© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 080/20 Staatsorganisation und § 5 Infektionsschutzgesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 080/20 Seite 2 Staatsorganisation und § 5 Infektionsschutzgesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 080/20 Abschluss der Arbeit: 2. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 080/20 Seite 3 1. Fragestellung 4 2. Gesetzgebungskompetenz des Bundes 4 3. Verordnungen (§ 5 Abs. 2 IfSG) 4 3.1. Abweichung vom Gesetzesvorrang 4 3.2. Inhalt, Zweck und Ausmaß (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG) 8 3.3. Zustimmung des Bundesrates (Art. 80 Abs. 2 GG) 9 4. Anordnungen (§ 5 Abs. 2 IfSG) 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 080/20 Seite 4 1. Fragestellung Der Bundestag hat am 25. März 2020 Änderungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) beschlossen.1 Die Änderungen des § 5 und § 28 IfSG sind am Tag nach der Verkündung in Kraft getreten, mithin am 28. März 2020.2 In seinem Absatz 2 ermächtigt die Neufassung des § 5 Infektionsschutzgesetz das Bundesministerium für Gesundheit, Anordnungen und Rechtsverordnungen zu erlassen. Es stellt sich die Frage, ob diese neue Ermächtigung mit Art. 80 Grundgesetz (GG) und der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern vereinbar ist. 2. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Infektionsschutz und Seuchenbekämpfung gehören zur Gefahrenabwehr, für die grundsätzlich die Länder die Gesetzgebungskompetenz haben.3 Für „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten“ besteht nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Mit dem Erlass des IfSG hat der Bundesgesetzgeber diese genutzt. Soweit der Bund eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz in Anspruch genommen hat, haben die Länder keine weitere Regelungsbefugnis (Art. 72 Abs. 1 GG). 3. Verordnungen (§ 5 Abs. 2 IfSG) 3.1. Abweichung vom Gesetzesvorrang In § 5 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 4, Nr. 7 und Nr. 8 IfSG ermächtigt der Gesetzgeber den Verordnungsgeber, durch Rechtsverordnung Ausnahmen von Gesetzesvorschriften zuzulassen. Das Bundesverfassungsgericht hält dies in bestimmtem Umfang für grundsätzlich zulässig: „Der Gesetzgeber bestimmt den Anwendungsbereich jeder gesetzlichen Vorschrift ebenso wie er ihren Inhalt bestimmt. Es steht ihm auch frei, die Anwendbarkeit einer Vorschrift dadurch zu beschränken, dass er ihr eine Subsidiarität gegenüber bestimmten staatlichen Willensäußerungen niedrigeren Ranges beilegt. Durch den Vorrang des Gesetzes wird diese Befugnis nicht berührt. Der Gesetzgeber kann den Vorrang des Gesetzes als Prinzip nicht beseitigen. Aber er kann einer einzelnen Vorschrift oder auch einer Gruppe von Vorschriften einen subsidiären Charakter geben. […] Generelle Bedenken gegen die Verwendung dieser gesetzgebungstechnischen Formen der Anwendungsbeschränkung von Gesetzen bestehen nicht. Das Grundgesetz hat ihre Existenz und ihre Zulässigkeit vorausgesetzt.“4 1 BT-Drs. 19/18111, Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. 2 Gesetz vom 27. März 2020, Bundesgesetzblatt Teil I 2020 Nr. 14 vom 27. März 2020, S. 587. 3 Denninger, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 6. Auflage 2018, D. Polizeiaufgaben, Rn. 173 ff. 4 BVerfGE 8, 155 (170 f.) – Hervorhebung durch Autor. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 080/20 Seite 5 Das Bundesverfassungsgericht setzt solchen „anwendungsbeschränkenden Verordnungen“ aber klare Grenzen: „Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die Verwendung dieser Formen unbeschränkt möglich ist. Die Grenze liegt dort, wo der Gesetzgeber Vorschriften von solcher Bedeutung und in solchem Umfang für subsidiär erklärt, dass sich dadurch innerhalb des Staatsgefüges eine Gewichtsverschiebung zwischen gesetzgebender Gewalt und Verwaltung ergibt.“5 In dem vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Fall sah das Lastenausgleichsgesetz (LAG)6 in § 345 ein „Verfahren bei Ausgleichsleistungen“ vor, auf die kein Rechtsanspruch bestand. Das Gesetz ermächtigte in § 346 den Präsidenten der Behörde, „das Verfahren abweichend“ zu regeln. Dabei hatte sich der Präsident „im Rahmen dieses Gesetzes, der dazu ergehenden Rechtsverordnungen sowie der Richtlinien der Bundesregierung“ zu bewegen. Die Regelung des Präsidenten betraf die Antragstellung („zuständiges Ausgleichsamt“), die Form („vorgeschriebenes Formblatt“) und organisatorische Einzelheiten des weiteren Entscheidungs- und Widerspruchsverfahrens.7 Das Bundesverfassungsgericht stellte hierzu fest: „Die in den §§ 345, 346 LAG angeordnete Subsidiarität hält sich in einem engen Rahmen. Es kann keine Rede davon sein, dass durch sie eine bedeutsame Veränderung des zwischen Gesetzgebung und Verwaltung bestehenden Gewichtsverhältnisses eintritt. […] Die Grenzen sind eindeutig: Nur die in § 345 gegebenen Bestimmungen sollen gegenüber den allgemeinen Verwaltungsvorschriften des Präsidenten des Bundesausgleichsamts – und nur gegenüber diesen – subsidiär sein. Ein Verstoß gegen das Gebot gesetzgeberischer Klarheit liegt demnach nicht vor […].“8 In späteren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht dieses Verhältnis zwischen Gesetzund Verordnungsgeber weiter konkretisiert: „Sinn der Regelung des Art. 80 Abs. 1 GG ist es, das Parlament darin zu hindern, sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft zu entäußern. Es soll nicht einen Teil seiner Gesetzgebungsmacht der Exekutive übertragen können, ohne die Grenzen dieser Befugnis bedacht und diese nach Tendenz und Programm so genau umrissen zu haben, dass schon aus der Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll […].“9 5 BVerfGE 8, 155 (171) – Hervorhebung durch Autor. 6 Gesetz über den Lastenausgleich vom 14. August 1952 (BGBl. I S. 446). 7 BVerfGE 8, 155 (159 f.). 8 BVerfGE 8, 155 (171) – Hervorhebung durch Autor. 9 BVerfGE 78, 249 (272) – Hervorhebung durch Autor. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 080/20 Seite 6 Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung sind die Ermächtigungen in § 5 Abs. 2 IfSG zum Erlass von Rechtsverordnungen wohl zumindest erheblich problematisch: – Rechtsverordnungen nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG können Ausnahmen vom IfSG schaffen „in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten […], um die Abläufe im Gesundheitswesen und die Versorgung der Bevölkerung aufrecht zu erhalten“. Damit ermächtigt § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG die Exekutive, von einer unüberschaubaren Zahl an gesetzlichen Vorschriften des IfSG abzuweichen: Es ist nach § 1 IfSG „Zweck des Gesetzes […], übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern.“ Ein Großteil der 77 Paragraphen des IfSG dürfte relevant sein, „um die Abläufe im Gesundheitswesen und die Versorgung der Bevölkerung aufrecht zu erhalten“. Welcher dieser Paragraphen dies sein kann, in welchem Umfang und mit welchem „genau umrissenen Programm“10 ist für den Bürger und wohl auch den Gesetzgeber selbst aus der Ermächtigung „nicht erkennbar und vorhersehbar“.11 – Im Vergleich dazu hat der Gesetzgeber in § 5 Abs. 2 Nr. 4 IfSG die Ermächtigung für Rechtsverordnungen programmatisch enger gefasst: Ausnahmen von gesetzlichen Vorschriften betreffen Arzneimittel, Medizinprodukte, Labordiagnostik, Hilfsmittel, Schutzausrüstung und Desinfektionsprodukte. Gleichwohl sind auch hier Ausnahmen von einer unüberschaubaren Zahl an gesetzlichen Vorschriften in insgesamt 5 Gesetzen möglich. Zwar sind diese Ausnahmen zumindest thematisch umrissen: „Herstellung, Kennzeichnung, Zulassung, klinische Prüfung, Anwendung, Verschreibung und Abgabe, Ein- und Ausfuhr, das Verbringen und die Haftung, sowie […] Betrieb von Apotheken einschließlich Leitung und Personaleinsatz“. Dennoch ist zumindest fraglich, ob die „Grenzen“ dieser Ermächtigung damit im Sinne des Bundesverfassungsgerichts „eindeutig“ sind.12 – Auch die Ermächtigung zu Rechtsverordnungen nach § 5 Abs. 2 Nr. 7 IfSG ist programmatisch enger gefasst als § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG: Betroffen ist die „Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung “ in bestimmten Einrichtungen. Ferner ist die Abweichungsbefugnis auf den ersten Blick im Wesentlichen beschränkt auf das Sozialgesetzbuch V (SGB V) und auf in „Bezug genommene“ Gesetze. Das SGB V enthält allerdings 339 Paragraphen. Bereits in den ersten 5 Paragraphen nimmt das SGB V Bezug auf 12 unterschiedliche Gesetze (Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Zweites Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte, Künstlersozialversicherungsgesetz, Bundesversorgungsgesetz, Bundesausbildungsförderungsgesetz , Fremdrentengesetz, Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung, Berufsbildungsgesetz, Vorruhestandsgesetz, Asylbewerberleistungsgesetz , Aufenthaltsgesetz, Freizügigkeitsgesetz). – Das zu § 5 Abs. 2 Nr. 7 IfSG Genannte gilt bei § 5 Abs. 2 Nr. 8 IfSG entsprechend, hier in Bezug auf die „Aufrechterhaltung der pflegerischen Versorgung“ und das einschlägige SGB XI. 10 Vgl. BVerfGE 78, 249 (272): „nach Tendenz und Programm so genau umrissen“. 11 Vgl. BVerfGE 78, 249 (272) – Hervorhebung durch Autor. 12 BVerfGE 8, 155 (171). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 080/20 Seite 7 Bei den vorgenannten Maßnahmen geht es ganz überwiegend um erhebliche Grundrechtseingriffe, insbesondere auch um das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Der Gesetzgeber weist hierauf in § 5 Abs. 5 IfSG selber hin. Auch dieser Umstand spricht gegen die Zulässigkeit einer umfassenden Delegation der Gesetzesabweichung an die Exekutive: „[D]ie Verantwortung für die Freigabe unzureichend getesteter Arzneimittel kann und muss der Gesetzgeber selbst übernehmen.“13 Verfassungsrechtler haben in der kurzen Zeit seit Erlass des Gesetzes bereits entsprechend kritisch reagiert: „Ich halte es […] für verfassungswidrig, wenn ein Ministerium per Notverordnung Gesetze des Bundestags ändern kann, ohne dass der Bundestag eine Möglichkeit hat, dies zu verhindern.“14 „Mit der Ermächtigung eines Bundesministeriums, gesetzesvertretendes Verordnungsrecht zu erlassen, setzt sich das Parlament in Widerspruch zu zentralen Normen der Verfassung.“15 „Gem. § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG-E soll das Bundesministerium für Gesundheit nun ‚durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates‘ Ausnahmen zu Vorschriften des IfSG zulassen können. Das ist mit den Voraussetzungen des Art. 80 Abs. 1 GG schlichtweg nicht zu vereinbaren. Dass ein einzelnes Ministerium und nicht die Bundesregierung als Kollegialorgan ermächtigt wird, macht die Sache sogar noch bedenklicher.“16 „Hier geht es auch nicht um die Außerkraftsetzung vereinzelter Regelungen im Rahmen von Experimentierklauseln, für die solche gesetzesvertretenden Verordnungen diskutiert werden, sondern um die Derogierung großer, nicht abgegrenzter Teile des Gesetzes. Mit Art. 80 Abs. 1 GG ist das nicht zu vereinbaren.“17 „Der Bundestag hat am 25. März in aller Eile ein Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes erlassen, das von Verfassungsrechtlern unter verschiedenen Aspekten als verfassungswidrig 13 Gärditz (Universität Bonn) und Meinel (Universität Würzburg), FAZ vom 26. März 2020, S. 6 (Hervorhebung durch Autor). 14 Kingreen (Universität Regensburg), Süddeutsche Zeitung vom 26. März 2020, S. 6; derselbe, Whatever it Takes? Der demokratische Rechtsstaat in Zeiten von Corona, Verfassungsblog vom 20. März 2020, https://verfassungsblog .de/whatever-it-takes/ (Hervorhebung durch Autor), siehe auch Steinbeis, Sancta Corona, ora pro nobis, Verfassungsblog vom 27. März 2020, https://verfassungsblog.de/sancta-corona-ora-pro-nobis/: „Kompetenzen […] die dem Verfassungsjuristen die Augen aus den Höhlen treten lassen“. 15 Gärditz (Universität Bonn) und Meinel (Universität Würzburg), FAZ vom 26. März 2020, S. 6 (Hervorhebung durch Autor). 16 Thielbörger/Behlert (Universität Bochum), Verfassungsblog vom 30. März 2020, COVID-19 und das Grundgesetz : Neue Gedanken vor dem Hintergrund neuer Gesetze, https://verfassungsblog.de/covid-19-und-das-grundgesetz -neue-gedanken-vor-dem-hintergrund-neuer-gesetze/ (Hervorhebung durch Autor). 17 Möllers (Humboldt-Universität Berlin), Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus, Verfassungsblog vom 26 März 2020, https://verfassungsblog.de/parlamentarische-selbstentmaechtigung-im-zeichen-des-virus/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 080/20 Seite 8 angesehen wird (z.B. Gärditz/Meinel, Möllers), insbesondere weil es die Gesetzesbindung der Exekutive zur Disposition stellt und den Bundesgesundheitsminister zu Abweichungen von gesetzlichen Normen ermächtigt.“18 3.2. Inhalt, Zweck und Ausmaß (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG) Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG schreibt vor, dass bei Erlass einer Rechtsverordnung „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden“ müssen. Das Bundesverfassungsgericht prüft diese Voraussetzung insbesondere anhand folgender drei Kriterien:19 – Selbstentscheidungsformel: Der Gesetzgeber muss selbst die Entscheidung treffen, „dass bestimmte Fragen geregelt werden sollen, […] muss die Grenzen einer solchen Regelung festsetzen und [muss] angeben, welchem Ziel die Regelung dienen soll“.20 – Programmformel: Aus dem Gesetz muss sich ermitteln lassen, „welches vom Gesetzgeber gesetzte ‚Programm‘ durch die Verordnung erreicht werden soll“.21 – Vorhersehbarkeitsformel: Es fehlt an der nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG notwendigen Beschränkung , „wenn die Ermächtigung so unbestimmt ist, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können“.22 Dabei sind Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung unter Heranziehung der allgemeinen Auslegungsgrundsätze aus dem ganzen Gesetz zu ermitteln. Insgesamt müsse „von Fall zu Fall“ entschieden werden. Es sei dem Gesetzgeber nicht verwehrt, Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe in der Ermächtigungsnorm zu verwenden. Die Bestimmtheitsanforderungen sind „von den Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstandes sowie der Intensität der Maßnahme abhängig […]. Geringere Anforderungen sind vor allem bei vielgestaltigen Sachverhalten zu stellen […] oder wenn zu erwarten ist, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse alsbald ändern werden […]. Greift die Regelung erheblich in die Rechtsstellung des Betroffenen ein, so müssen höhere Anforderungen an den Bestimmtheitsgrad der Ermächtigung gestellt werden, als wenn es sich um einen Regelungsbereich handelt, der die Grundrechtsausübung weniger tangiert.“23 18 Murswiek (Universität Freiburg), Tichys Einblick vom 31. März 2020, Raus aus dem Ausnahmezustand!, https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/raus-aus-dem-ausnahmezustand/. 19 Hierzu ausführlich Bauer, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 80 Rn. 32 mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung. 20 BVerfGE 2, 307 (334). 21 BVerfGE 5, 71 (77). 22 BVerfGE 1, 14 (60). 23 BVerfGE 58, 257 (277 f.) – Hervorhebung durch Autor. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 080/20 Seite 9 Für die Zulässigkeit der in § 5 Abs. 2 IfSG eher weit und unbestimmt gefassten Ermächtigungen spricht der „vielgestaltige Sachverhalt“ des Infektionsschutzes, der letztlich das gesamte Gesundheitswesen in seiner ganze Komplexität betrifft. Ferner „ändern sich die tatsächlichen Verhältnisse“ unter Umständen durch Ansteckungen oder Reaktionen in der Bevölkerung und Gesundheitswirtschaft schnell. Gegen die Zulässigkeit der eher weit und unbestimmt gefassten Ermächtigungen sprechen die Notwendigkeit einer Selbstentscheidung der programmatischen Vorgaben, die Vorhersehbarkeit der Verordnungsinhalte und die Grundrechtsintensität (siehe hierzu bereits oben unter Abschnitt 3.1). Insgesamt verbleiben damit gewichtige Bedenken. 3.3. Zustimmung des Bundesrates (Art. 80 Abs. 2 GG) Das IfSG enthält – abgesehen von den §§ 5 und 5a – eine Vielzahl von Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen. Das Wort „Rechtsverordnung“ findet sich in den §§ 6 ff. IfSG insgesamt 91 Mal. Eine Ermächtigung zum Erlass einer „Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates“ sieht allein das IfSG ausdrücklich 12 Mal vor (§§ 13, 14, 15, 20, 24, 36, 38 Abs. 1 und Abs. 2, §§ 42, 43, 50a, 53 IfSG), „ohne Zustimmung des Bundesrates“ nur 6 Mal (§§ 15, 18 Abs. 9 und Abs. 10, §§ 36, 38, 42 IfSG). Der Zustimmungsvorbehalt zugunsten des Bundesrates ist verfassungsrechtlich erforderlich, wenn die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen „im Auftrage des Bundes oder als eigene Angelegenheit ausgeführt werden“ (Art. 80 Abs. 2 GG). Der einfache Gesetzgeber – und erst recht der Verordnungsgeber – können von diesem verfassungsrechtlichen Zustimmungsvorbehalt nicht abweichen. Auch aus diesem Grund bestehen erhebliche Bedenken gegen den in § 5 Abs. 2 IfSG vorgesehenen Erlass der Rechtsverordnungen „ohne Zustimmung des Bundesrates“. Ob die nach § 5 Abs. 2 IfSG „ohne Zustimmung des Bundesrates“ möglichen Rechtsverordnungen dazu führen, dass von anderen Rechtsverordnungen abgewichen wird, die nach weiteren Bestimmungen des IfSG (und anderer Gesetze) der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, lässt sich aufgrund der weitgefassten Ermächtigungen abstrakt nicht klären. Daher lässt sich auch nicht klären, ob nur Zustimmungsvorbehalte betroffen sind, die auf einfachgesetzlicher Grundlage beruhen, oder die nach Art. 80 Abs. 2 GG geboten sind. Rein statistisch jedenfalls überwiegen im IfSG Ermächtigungsgrundlagen, die ausdrücklich eine Zustimmung des Bundesrates erfordern. 4. Anordnungen (§ 5 Abs. 2 IfSG) Die in § 5 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 5 und Nr. 6 IfSG vorgesehenen „Anordnungen“ sind Verwaltungsakte : „Die Anordnung schließt ein behördliches Verwaltungsverfahren ab und bestimmt mit staatlicher Autorität und der Bestandskraft fähiger Wirkung […] unmittelbar die subjektiv-öffentlichen Rechte oder Pflichten der Beteiligten […].“24 24 Von Alemann/Scheffczyk, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, 46. Edition Stand: 01.01.2020, § 35 Rn. 141. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 080/20 Seite 10 Nach Art. 83 GG führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten aus, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt. Für den Infektionsschutz sieht das Grundgesetz keine Sonderregelung zugunsten einer Bundesbehörde vor, wie z. B. in Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG für den „Bundesgrenzschutz“ (Bundespolizei).25 Ferner stützt sich der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 5 IfSG ausdrücklich auf die Gesetzgebungskompetenz zu „übertragbaren Krankheiten“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG).26 Die Ausführung des IfSG ist somit Sache der Länder. Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes können daher nur die Länder Anordnungen nach § 5 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 5 und Nr. 6 IfSG treffen. Dem Wortlaut nach räumt ihnen § 5 Abs. 2 IfSG diese Befugnis nicht ein. Möglicherweise gelten auch aus diesem Grund die Anordnungsbefugnisse des § 5 Abs. 2 IfSG „unbeschadet der Befugnisse der Länder“. Diese Formulierung ist gesetzgebungstechnisch neu. Soweit ersichtlich enthält kein geltendes Gesetz einen entsprechenden Vorbehalt.27 Der Wortlaut des Vorbehalts ist jedoch eindeutig: Die Anordnungsbefugnisse können nur zum Tragen kommen, insoweit die Länder keine „Befugnisse“ haben. Die Verwaltungskompetenz und damit die Anordnungsbefugnis der Länder sind aber umfassend. Nach alledem dürfte in der Praxis kein Raum für das Bundesministerium für Gesundheit bestehen, die Anordnungskompetenzen der § 5 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 5 und Nr. 6 IfSG anzuwenden.28 Demgegenüber scheint die Gesetzesbegründung davon auszugehen, dass der Vorbehalt „unbeschadet der Befugnisse der Länder“ nur die „Vollzugskompetenz der Länder bei der Durchführung der auf Grund dieses Absatzes erlassenen Anordnungen und Rechtsverordnungen“ betrifft,29 und damit nicht den Erlass der Anordnungen selbst. Mit Art. 83 GG ist eine solche Beschränkung der Verwaltungskompetenz der Länder nicht vereinbar. *** 25 Vgl. auch Steinbeis, Sancta Corona, ora pro nobis, Verfassungsblog vom 27. März 2020, https://verfassungsblog .de/sancta-corona-ora-pro-nobis/: „Bundesgesundheitspolizei“ als eine der neuen Kompetenzen, „die dem Verfassungsjuristen die Augen aus den Höhlen treten lassen“. 26 BT-Drs. 19/8111, S. 16. 27 Abfrage der Datenbank „juris“ mit der Suche „unbeschadet der Befugnisse der Länder“. 28 Vgl. auch Thielbörger/Behlert (Universität Bochum), Verfassungsblog vom 30. März 2020, COVID-19 und das Grundgesetz: Neue Gedanken vor dem Hintergrund neuer Gesetze, https://verfassungsblog.de/covid-19-und-dasgrundgesetz -neue-gedanken-vor-dem-hintergrund-neuer-gesetze/: „Die Länder bleiben gem. Art. 83 GG weiter für die Ausführung des Gesetzes zuständig, auch wenn § 5 IfSG dem Bundesgesundheitsministerium nun entgegen dem Grundgesetz Kompetenzen zuzuschustern versucht.“ 29 BT-Drs. 19/8111, S. 20: „Diese Anordnungsbefugnisse [nach § 5 Abs. 2 IfSG] treten neben die Rechtsetzungs- und Verwaltungsbefugnisse der Länder, gleichgültig ob sie nach diesem Gesetz oder auf Grundlage anderer Vorschriften bestehen. Regelungen der Länder dürfen den Regelungen des Bundes in diesem Rahmen nicht widersprechen. Die Vollzugskompetenz der Länder bei der Durchführung der auf Grund dieses Absatzes erlassenen Anordnungen und Rechtsverordnungen bleibt unberührt.“