© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 082/18 Zum Kriterium der Anerkennungsquote bei der Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Der Individualanspruch auf Einzelfallprüfung bleibt unberührt.“1 Vor diesem Hintergrund werden Fragen zur verfassungsrechtlichen Einordnung des Kriteriums der Anerkennungsquote bei der Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten gemäß Art. 16a Abs. 3 GG gestellt.2 Konkret geht es darum, welche Bedeutung dem Kriterium der Anerkennungsquote zukommt, ob es einer Bereinigung der Anerkennungsquote um die bloß formellen Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bedarf, und ab welcher Höhe der Anerkennungsquote die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat (noch) verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. 2. Vermutung der Verfolgungssicherheit Nach Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG können Staaten bestimmt werden, bei denen aufgrund der Rechtslage , der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Ziel der Festlegung sicherer Herkunftsstaaten ist die Entlastung von Behörden und Gerichten durch die Beschleunigung von solchen Asylverfahren, die die Annahme begründen, dass sie in der Regel aussichtslos sind. Eine Widerlegung der Verfolgungssicherheit im Einzelfall bleibt aber nach Art. 16a Abs. 3 S. 2 GG ausdrücklich möglich. Die Bestimmung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten erfolgt nach Art. 16a Abs. 3 GG durch Gesetz. Der insoweit „feststellende“ oder „subsumierende“ Gesetzgeber hat nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestimmte Sorgfaltspflichten zu beachten.3 Diese Sorgfaltspflichten beziehen sich sowohl auf die Beschaffung und Aufbereitung der für die Einschätzung der Verfolgungssicherheit relevanten Tatsachen als auch auf die Einschätzung der Verfolgungssicherheit . Die gesetzgeberische Beurteilung der Verfolgungssicherheit muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „so beschaffen sein, dass sich die Zurückweisung von 1 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 12. März 2018, Ein neuer Aufbruch für Europa – Eine neue Dynamik für Deutschland – Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, abrufbar unter: https://www.cdu.de/system /tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf?file=1, Zeilen 5057 ff. 2 Von den verfassungsrechtlichen Anforderungen gemäß Art. 16a Abs. 3 GG zu unterscheiden sind die unionsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten gemäß Art. 37 Richtlinie 2013/32/EU. 3 BVerfGE 94, 115, 143 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 082/18 Seite 4 Asylanträgen als offensichtlich unbegründet […] mit guten Gründen auf sie stützen kann“.4 Dieser Sorgfaltsmaßstab führt aber nicht zu einer strengen verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Vielmehr gesteht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Erhebung und Aufbereitung der Tatsachen einen Entscheidungsspielraum5 und bei deren Bewertung einen Einschätzungs- und Wertungsspielraum zu.6 Dies führt im Ergebnis zu einer bloß eingeschränkten Vertretbarkeitskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht.7 3. Bedeutung der Anerkennungsquote Die bei der Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten maßgeblichen Prüfkriterien sind gemäß Art. 16a Abs. 3 GG die Rechtslage, die Rechtsanwendung und die allgemeinen politischen Verhältnisse. Die Anerkennungsquote, die sich aus dem Verhältnis der positiven Asylentscheidungen zur Gesamtzahl der Asylentscheidungen in Bezug auf den betroffenen Staat und für einen bestimmten Zeitraum ergibt,8 ist kein ausdrückliches Prüfkriterium im Sinne von Art. 16a Abs. 3 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat die Anerkennungsquote gleichwohl als einen berücksichtigungsfähigen Umstand bei der Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten anerkannt.9 Aus den in Art. 16a Abs. 3 GG genannten Prüfkriterien lasse sich „kein starrer, in jedem Gesetzgebungsverfahren gleichermaßen von Verfassungs wegen zu beachtender, etwa enumerativ darstellbarer Katalog von zu prüfenden Umständen ableiten“.10 Die Aufgabe des Gesetzgebers besteht vielmehr darin, „sich anhand der von Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG vorgegebenen Prüfkriterien aus 4 BVerfGE 94, 115, 143, Hervorhebung nicht im Original. 5 BVerfGE 94, 115, 143: „Dabei [erg. bei der Erhebung und Aufbereitung von Tatsachen] kommt dem Gesetzgeber, insbesondere hinsichtlich der dafür zu beschreitenden Wege, ein Entscheidungsspielraum zu.“ 6 BVerfGE 94, 115, 143 f.: „Beurteilt der Gesetzgeber, ob nach den ermittelten tatsächlichen Verhältnissen in einem Staat gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet, und trifft er eine Prognose über die weitere Entwicklung in dem Staat innerhalb eines überschaubaren Zeitraums, so hat er einen Einschätzungs- und Wertungsspielraum. Dieser Einschätzungs- und Wertungsspielraum gilt auch für die Frage, welche der erhobenen Tatsachen mit welchem Gewicht für die zu treffende Entscheidung von Bedeutung sind […].“ 7 Kritisch dazu das Sondervotum der Richterin Limbach zu BVerfGE 94, 115,157, 159; Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht (2. Aufl., 2016), Rn. 33 zu Art. 16a GG: „Damit dürften Angriffen auf eine einfachgesetzliche Bestimmung eines sicheren Herkunftsstaates vor dem BVerfG kaum Erfolgsaussichten beschieden sein.“ 8 Vgl. zur Berechnung der Gesamtschutzquote Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Das deutsche Asylverfahren - ausführlich erklärt, abrufbar unter: https://www.sachsen.de/assets/Das_deutsche_Asylverfahren_ausfuehrlich _erklaert_Broschuere_BAMF(1).pdf, S. 37: „Die Gesamtschutzquote berechnet sich aus der Anzahl der Asylanerkennungen, der Gewährungen von Flüchtlingsschutz und der Zuerkennung von subsidiärem Schutz sowie der Feststellungen eines Abschiebungsverbotes bezogen auf die Gesamtzahl der Entscheidungen im betreffenden Zeitraum.“ 9 BVerfGE 94, 115, 139. 10 BVerfGE 94, 115, 139. Zur Breite der berücksichtigungsfähigen Umstände siehe auch Randelzhofer, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz (Stand: Februar 1999), Rn. 122 zu Art. 16a Abs. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 082/18 Seite 5 einer Vielzahl von einzelnen Faktoren ein Gesamturteil über die für politische Verfolgung bedeutsamen Verhältnisse in dem jeweiligen Staat zu bilden“.11 Zu beachten ist aber, dass das Bundesverfassungsgericht der Anerkennungsquote dabei nur eine untergeordnete Bedeutung zumisst. Ihre Bedeutung beschränkt sich danach darauf, dass die Anerkennungsquote bei der abschließenden Bewertung zur „Abrundung und Kontrolle des gefundenen Ergebnisses (…) die Rolle eines Indizes spielen“ kann.12 Hiernach würde jedenfalls das alleinige Abstellen auf die Anerkennungsquote den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 16a Abs. 3 GG nicht genügen. Die o.g. Koalitionsaussage nimmt für die beabsichtigte Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten zwar allein auf die Anerkennungsquote Bezug. Es erscheint jedoch fernliegend, dass die Koalitionsparteien die Einstufung – im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – allein nach Maßgabe der Anerkennungsquote treffen wollen. Näher liegt die Deutung, dass die Einstufung von Staaten mit einer regelmäßigen Anerkennungsquote unter fünf Prozent geprüft werden soll. 4. Bereinigung der Anerkennungsquote Bei der Berechnung der Anerkennungsquote stellt sich die Frage, ob weiter nach den Gründen der Ablehnungsentscheidungen zu differenzieren ist. Während eine undifferenzierte (unbereinigte) Anerkennungsquote das Verhältnis der positiven Asylentscheidungen zur Gesamtzahl der Asylentscheidungen für einen bestimmten Zeitraum betrifft, könnte eine differenzierte (bereinigte) Anerkennungsquote diejenigen negativen Asylentscheidungen aus der Berechnung ausnehmen, in denen keine inhaltlichen Prüfungen in Bezug auf den betroffenen Herkunftsstaat stattgefunden haben (formelle Entscheidungen), wie z.B. bei der Rücknahme von Asylanträgen13 oder bei der Zuständigkeit eines anderen EU-Mitgliedstaats. Für die Berücksichtigung einer so bereinigten Anerkennungsquote spricht zunächst die Vermutung eines höheren materiellen Aussagegehalts in Bezug auf die asylrelevanten Umstände in den betroffenen Herkunftsstaaten.14 Die Indizwirkung der um die formellen Entscheidungen bereinigten Anerkennungsquote könnte höher sein, da sie die inhaltlichen Einschätzungen des BAMF abbildet. Eine verfassungsrechtliche Pflicht, allein auf die um die formellen Entscheidungen des BAMF bereinigte Anerkennungsquote abzustellen, lässt sich daraus allerdings – auch mit Blick auf die o.g. Sorgfaltspflichten bei der Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten – nicht ableiten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich bei der Anerkennungsquote von vornherein nicht um ein entscheidendes, sondern allenfalls um ein unterstützendes 11 BVerfGE 94, 115, 139, Hervorhebungen nicht im Original. 12 BVerfGE 94, 115, 139, Hervorhebungen nicht im Original. 13 Siehe dazu insbesondere die Rücknahmefiktionen in § 33 AsylG. 14 Kritisch hierzu allerdings Masing, in: Dreier, GG (2. Aufl., 2004), Rn. 116 zu Art. 16a GG mit dem Hinweis darauf, dass die Anerkennungsquote „zu sehr mit davon abhängt, wie die Verfahren von den jeweiligen Asylsuchenden geführt werden“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 082/18 Seite 6 Kriterium, das der „Abrundung und Kontrolle“ des Gesamtergebnisses dienen kann. Bereits diese begrenzte Funktion der Anerkennungsquote relativiert die Anforderungen an ihre inhaltliche Aussagekraft. So kann beispielsweise eine extrem niedrige unbereinigte Anerkennungsquote bereits die Gesamteinschätzung zugunsten einer Einstufung abrunden, ohne dass es einer weiteren Differenzierung bedürfen würde. Darüber hinaus kommt auch einer um die formellen Entscheidungen des BAMF bereinigten Anerkennungsquote eine nur begrenzte Indizwirkung zu, wenn die absolute Zahl der Entscheidungen niedrig ist. So läge die Anerkennungsquote bei 100%, wenn z.B. alle in dem betreffenden Zeitraum ergangenen 10 Entscheidungen positiv ausgefallen sind. Auf entsprechende „Verzerrungen “ weist das Bundesministerium des Innern auch in seinem ersten Bericht zur Überprüfung der Voraussetzungen der als sichere Herkunftsstaaten eingestuften Staaten hin.15 So wird beispielsweise der Anstieg der Anerkennungsquote von Asylsuchenden aus Bosnien und Herzegowina wie folgt erklärt: „Im Berichtszeitraum waren die Asylanträge von Staatsbürgern aus Bosnien und Herzegowina stark rückläufig. Bei einer gleichbleibenden Zahl begründeter, positiv entschiedener Asylanträge sind die unbegründeten Asylanträge zurückgegangen. Demzufolge erhöhte sich die Gesamtschutzquote von 0,1 % auf 1,8 %.“16 Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Indizwirkung der Anerkennungsquote auch von dem Ausgang der gegen die Ablehnungsentscheidungen erhobenen Gerichtsverfahren abhängt. Der Ausgang der Gerichtsverfahren wiederum kann nicht nur zu einer höheren, sondern auch zu einer niedrigeren Anerkennungsquote führen.17 5. Höhe der Anerkennungsquote Die obigen Erwägungen zur bloß unterstützenden Funktion der Anerkennungsquote und zu den begrenzten Indizwirkungen lassen es auch nicht zu, eine konkrete Höhe der (bereinigten oder unbereinigten) Anerkennungsquote zu benennen, ab der die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat (noch) verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Soweit die Anerkennungsquote lediglich – wie die o.g. Koalitionsaussage nahelegt – herangezogen wird, um Staaten zu identifizieren, die für eine Prüfung der Einstufungsvoraussetzungen in Betracht kommen, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. *** 15 Bundesministerium des Innern, Erster Bericht der Bundesregierung gemäß §29a Absatz 2a Asylgesetz zu der Überprüfung der Voraussetzungen zur Einstufung der in Anlage II zum Asylgesetz bezeichneten sicheren Herkunftsstaaten vom 23. Oktober 2017, abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads /DE/veroeffentlichungen/2017/bericht-herkunftstaaten.pdf?__blob=publicationFile&v=3. 16 Bericht des Bundesministeriums des Innern (Fn. 15), 12. 17 Vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht (12. Aufl., 2018), Rn. 74 zu Art. 16a GG.