© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 083/21 Verfassungsrechtliche Bewertung der neuen Infektionsschutzgesetzgebung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21 Seite 2 Verfassungsrechtliche Bewertung der neuen Infektionsschutzgesetzgebung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 083/21 Abschluss der Arbeit: 15. April 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Ergebnis 4 2. Bewertungsgrundlage 4 3. Zulässigkeit des Abstellens allein auf den Inzidenzwert (§ 28 Abs. 1 IfSG-E) 5 3.1. Kritik in Rechtsprechung und Literatur 5 3.2. Bewertung 7 4. Ausgangsbeschränkung (§ 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG-E) 7 4.1. Verhältnismäßigkeit 7 4.2. Bewertung 11 5. Geimpfte 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21 Seite 4 Der „Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“1 (IfSG-E) sieht zum Teil gravierende Grundrechtseinschränkungen zum Zweck der Pandemiebekämpfung auf bundesgesetzlicher Basis vor.2 1. Ergebnis Die Bewertung des Gesetzentwurfs hat ergeben: – Der Gesetzgeber hat in der vorliegenden Krisensituation die Pflicht, zum Schutz der Bevölkerung tätig zu werden. Dabei hat er einen großzügig zu bemessenden Gestaltungsspielraum. – Die Geltung von insgesamt 10 eingriffsintensiven Maßnahmen ist davon abhängig, ob die Sieben-Tage-Inzidenz auf über 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner steigt. Vergleichbare landesrechtliche Regelungen hat die Rechtsprechung bereits öfter kritisiert. Problematisiert wird die Verhältnismäßigkeit und die Frage, ob andere für das Infektionsgeschehen relevante Umstände einzubeziehen seien. Diese Kritikpunkte haben Gewicht. – Die Ausgangsbeschränkung in der Nacht ist kritisch zu bewerten. Ob sie einer abschließenden verfassungsgerichtlichen Prüfung standhielte, dürfte zweifelhaft sein. – Notwendige Ausnahmen für Geimpfte fehlen und müssten ergänzt werden. 2. Bewertungsgrundlage Eine solche Krisengesetzgebung bedeutet für den Gesetzgeber, dass er bei mehr oder minder unklarer Faktenlage unter hohem Zeitdruck schwierigste Grundrechtsabwägungen und Verhältnismäßigkeitsprüfungen durchzuführen hat. Aufgrund seiner Schutzpflicht für die Bevölkerung muss er tätig werden. Der Gesetzgeber bräche die Verfassung, wenn er keine Regelungen schüfe. Der ohnehin bestehende Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist in einer solchen Situation erheblich vergrößert. Bei der Bewertung seiner Entscheidungen ist deshalb ein großzügiger Maßstab anzulegen. Plakativ gesagt, wird man dem Gesetzgeber ein „Recht auf Irrtum“ zubilligen müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat schon in einer frühen Entscheidung, in der es um die Einschränkung von Freiheitsrechten zur Bewältigung künftiger Krisensituationen ging, ausgeführt: Die Verfassung billige dem Gesetzgeber „einen Beurteilungsspielraum zu, den er nur dann überschreitet, wenn seine Erwägungen so offensichtlich fehlsam sind, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben können.“3 Speziell auf Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung hat das Gericht jüngst dargelegt: „Wenn wie hier die Freiheits- und Schutzbedarfe der verschiedenen Grundrechtsträger in unterschiedliche Richtung weisen, haben der Gesetzgeber und 1 BT-Drs. 19/28444. 2 Dazu bereits näher Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 080/21, Rechtliche Würdigung der geplanten Änderungen des Infektionsschutzgesetzes, vom 13. April 2021. 3 BVerfGE 30, S. 292, 317. Ähnlich BVerfGE 129, S. 124, 153 f., 182. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21 Seite 5 auch die von ihm zum Verordnungserlass ermächtigte Exekutive nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG von Verfassungs wegen einen Spielraum für den Ausgleich dieser widerstreitenden Grundrechte. Im vorliegenden Fall besteht dabei wegen der im fachwissenschaftlichen Diskurs auftretenden Ungewissheiten und der damit unsicheren Entscheidungsgrundlage auch ein tatsächlicher Einschätzungsspielraum.“4 Ähnlich argumentiert der Bayerische Verwaltungsgerichtshof: „In einer durch zahlreiche Unsicherheiten und sich ständig weiterentwickelnde fachliche Erkenntnisse geprägten epidemischen Lage wie der vorliegenden ist dem Verordnungsgeber jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt der Entwicklung eine Einschätzungsprärogative im Hinblick auf das gewählte Mittel einzuräumen, soweit und solange sich nicht andere Maßnahmen eindeutig als gleich geeignet und weniger belastend darstellen.“5 3. Zulässigkeit des Abstellens allein auf den Inzidenzwert (§ 28 Abs. 1 IfSG-E) § 28b Abs. 1 IfSG-E sieht vor, dass wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Inzidenz im Sinne von § 28a Abs. 3 S. 13 den Schwellenwert von 100 überschreitet, die dort genannten Maßnahmen ab dem übernächsten Tag gelten. Eine aussagekräftige Begründung dafür, warum nur dieser Wert genannt wird, enthält der Gesetzentwurf nicht. 3.1. Kritik in Rechtsprechung und Literatur In der Rechtsprechung wurde das alleinige Abstellen auf Inzidenzwerte als Voraussetzung von Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie bereits öfter kritisiert.6 Insbesondere äußerten Gerichte Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Erstreckung von Schutzmaßnahmen auf ein größeres Gebiet (Bundesland, Kreis etc.), wenn dies allein auf den Inzidenzwert in diesem Gesamtgebiet gestützt wurde.7 Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof argumentierte etwa in Bezug auf Beherbergungsverbote , das Infektionsgeschehen auf Kreisebene könne nicht nur regional gleichmäßig verteilt, sondern auch lokalisiert und klar eingrenzbar verlaufen.8 Eine entsprechend detaillierte Erkenntnislage vorausgesetzt, erlaube ein solches lokales Ausbruchsgeschehen gezielte, räumlich beschränkte Eindämmungsmaßnahmen, die das gesamte Kreisgebiet weder betreffen müssten noch – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit – dürften. Daher sei es im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit ausgeschlossen , die Überschreitung des Schwellenwerts auf der jeweiligen Kreisebene in einer Rechtsverordnung als alleiniges Kriterium für die Verhängung eines Beherbergungsverbots auszugestalten. 4 BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 1 BvR 1021/20, Rn. 10 (juris). 5 Bayerischer VGH, Beschluss vom 30. März 2020, 20 NE 20.632, Rn. 60 (juris). 6 Siehe auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 046/21, Zum Inzidenzwert als Grundlage für Maßnahmen zur Abwehr der Corona-Pandemie, vom 19. März 2021. 7 OVG Münster, Beschluss vom 6. Juli 2020, Az. 13 B 940/20.NE, Rn. 62 (juris); VGH München, Beschluss vom 28. Juli 2020, Az. 20 NE 20.1609, Rn. 45 (juris); VGH München, Beschluss vom 29. Oktober 2020, Az. 20 NE 20.2360, Rn. 31 (juris); OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. Oktober 2020, Az. 13 MN 371/20, Rn. 59 (juris); OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. Oktober 2020, Az. 13 MN 393/20, Rn. 57 (juris); OVG Lüneburg, Beschluss vom 18. Januar 2021, Az. 13 MN 11/21, Rn. 32 (juris); in der Literatur etwa Eibenstein, Persona non grata dank Inzidenzwert, in: COVuR 2020, 688 (690). 8 VGH München, Beschluss vom 28. Juli 2020, Az. 20 NE 20.1609, Rn. 45 (juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21 Seite 6 Jedenfalls sei zusätzlich eine behördliche Feststellung im Einzelfall über die Wahrscheinlichkeit einer flächendeckenden Ausbreitung des jeweiligen Infektionsgeschehens erforderlich, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren. In einer anderen Entscheidung äußerte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung durch Rechtsverordnung, die weitergehende Einschränkungen auf lokaler Ebene alleine an die Überschreitung bestimmter Sieben-Tage-Inzidenzen knüpfte.9 In den betroffenen Landkreisen und kreisfreien Städten sollten in diesem Fall automatisch strengere Regeln in Kraft treten. Das Gericht kritisierte, dass dem In- bzw. Außerkrafttreten bestimmter Maßnahmen damit keine erneute konkrete Gefährdungsbeurteilung des Verordnungsgebers zugrunde liege, sondern nur eine abstrakte – und mangels nachvollziehbarer Herleitung oder Begründung der Grenzwerte zudem fragliche – Gefährdungsbeurteilung, die sich ohne weitere Zwischenschritte oder behördliche Entscheidungen fortlaufend aktualisiere und unmittelbar Rechtsfolgen auslöse. Allgemeiner führte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg in mehreren Beschlüssen aus, es dürften keine unterschiedslos generalisierenden infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen getroffen werden.10 Vielmehr könnten vorhandene oder zumutbar zu ermittelnde tatsächliche Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen in dem betroffenen Gebiet zu einer differenzierten Betrachtung und zu unterschiedlichen infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zwingen, etwa bei klar eingrenzbaren Infektionsvorkommen. Die Erforderlichkeit der Maßnahmen müsse vom Verordnungsgeber nicht nur anhand der Sieben-Tage-Inzidenz beurteilt werden, sondern unter Einbeziehung aller anderen für das Infektionsgeschehen relevanten Umstände.11 Es finden sich vereinzelte Stimmen in der Literatur, die das Abstellen auf den Inzidenzwert grundsätzlich für problematisch halten.12 So wurde etwa die Möglichkeit eines Rückschlusses vom Inzidenzwert auf das tatsächliche Infektionsgeschehen bezweifelt.13 Der Inzidenzwert hänge von der Anzahl durchgeführter Tests nach der Methode der Polymerase-Kettenreaktion (sog. PCR-Tests) ab. Zudem sage ein positiver PCR-Testbefund nichts über die Infektiosität des Getesteten aus. Die Inzidenzwerte seien ungeeignet, die Verhältnismäßigkeitsprüfung sachgerecht zu steuern. Jeden- 9 VGH München, Beschluss vom 29. Oktober 2020, Az. 20 NE 20.2360, Rn. 31 (juris). 10 OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. Oktober 2020, Az. 13 MN 371/20, Rn. 59 (juris); Beschluss vom 29. Oktober 2020, Az. 13 MN 393/20, Rn. 57 (juris); Beschluss vom 18. Januar 2021, Az. 13 MN 11/21, Rn. 32 (juris). 11 OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. Februar 2021, Az. 13 MN 44/21, Rn. 38 (juris); Beschluss vom 26. Februar 2021, Az. 13 MN 63/21, Rn. 32 (juris). 12 Murswiek, Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, in: NVwZ-Extra 5/2021, 1 (2 f.); ähnlich Gall, Stellungname zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 12. November 2020, Ausschussdrucksache 19(14)246(22), S. 3 (abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/806934/44144d5913d0ec2c294a2031b624b7da/19_14_0246-22-_ESV- Tobias-Gall-3-BevSchG-data.pdf (Stand: 19. März 2021). 13 Murswiek, Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, in: NVwZ-Extra 5/2021, 1 (2 f.); siehe dort auch zum Folgenden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21 Seite 7 falls Murswiek scheint aber im Ergebnis nicht davon auszugehen, dass das Kriterium des Inzidenzwertes völlig unzulässig sei. Er kommt vielmehr zu dem Schluss, der Inzidenzwert könne „nur ergänzend neben anderen Kriterien zur Gefahrenprognose mit herangezogen werden“.14 3.2. Bewertung Es gibt eine breite Kritik daran, den Inzidenzwert als alleinigen Umstand für die Auslösung von Infektionsschutzmaßnahmen anzusehen. Wenn geltend gemacht wird, es seien u.a. auch die Belegung der Intensivbetten und die Impfquoten zu berücksichtigen, erscheint das plausibel. Empfehlenswert ist es daher auf jeden Fall, im Gesetzgebungsverfahren sorgfältig zu prüfen, ob und wenn ja, welche weiteren Werte berücksichtigt werden sollten. Nur wenn der Gesetzgeber nach einer solchen Prüfung bei der jetzigen Regelung bleibt, könnte sie Bestand haben. Im Ergebnis ist eine Regelung, die außer auf den Inzidenzwert auf zumindest einen weiteren Wert abstellt, weniger angreifbar. 4. Ausgangsbeschränkung (§ 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG-E) Nach § 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG-E ist von 21 Uhr bis 5 Uhr der Aufenthalt außerhalb einer Wohnung mit wenigen Ausnahmen untersagt. Die Maßnahme müsste verhältnismäßig sein, d. h. einem legitimen Zweck dienen und geeignet, erforderlich und angemessen sein, um diesen Zweck zu erreichen. Sie dient dem legitimen Zweck, die Übertragung des Virus und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. 4.1. Verhältnismäßigkeit Geeignet ist die Maßnahme bereits, wenn der mit ihr verfolgte Zweck zumindest gefördert werden kann. Das VG Hamburg begründet die Geeignetheit der Maßnahme damit, dass die seit dem Frühjahr 2020 in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Staaten und weltweit gesammelten Erfahrungen zeigten, dass insbesondere umfassende Maßnahmen zur Beschränkung von Sozialkontakten zur Eindämmung des Pandemiegeschehens beitrügen.15 Der VGH München geht von einer Geeignetheit einer Ausgangsbeschränkung aus, auch wenn sie während der Nachtzeit nur wenige Menschen betreffe.16 Die Erwartung des Verordnungsgebers, damit vor allem besonders infektionsgefährdende gesellige Zusammenkünfte zu unterbinden, sei insbesondere im Hinblick auf den erheblichen Beitrag privater Feiern zum Infektionsgeschehen in den vergangenen Monaten plausibel. 14 Murswiek, Die Corona-Waage – Kriterien für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Corona-Maßnahmen, in: NVwZ-Extra 5/2021, 1 (2 f.). 15 VG Hamburg, Beschluss vom 2. April 2021, Az. 14 E 1579/21 (juris). 16 VGH München, Beschluss vom 14. Dezember 2020, Az. 20 NE 20.2907, Rn. 40 (juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21 Seite 8 Nach anderer Auffassung ist eine Ausgangssperre für die Erreichung des verfolgten Ziels ungeeignet , soweit verboten wird, sich allein oder mit Haushaltsangehörigen in der Öffentlichkeit aufzuhalten , da ein solcher Aufenthalt im Freien mit keinem relevanten Infektionsrisiko verbunden sei.17 Nach dem OVG Lüneburg wird die Eignung dadurch beeinträchtigt, dass es Personen erlaubt sei, zwischen 22 Uhr und 5 Uhr in einer fremden Wohnung zu verweilen, solange sie diese außerhalb dieses Zeitraums betreten haben.18 Das Verlassen der fremden Wohnung, um nach Hause zu gelangen , dürfte stets einen triftigen Grund für eine Ausnahme von der Ausgangsbeschränkung darstellen .19 Nachvollziehbare Gründe für einen Zwang, sich in dem fremden Haushalt ggf. gegen den Willen des Haushaltsvorstands weiter aufhalten oder gar an andere Orte als in den eigenen Haushalt begeben zu müssen, seien nicht ersichtlich. Weiter könnte die Regelung die Wirkung entfalten, dass sich Personen bei einem Aufenthalt in einer fremden Wohnung nach 21 Uhr aus Angst vor einer Rechtsüberschreitung dazu entschließen, in der fremden Wohnung zu übernachten. Dies würde den Kontakt verlängern und damit Zweifel hinsichtlich der Förderung des Infektionsschutzes aufwerfen .20 Schließlich wird befürchtet, dass Aktivitäten wie Joggen und Einkaufen auf die Zeit vor 21 Uhr vorverlegt werden, was zu größeren Menschenansammlungen und vermehrten Kontakten in der Öffentlichkeit führen könnte.21 Weiter muss die Regelung erforderlich sein. Dies ist der Fall, wenn keine milderen, gleich geeigneten Maßnahmen dem Gesetzgeber zur Verfügung stehen.22 Nach dem VGH Baden-Württemberg sind Ausgangsbeschränkungen aufgrund der großen Eingriffsintensität nicht bereits dann zulässig, wenn ihr Unterlassen zu irgendwelchen Nachteilen in der Pandemiebekämpfung führt. Dies komme nur dann in Betracht, wenn der Verzicht auf Ausgangsbeschränkungen auch unter Berücksichtigung aller anderen ergriffenen Maßnahmen und ausgehend von dem konkreten und aktuellen Pandemiegeschehen zu einer wesentlichen, im Umfang der Gefahrenrealisierung gewichtigen Verschlechterung des Infektionsgeschehens führen würde.23 Dies müsse der Verordnungsgeber ausgehend von einer auf den aktuellen Erkenntnissen beruhenden , nachvollziehbaren ex-ante-Prognose substantiiert darlegen. Die Maßnahme der Ausgangsbeschränkung stelle somit eine „ultima ratio“ dar.24 17 OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2021, Az. 13 ME 166/21, Rn. 20 (juris) sowie Kießling, NJW 2021, 178 (183). 18 OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2021, Az. 13 ME 166/21, Rn. 22 (juris). 19 Siehe OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2021, Az. 13 ME 166/21, Rn. 22 (juris). 20 So auch Schmitt, Wen soll das schützen? Die landesweiten Ausgangsverbote sind verfassungswidrig vom 18. Dezember 2020, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/wen-soll-das-schutzen/ (Letzter Abruf: 13. April 2021). 21 Vgl. Kießling, NJW 2021, 178 (183). 22 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 92. EL August 2020, Art. 20 Rn. 113. 23 VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 5. Februar 2021, Az. 1 S 321/21, Rn. 37 f. (juris). 24 VG Frankfurt, Beschluss vom 9. April 2021, Az. 5 L 919/21 (juris); OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2021, Az. 13 ME 166/21, Rn. 28 (juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21 Seite 9 Dass Ausgangsbeschränkungen zur Vermeidung von Zufallskontakten mit haushaltsfremden Personen in der Öffentlichkeit erforderlich seien, sei sehr zweifelhaft.25 Nach Auffassung des OVG Lüneburg seien solche Zufallskontakte angesichts deren Singularität und des damit allenfalls verbundenen sehr geringen Infektionsrisikos zu vernachlässigen. Auch sei es zweifelhaft, dass die Maßnahme erforderlich sei, geplante Zusammenkünfte in der Öffentlichkeit oder in Innenräumen zu verhindern. Als mildere Mittel kämen unter anderem Kontaktbeschränkungen26, Betretungsverbote von beliebten Treffpunkten in der Öffentlichkeit27 sowie eine stärkere Durchsetzung der bereits geltenden Maßnahmen28 in Betracht. Falls die bereits getroffenen Maßnahmen nicht zur Pandemiebekämpfung ausreichten, müsse nachvollziehbar aufgezeigt werden, dass und in welchem Umfang bisher Bemühungen unternommen worden seien, eine unzureichende Einhaltung durch staatliche Kontrolle und staatliches Eingreifen zu verbessern, und dass auch gesteigerte Bemühungen von vorneherein erfolglos bleiben würden.29 Auch müsse belegt werden, in welchem Umfang regelwidrige nächtliche Zusammenkünfte im privaten Raum tatsächlich stattfänden. Nicht nachprüfbare Behauptungen reichten zur Rechtfertigung einer derart einschränkenden und weitreichenden Maßnahme wie einer Ausgangssperre nicht aus. Nach mehr als einem Jahr Dauer des Pandemiegeschehens bestehe die begründete Erwartung nach weitergehender wissenschaftlicher Durchdringung der Infektionswege. Darüber hinaus wird angeführt, dass sehr eingriffsintensive Maßnahmen wie eine Ausgangsbeschränkung zeitlich befristet sein müssen.30 Spätestens nach drei Wochen wäre eine faktenbasierte Bewertung von Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahmen möglich. Eine Befristung über dieses Datum könne von der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers schlicht nicht gedeckt sein. Auf der anderen Seite wird vertreten, dass eine Ausgangsbeschränkung auch im innerhäuslichen Bereich Sozialkontakte stärker verringern und die Verbreitung des Coronavirus wirksamer eindämmen dürfte als die anderen Maßnahmen allein.31 Nach dem VGH München konnten die bisher 25 Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2021, Az. 13 ME 166/21, Rn. 26 (juris). 26 Guckelberger, Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote anlässlich der Corona-Pandemie, NVwZ – Extra 9a/2020, 1, 11. 27 OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2021, Az. 13 ME 166/21, Rn. 32 (juris). 28 Edenharter, Nächtliche Ausgangssperre in Bayern auch an Heiligabend – Wo bleibt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ? vom 20. Dezember 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/nachtliche-ausgangssperre-inbayern -auch-an-heiligabend/ (Letzter Abruf: 13 April 2021). 29 OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2021, Az. 13 ME 166/21, Rn. 30 f. (juris); VG Frankfurt, Beschluss vom 9. April 2021, Az. 5 L 919/21 (juris). 30 Schmitt, Die Verfassungswidrigkeit der landesweiten Ausgangsverbote, NJW 2020, 1626. 31 Guckelberger, Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote anlässlich der Corona-Pandemie, NVwZ – Extra 9a/ 2020, 1, 11; VGH München- Beschluss vom 14. Dezember 2020, Az. 20 NE 20.2907, Rn. 35 f. (juris); VG Hamburg, Beschluss vom 2. April 2021, Az. 14 E 1579/21 (juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21 Seite 10 geltenden Kontaktbeschränkungen in Bayern keine Reduzierung der Neuansteckungen mit dem neuartigen Coronavirus in der Bevölkerung erreichen, sodass die Ausgangssperre erforderlich sei.32 Schließlich ist fraglich, ob eine Ausgangsbeschränkung angemessen wäre. Bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und der ihn rechtfertigenden Gründe müsste die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt sein.33 Es wären wohl folgende Grundrechte betroffen: Die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, die körperliche Fortbewegungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG, das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und der Schutz der Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG.34 Das OVG Lüneburg, das Verwaltungsgericht (VG) Frankfurt, das VG Bremen sowie einige Stimmen aus der Literatur35 gehen von einer Unangemessenheit der Maßnahme aus. Nach dem OVG Lüneburg sei eine signifikante Verbesserung der Zielerreichung durch die Ausgangsbeschränkung angesichts der aufgezeigten Eignungs- und Erforderlichkeitsdefizite kaum zu erwarten.36 Die Maßnahme sei jedenfalls solange unangemessen, wie von den zur Durchsetzung berufenen Behörden nicht alles Mögliche und Zumutbare unternommen wurde, um die Befolgung anderer Schutzmaßnahmen sicherzustellen. Weiter sei die freiheitsbeschränkende Wirkung ganz erheblich, denn den betroffenen Personen wird für einen mehrstündigen Zeitraum an jedem Tag das Verlassen der eigenen Wohnung ohne triftigen Grund untersagt.37 Das VG Bremen hat entschieden, dass die Ausgangssperre nur insoweit unverhältnismäßig sei, als sie einen Zeitraum von 20 Tagen umfasse. Bei Erlass der Ausgangssperre durfte der Verordnungsgeber lediglich eine Geltungsdauer von ca. zwei Wochen für erforderlich halten, damit diese ihre Wirkung entfalte, aber auch um zu überprüfen, ob sie Wirkungen entfaltet hat und ob die Voraussetzungen für eine Verlängerung weiterhin gegeben seien.38 Weitere Gerichte halten in Anbetracht 32 VGH München- Beschluss vom 14. Dezember 2020, Az. 20 NE 20.2907, Rn. 37 (juris). 33 Vgl. BVerfGE 113, 167 (260). 34 Vgl. Schmitt, Die Verfassungswidrigkeit der landesweiten Ausgangsverbote, NJW 2020, 1626; Edenharter, Nächtliche Ausgangssperre in Bayern auch an Heiligabend vom 20. Dezember 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog .de/nachtliche-ausgangssperre-in-bayern-auch-an-heiligabend/, (Letzter Abruf: 15. April 2021). 35 OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2021, Az. 13 ME 166/21, Rn. 30 f. (juris); VG Frankfurt, Beschluss vom 9. April 2021, Az. 5 L 919/21 (juris); VG Bremen, Beschluss vom 9. April 2021, Az. 5 V 652/21 (juris); Kießling, NJW 2021, 178 (182); Schmitt, Die Verfassungswidrigkeit der landesweiten Ausgangsverbote, NJW 2020, 1626; Edenharter, Nächtliche Ausgangssperre in Bayern auch an Heiligabend vom 20. Dezember 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/nachtliche-ausgangssperre-in-bayern-auch-an-heiligabend/, (Letzter Abruf: 15. April 2021). 36 OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2021, Az. 13 ME 166/21, Rn. 36 f. (juris). 37 OVG Lüneburg, Beschluss vom 7. April 2021, Az. 13 ME 166/21, Rn. 34 (juris). 38 VG Bremen, Beschluss vom 9. April 2021, Az. 5 V 652/21 (juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21 Seite 11 des Infektionsgeschehens und der Erforderlichkeit weiterer Maßnahmen die Ausgangsbeschränkungen für angemessen.39 Nach dem VGH München überwiegen in Gebieten mit einer Sieben-Tage- Inzidenz von über 200 die öffentlichen Interessen an einer Eindämmung des dortigen drastischen Infektionsgeschehens, um Gefahren für Leib und Leben der Bevölkerung abzuwenden. Weiter habe der Verordnungsgeber auch soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen auf den Einzelnen und die Allgemeinheit einbezogen und berücksichtigt.40 Dies sei schon aus den beschlossenen Ausnahmetatbeständen ersichtlich. Daher seien Ausgangsbeschränkungen angemessen. Es ist jedoch fraglich, ob diese Wertung auch für Gebiete mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 gelten würde, was der § 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG-E vorsieht. 4.2. Bewertung Insbesondere für die Geeignetheit und Erforderlichkeit gilt grundsätzlich der Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers. Für die Einhaltung des Beurteilungsspielraums spricht in diesem Fall: Insgesamt ist weiterhin umstritten, in welchem Maße die Ausgangssperre wirksam ist. Es ist ebenfalls umstritten , ob andere Maßnahmen gleich wirksam sind, oder weniger einschneidend. Dem Gesetzgeber ist es grundsätzlich nicht anzulasten, dass bei dieser sich ständig veränderten Situation mit unterschiedlichsten Einflussfaktoren noch keine eindeutigen wissenschaftlichen Aussagen vorliegen. Insoweit ließe sich eine befristete Ausgangssperre auch im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit begründen. Auf der Stufe der Angemessenheit wirken sich die genannten Bedenken gegen den Inzidenzwert von 100 als Tatbestand der Maßnahme aus. Auf der einen Seite bestehen Bedenken, dass mit dem Inzidenzwert von 100 noch kein hinreichend gewichtiger Tatbestand begründet ist. Auf der anderen Seite ist die Ausgangssperre ein erheblicher Grundrechtseingriff. Der im IfSG-E genannte Schwellenwert dürfte insoweit zu niedrig angesetzt sein. 5. Geimpfte Soweit öffentliche Äußerungen zu diesem Thema vorliegen, vertreten Verfassungsrechtler ganz überwiegend (falls nicht sogar einhellig) die Auffassung, dass Grundrechtseingriffe für Geimpfte grundsätzlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. Insbesondere sind Gedanken der allgemeinen Solidarität oder die Gefahr einer „Unruhe“ unter den Nicht-Geimpften keine Verfassungsgüter, die sich mit Grundrechten der Geimpften abwägen lassen oder diese überwiegen. Der Gesetzgeber müsste daher grundsätzlich Ausnahmen vorsehen. Lediglich in Einzelfällen, bei übermäßigem organisatorischem Aufwand für eine „Sonderbehandlung“ für Geimpfte, z. B. im täglichen Personennahverkehr , ließe sich daran denken, von Ausnahmen für Geimpfte abzusehen. *** 39 VG Hamburg, Beschluss vom 2. April 2021, Az. 14 E 1579/21 (juris); VGH München, Beschluss vom 14. Dezember 2020, Az. 20 NE 20.2907 (juris); Bayerischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 30. Dezember 2020, Az. Vf. 96-VII-20 (juris). 40 VGH München, Beschluss vom 14. Dezember 2020, Az. 20 NE 20.2907, Rn. 38, 41 f. (juris).