© 20202020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 081/20 Gesetzgebungskompetenz für den Infektionsschutz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 081/20 Seite 2 Gesetzgebungskompetenz für den Infektionsschutz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 081/20 Abschluss der Arbeit: 9. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 081/20 Seite 3 1. Fragestellung Das Infektionsschutzgesetz des Bundes (IfSG)1 bestimmt Maßnahmen, um „übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern“ (§ 1 Abs. 1 IfSG). Die Ausarbeitung befasst sich mit der Frage, ob den Ländern eine Gesetzgebungskompetenz für eigene Infektionsschutzgesetze zusteht. Bayern hat Ende März 2020 ein eigenes Infektionsschutzgesetz2 erlassen, das Regelungen zur Sicherung der Materialversorgung und zur Personalversorgung im Falle eines Gesundheitsnotstands vorsieht. In Nordrhein- Westfalen wird ein Gesetzentwurf3 mit ähnlichen Regelungen derzeit im Landtag diskutiert.4 2. Gesetzgebungskompetenz Das IfSG stützt sich im Wesentlichen auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG.5 Danach besteht eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen“. Die Kompetenz umfasst Maßnahmen zur Vorbeugung und Bekämpfung dieser Krankheiten, wie etwa Meldepflichten, obligatorische Tests oder Impfungen.6 Infektionsschutzgesetze der Länder dürften im Schwerpunkt ebenfalls diesem Kompetenztitel zuzuordnen sein.7 Es stellt sich daher die Frage, ob den Ländern trotz des Erlasses des IfSG eine eigene Gesetzgebungskompetenz verbleibt. Nach Art. 72 Abs. 1 GG haben im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. In dem Umfang, in dem der Bundesgesetzgeber tätig geworden ist, tritt eine Sperrwirkung für eine gesetzgeberische Tätigkeit der Länder ein.8 Landesrecht , das trotz Sperrwirkung erlassen wurde, ist nichtig.9 Dies gilt nicht nur, wenn das Landesrecht vom Bundesrecht abweicht, sondern auch dann, wenn es dem Bundesrecht entspricht.10 1 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587). 2 Bayerisches Infektionsschutzgesetz (BayIfSG) vom 25. März 2020 (GVBl. S. 174). 3 LT-Drs. 17/8920. 4 Siehe etwa https://www.landtag.nrw.de/home/aktuelles-presse/meldungen/pressemitteilungen-und-informati /pressemitteilungen/2020/04/0104unterrichtung-und-epidemie-g.html. 5 Walus, Pandemie und Katastrophennotstand: Zuständigkeitsverteilung und Kompetenzmängel des Bundes, in: DÖV 2010, 127 (128). 6 Degenhart, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 74 Rn. 85. 7 Siehe etwa die Begründung zum Bayerischen Gesetzentwurf, LT-Drs. 18/6945, S. 1. 8 Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 72 Rn. 78. 9 Degenhart, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 72 Rn. 38. 10 Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 72 Rn. 107. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 081/20 Seite 4 Voraussetzung der Sperrwirkung ist, dass der Bund eine erschöpfende und damit abschließende Regelung erlassen hat.11 Ob ein Gesetz erschöpfend ist, kann nur durch eine Gesamtwürdigung des gesamten Regelungskomplexes entschieden werden.12 Eine abschließende Bewertung ist daher an dieser Stelle nicht möglich. Nachfolgend werden im Wesentlichen Erwägungen zu zwei Regelungskomplexen des Bayerischen Infektionsschutzgesetzes angestellt. In Art. 2 Abs. 1 sieht das Bayerische Infektionsschutzgesetz die Möglichkeit vor, medizinisches, pflegerisches oder sanitäres Material zu beschlagnahmen, soweit dies zur Aufrechterhaltung der notwendigen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung erforderlich ist. Art. 2 Abs. 2 dieses Gesetzes enthält zudem die Möglichkeit zum Erlass eines Verkaufsverbots. Ähnliche Regelungen sieht nach der Ende März 2020 erfolgten Gesetzesänderung13, mit der der Deutsche Bundestag das aktuelle Vorliegen einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 IfSG) festgestellt hat, auch das IfSG vor: Nach § 5 Abs. 2 Nr. 4 IfSG ist das Bundesministerium für Gesundheit ermächtigt, eine Verordnung zu erlassen, um die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln, Medizinprodukten , Schutzausrüstung und ähnlichem Material zu gewährleisten. Die Verordnung kann unter anderem Verkaufsverbote sowie die Sicherstellung der Gegenstände von Dritten vorsehen. Die Gewährleistung der Versorgung der Bevölkerung mit medizinischem und sanitärem Material ist in der bundesgesetzlichen Regelung umfassend ausgestaltet. Diese dürfte somit abschließende Wirkung haben. Bereits das Bestehen einer Verordnungsermächtigung für die Exekutive des Bundes begründet die Sperrwirkung gegenüber den Landesgesetzgebern.14 Auf den Erlass der entsprechenden Verordnung kommt es nicht an. Es dürfte daher davon auszugehen sein, dass § 5 Abs. 2 Nr. 4 IfSG eine Sperrwirkung in Bezug auf Regelungen zur Versorgung der Bevölkerung mit medizinischem und sanitärem Material bewirkt.15 Des Weiteren enthält das Bayerische Infektionsschutzgesetz in Art 6 Abs. 1 die Möglichkeit der Verpflichtung von Personen zur Vornahme von medizinischen oder pflegerischen Leistungen. Nach Presseberichten war für die aktuelle Gesetzesänderung auch die Aufnahme einer entsprechenden Regelung in das IfSG zunächst geplant.16 Letztlich wurde aber darauf verzichtet. Dies könnte so 11 Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 72 Rn. 82 m.w.N; Degenhart, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 72 Rn. 27. 12 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 74 Rn. 37. 13 Die Änderung erfolgte durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587). 14 Degenhart, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 72 Rn. 26. 15 Zu den verfassungsrechtlichen Zweifeln in Bezug auf § 5 Abs. 2 IfSG siehe die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Staatsorganisation und § 5 Infektionsschutzgesetz, WD 3 - 3000 - 080/20. Eine Prüfung der Verfassungsmäßigkeit wird allerdings nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Prüfung der Sperrwirkung eines Bundesgesetzes nicht vorgenommen. Nur wenn ein Gesetz in einem eigenständigen Verfahren für verfassungswidrig erklärt wurde, entfällt die Sperrwirkung. Siehe dazu BVerfGE 98, 265 (318 ff.). 16 Siehe etwa Legal Tribune Online, Spahns Pläne für die National-Epidemie, 22. März 2020, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/gesetzentwurf-corona-jens-spahn-entmachtung-laender-aerztezwangsverpflichten -handyortung/ (Stand: 9. April 2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 081/20 Seite 5 interpretiert werden, dass der Bund den Ländern in diesem Bereich den Erlass einer Regelung überlassen wollte. Die Tatsache, dass der Bund einen bestimmten Bereich ungeregelt gelassen hat, bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass daraus eine Regelungskompetenz der Länder folgt. Ein „Gebrauchmachen“ von der Gesetzgebungskompetenz im Sinne des Art. 72 Abs. 1 GG liegt nicht nur dann vor, wenn der Bund eine Regelung getroffen hat.17 Die Sperrwirkung gegenüber der Landesgesetzgebung kann auch dann eintreten, wenn der Bund eine bestimmte Materie bewusst nicht geregelt hat und damit zu erkennen gibt, dass er einer Regelung dieser Materie insgesamt ablehnend gegenüber steht.18 Die Tatsache, dass der Bund auf die Aufnahme einer Regelung zur Verpflichtung von medizinischem oder pflegerischem Personal im IfSG verzichtet hat, kann daher auch so interpretiert werden, dass er eine solche Verpflichtung generell nicht geregelt sehen wollte. Allgemein gegen eine Gesetzgebungskompetenz der Länder im Bereich des Infektionsschutzes kann auch die Tatsache sprechen, dass das IfSG den Ländern verschiedene Verordnungsermächtigungen erteilt (etwa in § 32 IfSG), während Vorbehalte zugunsten der Landesgesetzgebung nicht benannt sind. Solche Vorbehalte sind im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung zwar nicht erforderlich , um die Kompetenz der Länder zu begründen. Ihr Fehlen kann aber einen Hinweis auf eine erschöpfende Regelung des Bundesgesetzgebers geben.19 In der juristischen Literatur wird zumindest zum Teil von einer generell abschließenden Wirkung des Infektionsschutzgesetzes ausgegangen.20 Stimmen, die ausdrücklich von einer verbleibenden Gesetzgebungskompetenz der Länder ausgehen, sind nicht bekannt. *** 17 BVerfGE 98, 265 (300). 18 BVerfGE 98, 265 (300); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 74 Rn. 35. 19 Vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 72 Rn. 27; Oeter, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 72 Rn. 61. 20 Grüner, Biologische Katastrophen, 2017, S. 172; von Steinau-Steinrück, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, 2013, S. 65.