Deutscher Bundestag Wahlrechtsausschluss von Menschen mit Behinderungen in den Mitgliedstaaten der EU Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 081/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 2 Wahlrechtsausschluss von Menschen mit Behinderungen in den Mitgliedstaaten der EU Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 081/12 Abschluss der Arbeit: 16. Mai 2012 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Zusammenfassung 4 2. Einleitung 6 3. Rechtslage in Deutschland 6 4. Rechtslage in den EU-Mitgliedstaaten 7 4.1. Gruppe 1: Automatischer Wahlrechtsausschluss 7 4.1.1. Belgien 7 4.1.2. Dänemark 8 4.1.3. Polen 9 4.2. Gruppe 2: Wahlrechtsausschluss nur nach konkreter Überprüfung im Einzelfall 10 4.2.1. Frankreich 10 4.2.2. Spanien 11 4.3. Gruppe 3: Kein Wahlrechtsausschluss 12 4.3.1. Großbritannien 12 4.3.2. Italien 13 4.3.3. Österreich 13 4.3.4. Finnland 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 4 1. Zusammenfassung Einem Fachaufsatz1, der sich mit dem Thema Ausschluss von Menschen mit Behinderungen vom Wahlrecht in Deutschland sowie in den europäischen Mitgliedstaaten befasst, lässt sich eine Einteilung in drei Regelungsgruppen entnehmen, die sich durch die Antworten der jeweiligen Mitgliedstaaten weitgehend bestätigen lässt. Die Rechtslage lässt sich wie folgt skizzieren: Der Ausschluss vom Wahlrecht in der ersten Gruppe der Mitgliedstaaten erfolgt unter bestimmten Voraussetzungen automatisch, d.h. ohne Überprüfung, ob die Ausübung des Wahlrechts im Einzelfall möglich wäre. Die Rechtsgründe, die zum Ausschluss führen, überschneiden sich: Belgien entzieht das Wahlrecht bei vollständiger Entmündigung, wenn die Person unter das Minderheitenstatut fällt oder bei Einweisung wegen Anomalität oder wiederholter Begehung von Straftaten. In Dänemark sind Personen nur dann vom Wahlrecht ausgeschlossen, wenn sie unter gesetzlicher Vormundschaft stehen. Dies geht mit einem Entzug der Geschäftsfähigkeit einher. Eine Teilvormundschaft führt dagegen nicht zum Verlust des Wahlrechts. In Polen bedingt hingegen eine - auch teilweise - Entmündigung den Ausschluss des Wahlrechts. Allen drei Ländern gemeinsam ist das Verfahren: Es erfolgt stets eine gerichtliche Entscheidung über die Entmündigung , Vormundschaft oder Einweisung, die dann ohne weitere Voraussetzungen automatisch zum Verlust des Wahlrechts führt. Zu möglichen Rechtsmitteln hat sich Belgien nicht geäußert. Sowohl in Dänemark als auch in Polen können betroffene Personen stets lediglich gegen die gerichtliche Entscheidung über die Entmündigung, Vormundschaft oder Einweisung als Ganzes vorgehen. Ein separater Antrag auf Wiedereinräumung des Wahlrechts ist nicht vorgesehen. In der zweiten Gruppe wird in bestimmten Fällen konkret im Einzelfall überprüft, ob ein Ausschluss vom Wahlrecht erfolgt. Die Einzelfallprüfung sowie die Anordnung des Wahlrechtsentzugs erfolgen sowohl in Frankreich als auch in Spanien durch einen Richter. In Frankreich kommt noch ein Gutachter hinzu. In Frankreich geschieht dies bei erstmaliger Anordnung oder Veränderung einer Maßnahme der Vormundschaft. In Spanien kann ein Ausschluss vom Wahlrecht im Rahmen der Erklärung einer Entmündigung oder für die Dauer der Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt erfolgen. Es wird stets eine Anhörung der betroffenen Person sowie ihres Umfeldes durchgeführt . In Frankreich ist zusätzlich ein Nachweis der Geschäftsunfähigkeit durch eine ausführliche ärztliche Bescheinigung erforderlich, die von einem Facharzt ausgestellt wurde. Die Länder der dritten Gruppe kennen, bis auf sehr enge Ausnahmen, keine Einschränkung des Wahlrechts. In Großbritannien waren bis 2006 sogenannte „Idioten“ und „Wahnsinnige“ vom Wahlrecht ausgeschlossen. Diese Regelung wurde aufgrund ihrer diskriminierenden Wirkung und der Schwierigkeiten bei der Beurteilung, wann ein solcher Fall vorliegt, abgeschafft. Heute gibt es keinerlei Einschränkungen mehr. In Italien besteht nur ein Ausschluss des Wahlrechts im Falle der so genannten „civil disability“, dem Verlust bestimmter Bürgerrechte aufgrund von strafrechtlicher Verurteilung. Geisteskranke wurden bis zu den späten 1970er Jahren, Insassen 1 Schulte, UN-Behindertenrechtskonvention und Wahlrechtsausschluss, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2012, S. 16 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 5 einer Psychiatrischen Institution bis 1978 für die Dauer ihres Aufenthaltes vom Wahlrecht ausgeschlossen . In Österreich ist nur vom Wahlrecht ausgeschlossen, wer in keiner Weise ausdrücken kann, ob er wählen will und ob er sich hierbei von einer Person unterstützen lassen möchte. Allen anderen Personen steht das Wahlrecht und ein Recht auf die zur Ausübung notwendige Unterstützung zu. Auch in Finnland gibt es seit 1972 ein uneingeschränktes Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 6 2. Einleitung Die nachfolgende Ausarbeitung soll einen Überblick über die rechtlichen Regelungen zum Ausschluss von Menschen mit Behinderungen vom Wahlrecht in ausgewählten Mitgliedstaaten der Europäischen Union geben. Einem Fachaufsatz2 zu dieser Thematik war diesbezüglich eine Einteilung in drei Regelungsgruppen zu entnehmen, die sich durch die Antworten der jeweiligen Mitgliedstaaten weitgehend bestätigen lässt: Die erste, größte Gruppe der Mitgliedstaaten der EU kennt - wie Deutschland - unter bestimmten Voraussetzungen einen automatischen Ausschluss vom Wahlrecht für Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung – so Belgien, Bulgarien, Dänemark, Estland, Griechenland, Litauen , Luxemburg, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, die Slowakei und Tschechien. Eine zweite Gruppe von Staaten – darunter Frankreich, Slowenien und Spanien – sieht vor, dass in bestimmten Fällen konkret überprüft wird, ob der Einzelne in der Lage ist, eine Wahlentscheidung zu treffen, wobei die Feststellung von einem Arzt oder von einem Richter getroffen wird. Eine dritte Gruppe von Ländern sieht ganz davon ab, das Wahlrecht einzuschränken, sondern räumt jedermann dieses Recht ein – so z. B. in Österreich, wo es den Verlust des Wahlrechts nur in Verbindung mit einer strafrechtlichen Verurteilung gibt, in Italien – seit der Psychiatriereform Ende der 1960er Jahre – und seit 2006 auch im Vereinigten Königreich. Nachfolgend wird nach einer kurzen Darstellung der Rechtslage in Deutschland die rechtliche Situation in den oben genannten EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf die Frage des Wahlrechtsausschlusses beschrieben. 3. Rechtslage in Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland steht das Wahlrecht gemäß Art. 38 Grundgesetz (GG) grundsätzlich jedem erwachsenen Staatsbürger zu. Bestimmte Menschen werden durch Bundesgesetze von der Teilnahme am Wahlrecht ausgeschlossen. Die im Folgenden genannten Ausschlüsse sind nach herrschender Ansicht verfassungsgemäße Schranken der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl: Nach § 13 Nr. 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG) bzw. dem wortlautidentischen § 6a Nr. 2 Europawahlgesetz (EuWG) sind Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen, denen für die Besorgung 2 Schulte, UN-Behindertenrechtskonvention und Wahlrechtsausschluss, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2012, S. 16 ff.. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 7 aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer bestellt wurde. Dies betrifft nach § 1896 BGB Volljährige , die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen können. Der Ausschluss des Wahlrechts nach § 13 Nr. 2 BWahlG tritt allerdings nur selten auf, da ein Betreuer in der Regel nur für bestimmte Aufgabenkreise bestellt wird, zu deren Erledigung der Betroffene außer Stande ist. Eine allumfassende Betreuung erfolgt nur, wenn der Betroffene keine seiner Angelegenheiten selbst erledigen kann. Dies muss sämtliche Bereiche betreffen, die die Lebenssituation des Betroffenen ausmachen. Des Weiteren werden gemäß § 13 Nr. 3 BWahlG und § 6 a Nr. 3 EuWG auch Menschen, die sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 i. V. m. mit § 20 des Strafgesetzbuches (StGB) in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden, vom Wahlrecht ausgeschlossen. § 20 StGB, der die Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen regelt, besagt, dass „ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“ Von den Personen, die eine Straftat begangen haben, dabei aber nach soeben Gesagtem schuldunfähig waren , werden allerdings nach § 63 StGB nur diejenigen in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht, von denen infolge ihres „Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und (die) deshalb für die Allgemeinheit gefährlich (sind)“.3 4. Rechtslage in den EU-Mitgliedstaaten 4.1. Gruppe 1: Automatischer Wahlrechtsausschluss 4.1.1. Belgien Gemäß Art. 1 des belgischen Wahlgesetzes muss ein Wähler: 1. Belgier sein, 2. das 18. Lebensjahr vollendet haben, 3. im Personenregister einer belgischen Kommune eingetragen sein und 4. nach geltender Rechtslage weder dauerhaft noch vorübergehend vom Wahlrecht ausgeschlossen sein. 3 Vgl. zur Rechtslage in Deutschland auch , Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen – Zur Vereinbarkeit der §§ 13 Nr. 2 und 3 BWahlG, § 6a Abs. 1 Nr. 2 und 3 EuWG mit supranationalen Abkommen, Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, 2011, WD 3 – 3000 – 350/11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 8 Gemäß Art. 7 desselben Gesetzes sind folgende Personen vom Wahlrecht ausgeschlossen und können während der Dauer der Geschäftsunfähigkeit nicht zur Wahl zugelassen werden: 1. diejenigen, die durch ein Gericht entmündigt wurden, Personen, die unter das Minderheitenstatut fallen, das durch das Gesetz vom 29. Juni 1973 verlängert wurde, diejenigen, die aufgrund der Bestimmungen über „Anormale“ und „Gewohnheitsstraftäter“ in den Kapiteln I bis IV des Gesetzes vom 9. April 1930 über die Sozialverteidigung (défense sociale), ersetzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 1. Juli 1964, eingewiesen wurden. 2. (…). Ohne auf Details zu den oben genannten Gesetzen einzugehen, kann man das einschlägige Recht dahingehend zusammenfassen, dass jedem Belgier das Wahlrecht zusteht, wenn es ihm nicht gerichtlich entzogen wurde. 4.1.2. Dänemark Nach der dänischen Verfassung hat jeder dänische Staatsbürger, der seinen ständigem Wohnsitz im Staatsgebiet hat und das für die Ausübung des Wahlrechts notwendige Alter besitzt, das Recht, an Parlamentswahlen teilzunehmen, sofern er nicht für unfähig erklärt wurde, seine Angelegenheiten selbstständig zu erledigen (Abschnitt 29). Nur solche Personen, die unter Vormundschaft stehen und denen die Geschäftsfähigkeit aberkannt wurde, sind vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das Vormundschaftsverfahren ist im Vormundschaftsgesetz in Abschnitt 6 geregelt. Es besteht die Möglichkeit, Personen im Alter von über 18 Jahren unter die gesetzliche Vormundschaft zu stellen. Gleichzeitig wird die Geschäftsfähigkeit aberkannt, so dass die betroffene Person automatisch keinen Zugriff mehr auf ihr Vermögen hat, keine bindenden Verträge eingehen kann und einen Vormund erhält. In diesem Fall wird auch das Wahlrecht entzogen. Das Ziel der gesetzlichen Vormundschaft ist der Schutz von verletzlichen und hilflosen Individuen in Bezug auf eigene Handlungen oder Ausbeutung durch Dritte. Betroffen sind z. B. Personen, die an Demenz erkrankt oder geistig zurückgeblieben sind. Die gesetzliche Vormundschaft wird immer dann angeordnet, wenn die betreffende Person nicht mehr in der Lage ist, sich um persönliche oder wirtschaftliche Angelegenheiten selbst zu kümmern. Die Anordnung erfolgt durch ein Amtsgericht und kann von der betreffenden Person selbst, den Verwandten, dem Polizeichef oder der Stadtverwaltung initiiert werden. Wird der Person dagegen nicht die Geschäftsfähigkeit aberkannt und steht sie nur unter einer Teilvormundschaft („Limited Guardianship“ und „Co-Guardianship“), so ist damit kein Entzug des Wahlrechts verbunden. Will eine Person gegen den Wahlrechtsausschluss vorgehen, muss sie gegen die Anordnung der gesetzlichen Vormundschaft bzw. auf die Veränderung der gesetzlichen Vormundschaft oder auf deren Beendigung in Zusammenhang mit der Wiedererlangung der Geschäftsfähigkeit klagen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 9 Das Rechtsmittel kann von der Person selbst, vom Ehegatten, den Kindern, Eltern, Geschwistern oder anderen engen Verwandten der betreffenden Person, dem Vormund, dem Gemeinderat oder dem Polizeichef eingelegt werden. Den Beschluss über die Aufhebung bzw. Veränderung der Vormundschaft kann die örtlich zuständige Behörde auch auf eigene Initiative treffen. 4.1.3. Polen Die Rechtsgrundlage für den Ausschluss vom Wahlrecht ist Art. 62 § 2 der Polnischen Verfassung . Diese Vorschrift bestimmt, dass Personen, die durch rechtskräftiges Gerichtsurteil entmündigt wurden oder denen die bürgerlichen Rechte oder das Wahlrecht entzogen wurden, weder an einer Volksabstimmung teilnehmen dürfen noch ein Wahlrecht haben. Da diese Regel keine Anwendung auf Wahlen zum Europäischen Parlament findet, wird sie durch Artikel 10 des Wahlgesetzes vom 5. Januar 2011 faktisch ausgedehnt, um diese Wahlen abzudecken. Entmündigung ist ein zivilrechtlicher Begriff. Das Bürgerliche Gesetzbuch enthält zwei Arten von Entmündigung: die vollständige und die teilweise Entmündigung. Gemäß Artikel 13 § 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann eine Person, die das dreizehnte Lebensjahr erreicht hat, vollständig entmündigt werden, wenn sie wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder anderer psychischer Störung, insbesondere Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, außer Stande ist, ihr Verhalten zu beherrschen. Die teilweise Entmündigung wird von Art. 16 des Bürgerlichen Gesetzbuchs geregelt. § 1 bestimmt , dass ein Volljähriger wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder anderer psychischer Störung, insbesondere Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, teilweise entmündigt werden kann, wenn sein Zustand es nicht rechtfertigt, ihn vollständig zu entmündigen, er aber Unterstützung bei der Erledigung seiner Angelegenheiten benötigt. Da die Verfassung nur von Entmündigung im Allgemeinen spricht, kann der Entzug des Wahlrechts sowohl aufgrund einer teilweisen als auch einer vollständigen Entmündigung erfolgen. Das Verfahren der Entmündigung ist im Zivilverfahrensgesetz geregelt (Artikel 544-560). In Rede stehende Fälle werden vom Landgericht (Bezirksgericht) entschieden. Berufungen können nur die Entmündigung als Ganzes betreffen. Demnach ist es nicht möglich, den Entzug des Wahlrechts in Frage zu stellen, ohne die anderen Folgen der Entmündigung zu berücksichtigen. Eine Person, die entmündigt wurde, darf stets Berufung einlegen, auch wenn ein Betreuer bestellt wurde (Artikel 560 des Zivilverfahrensgesetzes). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 10 4.2. Gruppe 2: Wahlrechtsausschluss nur nach konkreter Überprüfung im Einzelfall 4.2.1. Frankreich Die Bestimmungen zum Wahlrecht sind in den Art. L1 bis L5 des Wahlgesetzes4 geregelt. Art. L2 des Wahlgesetzes bestimmt den Ausschluss vom Wahlrecht für Volljährige, die geschäftsunfähig sind: „Wähler sind Französinnen und Franzosen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, bürgerliche und politische Rechte genießen und die keinen der gesetzlich vorgesehenen Fälle der Geschäftsunfähigkeit erfüllen.“ In dieser Vorschrift wird nicht speziell auf Menschen mit Behinderungen Bezug genommen. Nach vorherrschender Interpretation sind insbesondere unter Schutz stehende Volljährige betroffen. Als Folge dieser Auslegung sind Volljährige, die unter Vormundschaft stehen, recht häufig vom Wahlrecht ausgeschlossen. Dennoch betont das Gesetz Nr. 2007-308 vom 5. März 2007 zur Reform des rechtlichen Schutzes von Volljährigen („protection juridique des majeurs“), dass die Beschränkungen des Wahlrechts für unter Schutz stehende Volljährige keinen Grundsatz, sondern eine Ausnahme darstellen. Art. L5 des Wahlgesetzes bestimmt, dass der Richter über die Beibehaltung oder Aussetzung des Wahlrechts einer geschützten Person befindet, wenn er eine Maßnahme der Vormundschaft erstmalig anordnet oder erneuert. Diese Änderung des Wahlgesetzes ermöglicht die volle Wirkung des Art. 2 des Gesetzes 2005-102 vom 11. Februar 2005 für die Gleichheit der Rechte und Chancen, die Teilhabe und Staatsbürgerschaft von Menschen mit Behinderungen. Diese Bestimmung statuiert, dass jeder Mensch mit Behinderungen das Recht auf Solidarität der gesamten staatlichen Gemeinschaft hat, die ihm, aufgrund dieser Verpflichtung, den Zugang zu Grundrechten , die von allen Bürgern anerkannt sind, sowie die volle Ausübung seiner Staatsbürgerschaft garantiert. Eine das Wahlrecht betreffende Erlaubnis oder ein Verbot hängt von der allgemeinen Beurteilung durch den Vormundschaftsrichter ab. Zu diesem Zweck kontrolliert er die Veränderung der Fähigkeiten des Volljährigen, damit die gewählte Schutzmaßnahme möglichst passgenau ist. Die so festgelegte Schutzmaßnahme wird durch Richterspruch angeordnet. Der Antrag auf Schutz muss beim Vormundschaftsrichter des Amtsgerichts, in dessen Verantwortungsbereich sich der Wohnsitz oder der Unterbringungsort der betroffenen Person oder der Wohnsitz des Vormundes befindet , eingereicht werden. Die Anordnung einer richterlichen Schutzmaßnahme können die Person , die um Schutz ersucht, ihr Ehegatte, ihr Partner, wenn sie in einem eheähnlichen Verhältnis lebt, ihr Lebensgefährte, ein Elternteil oder eine Person, die in einem engen und stabilen Verhältnis zu ihr steht, sowie der Oberstaatsanwalt beim Vormundschaftsrichter beantragen. Der 4 Abrufbar unter: http://www.legifrance.gouv.fr/affichCode.do;jsessionid=118FBB92DCD8107467371930680A0276.tpdjo11v_1?idSec tionTA=LEGISCTA000006148454&cidTexte=LEGITEXT000006070239&dateTexte=20120326. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 11 Vormundschaftsrichter kann auch aufgrund eines Ersuchens tätig werden, dem eine ärztliche Bescheinigung eines zugelassenen Arztes beigefügt ist. Der Vormundschaftsrichter führt, außer im Falle der Unmöglichkeit oder Eilbedürftigkeit, eine Anhörung der zu schützenden Person durch, danach eine Anhörung ihres Umfeldes. Dabei wird die betroffene Person von einem Anwalt oder einer anderen Person ihrer Wahl unterstützt. Eine Maßnahme wird zunächst für die Dauer von 5 Jahren ausgesprochen und ist verlängerbar. Die Geschäftsunfähigkeit muss durch eine ausführliche ärztliche Bescheinigung nachgewiesen sein, die von einem Facharzt ausgestellt wurde. 4.2.2. Spanien In Spanien bestimmt Art. 3 des Gesetzes über das Allgemeine Wahlsystem (Ley Orgánica 5/1985, de 19 de junio, del Régimen Electoral Central)5, dass das Wahlrecht nur durch ausdrückliche richterliche Entscheidung entzogen werden kann. Begleitend zu den folgenden Verfahren kann die richterliche Entscheidung, das Wahlrecht zu entziehen, getroffen werden: – Entmündigungsverfahren – Verfahren zur Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt, wobei das Wahlrecht nur für die Dauer der Unterbringung entzogen werden kann. Das Verfahren für solche Entscheidungen ist in den Artikeln 756 bis 763 des Zivilverfahrensgesetzes (Ley 1/2000, de 7 de enero, de Enjuiciamiento Civil)6 geregelt. Charakteristisch für dieses Verfahren ist insbesondere der zwingende Prozessbeitritt der Staatsanwaltschaft zur Vertretung des öffentlichen Interesses (vgl. Art. 746 des Zivilverfahrensgesetzes ). Daher hat sie das Recht, gehört zu werden, um für die Entmündigung (Art. 757.2) oder für die Wiedereingliederung in die volle Geschäftsfähigkeit zu streiten (Art. 761.2). Wenn die Staatsanwaltschaft nicht als Klägerin fungiert, wird sie als Verteidigerin der Person tätig, deren Entmündigung beantragt wird. Ist der Staatsanwalt der Vertreter eines Entmündigungsverfahrens , wird der Person ein Verteidiger durch das Gericht zugewiesen. Außer dem Staatsanwaltschaft haben folgende Personen das Recht, eine Entmündigung zu beantragen : – der Ehegatte der Person, deren Entmündigung beantragt werden soll, – eine Person, die zu ihr/ ihm in einem ähnlichen Verhältnis steht, – Vorfahren, 5 Abrufbar unter: http://www.boe.es/aeboe/consultas/bases_datos/doc.php?id=BOE-A-1985-11672. 6 Abrufbar unter: http://www.boe.es/aeboe/consultas/bases_datos/act.php?id=BOE-A-2000-323. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 12 – Nachkommen, – Brüder und Schwestern. Das gesetzlich vorgesehene Verfahren findet in mündlicher Verhandlung statt, wobei es verfahrensmäßige Besonderheiten gibt: Die Verhandlung ist beispielsweise ist nicht öffentlich. Ferner ist der Richter verpflichtet, folgende Beweise zu erheben: Anhörung der engsten Familienmitglieder, direkte Vernehmung der Person durch den Richter und Untersuchung durch einen Gutachter. Die Berufung kann durch dieselben Personen beantragt werden, die das Recht haben, ein Entmündigungsverfahren zu initiieren. Ferner kann der Vormund des Entmündigten, die Staatsanwaltschaft sowie der oder die Entmündigte selbst einen Berufungsantrag stellen. Das Verfahren gleicht dem bei der Entmündigung und erfordert dieselben Beweise, wie sich aus Art. 761 des Zivilverfahrensgesetzes ergibt. 4.3. Gruppe 3: Kein Wahlrechtsausschluss 4.3.1. Großbritannien Bis 2006 waren nach dem Gewohnheitsrecht (d.h. den Rechtsgrundsätzen, die von Gerichten entwickelt und nicht durch formelle Gesetze festgelegt wurden ) sogenannte „Idioten“ und „Wahnsinnige“ vom Wahlrecht ausgeschlossen. Mit Abschnitt 73 (1) des Wahlgesetzes (Electoral Administration Act 2006) wurde jeder Rechtsgrundsatz des Gewohnheitsrechts abgeschafft, der einen Wahlrechtsausschluss (Entmündigung) von Menschen aufgrund ihres Geisteszustandes normierte. Die Gesetzesbegründung zum Wahlgesetz von 2006 erklärt, dass es Richterrecht bis mindestens zum 18. Jahrhundert gibt, aus dem sich ergibt, dass Menschen einzig und allein wegen ihres Geisteszustandes als von Rechts wegen unfähig zu wählen angesehen werden können. Nach dem Gewohnheitsrecht wurde jeder, der als „unmündig“ befunden wurde, vom Wahlrecht ausgeschlossen . Es wurde dabei differenziert nach „Idioten“, die nicht wählen konnten und „Geisteskranken “, die nur in lichten Augenblicken wählen konnten. Aber die Feststellung dieses Zustands war sehr problematisch, da die für diese Entscheidung zuständige Person, der Wahlregistrierungsbeamte , möglicherweise nicht genug Wissen über den Einzelfall hatte, um eine faire Entscheidung zu treffen. Als Grund für die Änderung des Gesetzes wird angeführt, dass der Ausschluss vom Wahlrecht und die sprachliche Betitelung als „Idioten“ und „Wahnsinnige“ eine Diskriminierung und Beleidigung darstellt, die in einer modernen Demokratie keinen Platz haben. Daher wurde der Ausschluss von Menschen mit Lernschwächen und psychischen Erkrankungen in der Gesetzesnovelle entfernt und statt „Behinderung“ das Wort „Unfähigkeit“ eingefügt. Zudem entfällt mit der Abschaffung des Ausschlusses vom Wahlrecht folglich auch die Ermessensentscheidung des Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 13 Wahlregistrierungsbeamten, der wie schon oben festgestellt, diese ohne ausreichendes Wissen über den Einzelfall getroffen hat. 4.3.2. Italien Gemäß Art. 48 der Verfassung steht allen Bürgern mit Erreichen der Volljährigkeit das Wahlrecht zu. Das Wahlrecht darf, bis auf bestimmte Ausnahmen, nicht eingeschränkt werden. Eine solche Ausnahme stellt gemäß Art. 48 § 4 der Verfassung der Zustand der so genannten „civil disability“ dar. Darunter ist der Verlust bestimmter Bürgerrechte aufgrund von strafrechtlicher Verurteilung zu verstehen. Bis zu den späten 1970er Jahren wurden Menschen, die wegen Geisteskrankheit in ihren Bürgerrechten eingeschränkt bzw. ausgeschlossen werden, durch Gesetz vom Wahlrecht ausgeschlossen. Darüberhinaus wurde das Wahlrecht für die Insassen einer psychiatrischen Anstalt für die Dauer ihres Aufenthaltes vorübergehend ausgeschlossen (Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 223 aus 1967 Art. 2 und 3). Die oben genannten Regelungen wurden durch das Gesetz Nr. 180 aus dem Jahre 1978 abgeschafft, das die Organisation des italienischen Psychiatriesystems reformierte. 4.3.3. Österreich Im österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) ist in Art. 26 Abs. 57 als Grundsatz normiert , dass der Ausschluss vom Wahlrecht oder der Ausschluss von der Wählbarkeit nur als Folge einer rechtskräftigen gerichtlichen Verurteilung eintreten kann. Die Nationalrats-Wahlordnung 1992 (NRWO)8 präzisiert, dass das Wahlrecht grundsätzlich persönlich auszuüben ist, wobei sich körper- oder sinnesbehinderte Wähler oder Wählerinnen von einer Person, die sie selbst auswählen und gegenüber dem Wahlleiter (der Wahlleiterin) bestätigen müssen, bei der Wahlhandlung helfen lassen können. In der Praxis bedeutet dies, dass eine sinnesbehinderte Person, die wählen möchte, aber nicht in der Lage ist, den Stimmzettel selbst auszufüllen, gegenüber dem Wahlleiter (der Wahlleiterin) in der Lage sein muss zu bestätigen, dass sie sich von einer Person bei der Wahlhandlung helfen lassen möchte. Kann eine Person auf Befragen gegenüber einer Wahlbehörde in keiner Weise ausdrücken, ob sie wählen will und ob sie sich hierbei von einer Person unterstützen lassen möchte, so kann diese Person nicht wählen. 7 Abrufbar unter: http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000138. 8 Abrufbar unter: http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10001199. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 081/12 Seite 14 4.3.4. Finnland Gemäß Abschnitt 14 der Finnischen Verfassung erlangt jeder finnische Staatsbürger mit Vollendung des 18. Lebensjahres das Wahlrecht. Das Wahlrecht ist in keinerlei Hinsicht eingeschränkt .9 Die für Menschen mit Behinderungen geltenden Beschränkungen wurden bereits 1972 aufgehoben . Der Grund für diese Aufhebung war die Tatsache, dass es keine Veranlassung für eine Einschränkung des Rechtes dieser Personen gibt, sich sozial und politisch zu beteiligen. Abschnitt 14 – Wahl- und Beteiligungsrechte (Auszug) der finnischen Verfassung lautet: Jeder finnische Staatsbürger, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, hat das Recht, an nationalen Wahlen und Volksabstimmungen teilzunehmen. Spezielle Vorschriften dieser Verfassung regeln die Voraussetzungen für das passive Wahlrecht bei nationalen Wahlen. Jeder finnische Staatsbürger und jeder andere Staatsbürger der Europäischen Union, der in Finnland ansässig ist, hat mit der Vollendung des 18. Lebensjahres das Recht, an Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen. Dies wird durch ein Gesetz vorgeschrieben. Jeder finnische Staatsbürger und jeder ausländische Staatsbürger, der in Finnland seinen dauerhaften Wohnsitz hat, hat mit Vollendung des 18. Lebensjahres das Wahlrecht für Kommunalwahlen und Volksabstimmungen auf kommunaler Ebene. Auch dies wird durch ein Gesetz garantiert. Ein weiteres Gesetz enthält Bestimmungen über das Recht auf anderweitige Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der Gemeinderegierung. Die staatlichen Behörden sollen die Möglichkeiten jedes Einzelnen fördern, sich im sozialen Umfeld zu beteiligen sowie auf Entscheidungen, die sie oder ihn betreffen, Einfluss nehmen zu können. 9 Daher wurde Finnland entgegen der Auffassung von Schulte (s. Fn. 1) in die dritte Gruppe eingeordnet.