© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 084/20 Virtuelles Parlament Verfassungsrechtliche Bewertung und mögliche Grundgesetzänderung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 084/20 Seite 2 Virtuelles Parlament Verfassungsrechtliche Bewertung und mögliche Grundgesetzänderung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 084/20 Abschluss der Arbeit: 31. März 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 084/20 Seite 3 1. Einleitung Vor dem Hintergrund der derzeit als hoch eingestuften Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus wurde um Prüfung gebeten, ob Sitzungen des Bundestages nach dem geltenden Verfassungsrecht auch mittels Video- und Audioübertragung virtuell durchgeführt werden könnten. Es sollen auch Möglichkeiten für eine entsprechende Verfassungsänderung aufgezeigt werden. 2. Aktuelle Rechtslage nach dem Grundgesetz Der Wortlaut der für den Bundestag zentralen Bestimmungen des Grundgesetzes (GG) deutet auf die Notwendigkeit einer körperlichen Anwesenheit der Mitglieder und sonstigen Beteiligten beim Zusammentritt und in Sitzungen des Bundestages hin: Art. 39 Abs. 1 und Abs. 2 GG spricht vom (konstituierenden) Zusammentritt des Bundestages; Absatz 3 regelt Beginn, Schluss und Einberufung seiner Sitzungen. Nach Art. 42 Abs. 1 GG verhandelt der Bundestag öffentlich. Der Bundestag und seine Ausschüsse können nach Art. 43 Abs. 1 GG die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen. Die Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihre Beauftragten haben zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse Zutritt, Art. 43 Abs. 2 S. 1 GG. Die Kommentarliteratur zum Grundgesetz geht bislang einhellig von einer körperlichen Anwesenheit der Abgeordneten beim Zusammentritt des Bundestages und seinen Sitzungen aus.1 Dies wird von der herrschenden Meinung auch hinsichtlich des Rederechts sowie der Stimmabgabe der Abgeordneten für erforderlich gehalten.2 Der abstimmende Abgeordnete müsse wegen des allgemeinen Gebots der Publizität der Abstimmungen bei allen Abstimmungen im Plenarsaal anwesend sein.3 Für die Anwesenheit von Mitgliedern der Bundesregierung gemäß Art. 43 Abs. 1 GG wird im Ausnahmefall vereinzelt eine Videoübertragung als ausreichend erachtet,4 wenn alle Beteiligten zustimmen.5 In einem solchen Fall müssen die Mitglieder des Bundestages gleichwohl körperlich anwesend sein. In der Literatur wird geäußert, dass eine rein virtuelle Anwesenheit hinter den Kommunikationsmöglichkeiten bei tatsächlicher Präsenz zurückstehe6 und daher für das Parlament ohnehin ausscheide.7 Anders ist die Situation auf Seiten der Exekutive: Sie kann Beratungen mittels Video- 1 Vgl. statt vieler Brocker, in: BeckOK GG, 42. Edition 1. Dezember 2019, Art. 42 Rn. 2 (m.w.N.) und Magiera, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 43 Rn. 5 (m.w.N.). 2 Butzer, in BeckOK GG, 42. Ed. 1. Dezember 2019, Art. 38 Rn. 139 ff.; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke, GG, 14. Auflage 2018, Art. 38 Rn. 82 ff. 3 Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 14. Auflage 2018, Art. 42 Rn. 18. 4 Morlok, in: Dreier GG, 3. Auflage 2015, GG Art. 43 Rn. 14. 5 Schliesky, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 43 Rn. 22. 6 Schliesky, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 43 Rn. 22; in dieser Richtung auch Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 88. EL August 2019, Art. 42 Rn. 14c. 7 Schönberger, C., Vom Verschwinden der Anwesenheit in der Demokratie, JZ 2016, 486, 491. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 084/20 Seite 4 und Audioübertragung durchführen, falls nicht eine mündliche Beratung einer Angelegenheit ohnehin entbehrlich ist. Ihr steht grundsätzlich die Möglichkeit offen, im Umlaufverfahren abzustimmen (siehe z. B. § 20 GO-BReg). Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT) geht traditionsgemäß davon aus, dass Abgeordnete im Plenarsaal anwesend sind. Zum Beispiel sprechen die Redner gemäß § 34 GO-BT vom Saalmikrophon oder vom Rednerpult aus. 3. Rechtsvergleichung Die Rechtslage in den Bundesländern entspricht der Lage im Bund. Art. 6 Abs. 1 S. 1 des Direktwahlakts für die Europawahl bestimmt ausdrücklich, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments „ihre Stimme einzeln und persönlich“ abgeben. Nach Art. 187 Nr. 3 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments8 erfolgt die Abstimmung in der Regel durch Handzeichen. Entscheidet der Präsident, dass das Ergebnis einer Abstimmung durch Handzeichen unklar ist, wird elektronisch und im Falle einer Störung der Abstimmungsanlage durch Aufstehen oder Sitzenbleiben abgestimmt (Art. 187 Nr. 4 GO-EP). Die Neuerungen des Europäischen Parlaments, schriftliche Abstimmungen per E-Mail einzuführen,9 dürften damit nicht vereinbar sein. 4. Mögliche Verfassungsänderung Eine Verfassungsänderung wäre an Art. 79 Abs. 3 GG zu messen. Die Einführung neuer Arten der Durchführung der Sitzungen des Bundestages berührt insbesondere den Öffentlichkeitsgrundsatz als wesentliches Element des demokratischen Parlamentarismus10 sowie den Grundsatz der repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 GG). 4.1. Änderungsvorschlag Unterstellt man deren Wahrung, käme folgende Ergänzung von Art. 39 Abs. 3 GG in Betracht: Satz 1: Der Bundestag bestimmt den Schluss, den Wiederbeginn und die Art der Durchführung seiner Sitzungen. Satz 2: Der Präsident des Bundestages kann ihn früher einberufen und ausnahmsweise die Art der Durchführung der Sitzung bestimmen. Satz 3: Er ist zur Einberufung verpflichtet, wenn ein Drittel der Mitglieder, der Bundespräsident oder der Bundeskanzler es verlangen. 8 9. Wahlperiode, Stand: Dezember 2019. 9 Näher Parlamentarischer Beratungsdienst, Landtag Brandenburg, Parlament und Pandemie, 26. März 2020, S. 5; FAZ, 26. März 2020, S. 4; SZ, 25. März 2020, S. 16. 10 BVerfGE 40, 237, 249. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 084/20 Seite 5 4.2. Begründung Der Bundestag entscheidet nach dem neugefassten Satz 1 künftig auch über die Art der Durchführung seiner Sitzungen. Im Regelfall finden Sitzungen des Bundestages unter Anwesenheit seiner Mitglieder statt. Ist dies nicht möglich, kommt auch eine Teilnahme der Mitglieder des Bundestages im Wege der zeitgleichen Bild- und Tonübertragung in Betracht. Die Rechtsordnung lässt es bereits zu, dass Beteiligte oder Zeugen, die sich an einem anderen Ort befinden, an Gerichtsverhandlungen mittels zeitgleicher Bild- und Tonübertragung teilnehmen (u.a. § 247a Strafprozessordnung, § 102a Verwaltungsgerichtsordnung, § 128a Zivilprozessordnung). Die neueingefügte Variante in Satz 2 berechtigt den Präsidenten, ausnahmsweise die Art der Durchführung der Sitzung zu bestimmen. So kann es notfalls geboten sein, eine Teilnahme der Mitglieder mittels zeitgleicher Bild- und Tonübertragung zuzulassen, um die Sitzung auch ohne ihre Anwesenheit durchführen zu können. Wegen der Ergänzung des Satzes 2 um eine Variante muss die Bezugnahme in Satz 3 („hierzu“) neugefasst werden, damit sich diese weiterhin auf die Einberufung bezieht. Konsequenz einer solchen Änderung wäre, dass die GO-BT angepasst werden muss. ***