der gegebenen ganz außergewöhnlichen Sachlage durchgreifen, erscheint vor dem Hintergrund der generalklauselartigen Ermächtigungsgrundlage (vgl. BT-Drs. 8/2468, S. 27) aber zumindest fraglich. Die meisten verfassungsrechtlichen Fragen eines infektionsschutzrechtlichen Betretungsbzw . Aufenthaltsverbots können ohnehin nicht im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens beantwortet werden […]. Auszugehen ist jedenfalls davon, dass bei der Frage, inwieweit ein Ansteckungsverdacht im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG i.V.m. [in Verbindung mit] § 2 Nr. 7 IfSG besteht, der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen ist, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Es ist daher sachgerecht, einen am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, ‚flexiblen‘ Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu […]. Das Gleiche gilt für vorliegende Bedenken, ob eine solche umfassende Regelung wie ein allgemeines Betretungsverbot noch in der Rechtsform einer Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 Satz 2 LVwVfG [Landesverwaltungsverfahrensgesetz] erlassen werden kann […].“19 – Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg: „Im Gegensatz zu der Auffassung des Antragstellers finden die angegriffenen Bestimmungen in § 32 Infektionsschutzgesetz (IfSG) eine hinreichende gesetzliche Grundlage. […] Weil bei Menschenansammlungen Krankheitserreger besonders leicht übertragen werden können, stellt § 28 Abs. 1 Satz 2 H[alb]s[atz] 1 IfSG klar, dass Anordnungen auch gegenüber Veranstaltungen oder sonstigen Zusammenkünften von Menschen sowie gegenüber Gemeinschaftseinrichtungen ergehen können (‚Schutzmaßnahmen gegenüber der Allgemeinheit‘). Schließlich können anders als der Antragsteller meint, auch (sonstige) Dritte (‚Nichtstörer‘) Adressat von Maßnahmen sein, beispielsweise um sie vor Ansteckung zu schützen […]. Soweit der Antragsteller darauf abhebt, dass Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 S. 2 H[alb]s[atz] 2 IfSG nur zulässig seien, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind, ist darauf hinzuweisen, dass diese Regelung lediglich dem Verhältnismäßigkeitsgebot Rechnung trägt. Die Beschränkungen dürfen grundsätzlich nur solange angeordnet werden, bis andere, weniger belastende Schutzmaßnahmen ausreichen […]. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Vorschrift nur zu ganz kurzzeitigen Maßnahmen ermächtigt, wie der Antragsteller sie im Blick hat.“20 19 VG Freiburg (Breisgau), Beschluss vom 25. März 2020, 4 K 1246/20, juris, Rn. 17-19. 20 OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat, 23. März 2020, 11 S 12/20, Rn. 7-9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 086/20 Seite 8 Ferner hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof eine Ausgangsbeschränkung als Ergebnis einer Folgenabwägung bestehen lassen, allerdings ohne auf die Frage der Rechtsgrundlage näher einzugehen .21 Eine Reihe weiterer Entscheidung befasst sich mit anderen Maßnahmen, wie z. B. Einzelhandelsverboten , die sich auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG stützen.22 In der Tendenz stützen diese Entscheidungen eine Auslegung des § 28 Abs. 1 IfSG als weit gefasste Ermächtigungsgrundlage , so insbesondere das Verwaltungsgericht Bremen: Die Behörde „konnte mit § 28 Abs. 1 Satz 1 bzw. 2 IfSG auf eine taugliche Rechtsgrundlage zurückgreifen. […] Die Regelungsmaterie ‚Gefahrenabwehr‘ erfordert einen weiten Gestaltungsspielraum der Verwaltung und eine flexible Handhabung des ordnungsbehördlichen Instrumentariums . Gerade das Recht der Gefahrenabwehr mit seinen von Rechtsprechung und Schrifttum konkretisierten Leitlinien des Opportunitäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips kann deshalb mit sprachlich offen gefassten Ermächtigungen auskommen, die gegebenenfalls verfassungskonform auszulegen und anzuwenden sind. Liegen neue und in dieser Form vom Gesetzgeber nicht bedachte Bedrohungslagen vor, ist daher jedenfalls für eine Übergangszeit der Rückgriff auf die Generalklausel auch dann hinzunehmen, wenn es zu wesentlichen Grundrechtseingriffen kommt […].“23 Der Beschluss des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs zur Schließung von Ladengeschäften weist in die gleiche Richtung: „Der Begriff der ‚Schutzmaßnahmen‘ ist umfassend und eröffnet der Infektionsschutzbehörde ein möglichst breites Spektrum an geeigneten Schutzmaßnahmen, welches durch die Notwendigkeit der Maßnahme im Einzelfall begrenzt wird. […] Die Annahme […], dass § 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 IfSG im Verhältnis der Spezialität stehen, lässt sich weder mit der aktuellen Gesetzesfassung vereinbaren, weil nunmehr auch in § 28 Abs. 1 Satz 1 2. H[alb]s[atz] IfSG konkrete Maßnahmen von erheblicher Bedeutung in einer beispielhaften Aufzählung genannt werden, noch dem Wortlaut oder der historischen Auslegung der Norm entnehmen […]. Vielmehr können alle notwendigen Schutzmaßnahmen auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt werden; lediglich beispielhaft werden einige Maßnahmen in Satz 2 IfSG erwähnt, zum einen, weil es sich um besonders bedeutsame Maßnahmen handelt, zum anderen, weil Verstöße gegen die dort genannten Maßnahmen gem. § 73 Abs. 1a Nr. 6 i.V.m. [in Verbindung mit] § 74 IfSG strafbewehrt sind.“24 21 VerfGH München, Entscheidung vom 26. März 2020, Vf.6-VII-20, https://www.gesetze-bayern.de/Content /Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2020-N-4602?hl=true&AspxAutoDetectCookieSupport=1. 22 Siehe nur VG Düsseldorf 7. Kammer, 20. März 2020, 7 L 575/20, juris (Verbot von Zusammenkünften in Spielhallen, Spielbanken und Wettbüros); VG Stuttgart 16. Kammer, 14. März 2020, 16 K 1466/20, juris (Verbot des Spätverkaufs); VG Bayreuth 7. Kammer, 11. März 2020, B 7 S 20.223, juris (Schulbesuch). 23 VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020, 5 V 553/20, juris, Rn. 29 und 32 (Hervorhebung durch Autor). 24 VerfGH München, Beschluss vom 30. März 2020, 20 CS 20.611, beck online, Rn. 11, 16 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 086/20 Seite 9 3. § 28 IfSG neue Fassung Die seit dem 28. März 2020 geltende Fassung des § 28 Abs. 1 lautet: „Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden. Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt.“ Im Vergleich zu der bis 27. März 2020 geltenden Fassung ergeben sich folgende Änderungen (Streichungen gestrichen, Verschiebungen kursiv und doppelt unterstrichen, Einfügungen einfach unterstrichen): Alte Fassung Neue Fassung (1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen; sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind. (1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 086/20 Seite 10 Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden. Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes ), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden. Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes ), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt. Aus den Änderungen des Gesetzestextes ließen sich folgende Punkte anführen, um § 28 Abs. 1 IfSG (neue Fassung) als Rechtsgrundlage für Ausgangsbeschränkungen heranzuziehen: – § 28 Abs. 1 IfSG präzisiert das Betretungsverbot und bezieht nunmehr „öffentliche Orte“ mit ein. In der Praxis sind diese aber im Kern Bezugspunkt der aktuellen Ausgangsbeschränkungen .25 – § 28 Abs. 1 IfSG erweitert das Verbot, seinen Ort zu verlassen, um die Möglichkeit der Auflage „nur unter bestimmten Bedingungen“. In der Praxis sind solche Bestimmungen im Kern Bezugspunkt der aktuellen Ausgangsbeschränkungen.26 – Die Beschränkungen in § 28 Abs. 1 IfSG a. F. auf Ansammlungen „einer größeren Anzahl“ von Menschen ist entfallen. Kleine Ansammlungen von zwei Personen sind in der Praxis aber regelmäßig Bezugspunkt aktueller Ausgangsbeschränkungen.27 – Der Vorbehalt „bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“ entfällt. Damit beschränkt sich Satz 2 des § 28 Abs. 1 IfSG nicht mehr auf Sachverhalte, in denen eine konkrete Gefahrenquelle zu beseitigen ist (siehe oben Abschnitt 2.1). – Das für Ausgangsbeschränkungen einschlägige Grundrecht der Freizügigkeit erwähnt § 28 Abs. 1 IfSG nunmehr. 25 Siehe z. B. die SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin, https://www.berlin .de/corona/massnahmen/verordnung/#headline_1_10, § 1 Veranstaltungen, Versammlungen, Zusammenkünfte und Ansammlungen, § 14 Kontaktbeschränkungen im Stadtgebiet von Berlin. 26 Fn. 25. 27 Fn. 25. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 086/20 Seite 11 – Das Gesetzgebungsverfahren fand während einer intensiven öffentlichen Diskussion um Ausgangssperren statt. Daher ließe sich argumentieren, dass der Gesetzgeber vorgenannte Punkte bewusst ergänzt hat, um § 28 Abs. 1 IfSG als Rechtsgrundlage für Ausgangsbeschränkungen zu stärken. Lediglich die Gesetzesbegründung könnte möglicherweise als Argument dienen, dass sich die Änderung des § 28 Abs. 1 IfSG nicht auf die Zulässigkeit von Ausgangssperren auswirkt. Zu den gesamten Änderungen von § 28 heißt es lapidar: „Der Wortlaut des § 28 Absatz 1 wurde aus Gründen der Normenklarheit angepasst.“28 Es stellt sich die Frage, wieso die Gesetzesbegründung zu diesem grundrechtsintensiven Streitpunkt keine Stellung bezieht. Unterstellt man aber, dass der Gesetzgeber sich die zum Zeitpunkt der Gesetzgebung bereits bestehende Rechtsprechung29 zu Eigen gemacht hat, wonach § 28 Abs. 1 IfSG (alte Fassung) bereits eine taugliche Rechtsgrundlage für Ausgangssperren ist, bestünde insoweit eben nur Bedarf zu einer „Normenklarheit“. In diese Richtung weist wohl die folgende, nach der Änderung des § 28 IfSG getroffene Feststellung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs: „Für einen Verstoß des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gegen den Parlamentsvorbehalt (‚Wesentlichkeitstheorie ‘) […] bestehen angesichts des aktuellen Tätigwerdens des Bundesgesetzgebers keine Bedenken.“30 *** 28 BT-Drs. 19/18111, S. 25. 29 Siehe oben Fn. 20. 30 VerfGH München, Beschluss vom 30. März 2020, 20 CS 20.611, beck online, Rn. 17.