© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 079/20 Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 2 Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 079/20 Abschluss der Arbeit: 8. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 3 1. Fragestellung 5 2. Freiheitsrechte 6 2.1. Schutzbereich 6 2.2. Eingriff 10 2.3. Schranke 14 2.3.1. Gesetzliche Grundlage 14 2.3.2. Verhältnismäßigkeit 15 2.3.2.1. Legitimes Ziel 15 2.3.2.2. Geeignetheit 15 2.3.2.3. Erforderlichkeit 18 2.3.2.3.1. Einschätzungsspielraum 18 2.3.2.3.2. Verfügbarkeit 19 2.3.2.3.3. Immunisierte („Geheilte“) 21 2.3.2.3.4. Sonstige Bereiche 22 2.3.2.4. Angemessenheit 22 2.3.2.4.1. Grundsatz 22 2.3.2.4.2. Befristung 24 2.3.2.4.3. Kernbereich der Grundrechte 25 2.3.2.4.4. Glaubensfreiheit 26 2.3.2.4.5. Versammlungsfreiheit 27 2.3.2.4.6. Ehe und Familie 28 2.3.2.4.7. Vielzahl der eingeschränkten Grundrechte 29 2.3.2.4.8. Leben gegen Leben? 30 2.3.2.5. Umsetzungsebene 31 3. Gleichheit 31 3.1. Schutzbereich 31 3.2. Ungleichbehandlung innerhalb einer Vergleichsgruppe 31 3.2.1. Gewerbebetrieb 31 3.2.2. Einzelhandel 32 3.2.3. Kontaktverbot 32 3.2.4. Bewegen und Sitzen im Freien 33 3.2.5. Immunisierte („Geheilte“) 33 3.2.6. Mittelbare Auswirkungen 33 3.2.7. Unterschiede zwischen Bundesländern 33 3.3. Rechtfertigung 34 3.3.1. Grundsatz 34 3.3.2. Notwendigkeit der Typisierung 35 3.3.3. Geringere Anforderungen bei Gefahrenabwehr 35 3.4. Umsetzungsebene 36 4. Menschenwürde 36 4.1. Schutzbereich 36 4.2. Eingriff 37 4.2.1.1. Objektformel 37 4.2.1.2. Dauer 38 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 4 4.2.1.3. Soziokulturelles Existenzminium 38 4.2.1.4. Jugendschutz 39 4.2.1.5. Sexueller Missbrauch und häusliche Gewalt 39 4.2.1.6. Suizidgefährdete 40 4.3. Rechtfertigung 41 5. Bestimmtheitsgebot 41 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 5 1. Fragestellung Die Länder können nach § 32 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) im Wege der Rechtsverordnung „Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten […] erlassen“. Die Länder haben von dieser Befugnis Gebrauch gemacht (siehe z. B. die „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahenverordnung des Landes Berlin“).1 Es stellt sich die Frage, ob die in solchen Verordnungen enthaltenen wesentlichen Ge- und Verbote mit dem Grundgesetz vereinbar sind, die insbesondere folgende Bereiche des Alltags betreffen: – Veranstaltungen, Versammlungen, Zusammenkünfte und Ansammlungen, einschließlich des Führens von Anwesenheitslisten; – Gewerbe, Handel, Gastronomie; – Sport; – Besuchsregelungen; – Schulen, Hochschulen; – Bibliotheken; – Kontakte zwischen Personen; – Verlassen der Wohnung; – Mitführen eines Ausweises. Die im Folgenden zitierte Rechtsprechung zu aktuellen Maßnahmen erging ausnahmslos im einstweiligen Verfahren. Sie beruht daher auf einer summarischen Prüfung und ist insoweit vorläufig. Entsprechendes gilt angesichts des kurzen Prüfungszeitraums für diese Ausarbeitung. Ferner betrifft diese Ausarbeitung – anders als alle zitierten Gerichtsbeschlüsse – nicht nur die in einem bestimmten Sachverhalt betroffenen Grundrechte, sondern die gesamte Bandbreite der wesentlichen Grundrechtseingriffe. Die Prüfung kann sich daher nur auf wesentliche Punkte bzw. exemplarische Ausführungen beschränken. Dies gilt auch für die nur punktuelle Auswertung der vielfältigen Landesvorschriften.2 1 https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/#headline_1_10; siehe auch die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und den Bundesländern „Leitlinien zum Kampf gegen die Corona-Epidemie“, vom 16. März 2020, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/meseberg/leitlinien-zum-kampf-gegen-die-corona-epidemie -1730942. 2 Ländervergleichende Übersicht (überwiegend mehrere Verordnungen pro Bundesland): https://brak.de/diebrak /coronavirus/uebersicht-covid19vo-der-laender/; https://www.tagesschau.de/inland/corona-bundeslaender- 101.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 6 2. Freiheitsrechte 2.1. Schutzbereich Die einzelnen Regelungen der Rechtsverordnungen berühren den Schutzbereich insbesondere der folgenden Grundrechte: – Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG – allgemeines Persönlichkeitsrecht: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht „zielt auf die Abwehr von Beeinträchtigungen der engeren persönlichen Lebenssphäre, der Selbstbestimmung und der Grundbedingungen der Persönlichkeitsentfaltung .“3 Die Übergänge zur Menschenwürde und allgemeinen Handlungsfreiheit sind fließend.4 – Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG – informationelle Selbstbestimmung: Der Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung erfasst die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.5 – Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 GG – Leben: Das Recht auf Leben schützt grundsätzlich auch vor Maßnahmen des Staates, die eine Suizidgefahr verstärken.6 – Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG – körperliche Unversehrtheit: Die körperliche Unversehrtheit erfasst die biologisch-physiologische Gesundheit, die psychisch-seelische Gesundheit und die körperliche Integrität, unabhängig von der Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen.7 – Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG – persönliche Freiheit: Vom Schutzbereich erfasst wird in Abgrenzung zu Art. 11 Abs. 1 GG „die persönliche Bewegungsfreiheit im engeren Sinn“.8 Es geht ausschließlich um die Freiheit der körperlichen Bewegung, d. h. das Recht auch kurzzeitig, jeden aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen zugänglichen Ort aufzusuchen oder zu verlassen.9 Ganz kurzfristiges Anhalten einer Person ist nach überwiegender Meinung nicht an Art. 2 Abs. 2 Satz 2, sondern (lediglich) an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen.10 3 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 2 Abs. 1 Rn. 147. 4 Vgl. Lang, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 2 Rn. 34 ff. 5 BVerfGE 65, 1 (43). 6 Vgl. OVG Weimar, Beschluss vom 1. August 2019, 3 EO 276/19, BeckRS 2019, 20706 (Gefahr des Suizids nach der Abschiebung). 7 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 2 Rn. 33 f. 8 Kunig, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 2 Rn. 73, Fußnote des Originals ausgelassen. 9 Lang, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 2 Rn. 84. 10 Kunig, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 2 Rn. 74. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 7 – Art. 4 Abs. 1, 2 GG – Glaubensfreiheit: Das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und der Religionsausübung umfasst sowohl die „innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, d. h. einen Glauben zu bekennen, zu verschweigen, sich von dem bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden“11 als auch die externe Freiheit des „Handelns, des Werbens, der Propaganda“12 und der Ausübung religiöser Gebräuche, wie der Teilnahme an Gottesdiensten.13 – Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG – Informationsfreiheit: Der Schutzbereich der Informationsfreiheit umfasst die „ungehinderte Unterrichtung aus allgemein zugänglichen Quellen und hat damit das Recht auf Informationsempfang zum Gegenstand“.14 Eine Informationsquelle ist allgemein zugänglich, wenn sie „technisch geeignet und bestimmt ist, der Allgemeinheit, d. h. einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu verschaffen“15. Neben Massenkommunikationsmitteln wie Presse, Rundfunk, Fernsehen und Film werden auch Ausstellungen, Flugblätter und Bibliotheken erfasst.16 – Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG – Pressefreiheit: Der Schutzbereich umfasst die Wahrnehmung aller wesensmäßig mit der Pressearbeit im Zusammenhang stehenden Tätigkeiten. Dieser Schutz reicht von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und der Meinung .17 – Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG – Wissenschaftsfreiheit: Wissenschaft ist als Oberbegriff von Forschung und Lehre zu verstehen.18 Bei der Lehre handelt es sich um die Wiedergabe des Erforschten.19 Erfasst wird die universitäre und außeruniversitäre pädagogisch-didaktische Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in jeglicher Form, wie etwa durch Vorlesungen .20 Die Lehrfreiheit beinhaltet auch die freie Wahl des Ablaufs der Lehrveranstaltung.21 11 BVerfGE 24, 236 (245). 12 BVerfGE 24, 236 (245). 13 Kokott, in: Sachs, Grundgesetz 8. Auflage 2018, Art. 4 Rn. 60. 14 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 996. 15 BVerfGE 27, 71 (83). 16 Wendt, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 5 Rn. 23; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 1032. 17 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 271, Fußnote des Originals ausgelassen. 18 Kempen, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 179. 19 Kempen, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 183. 20 Kempen, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 183. 21 Kempen, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 183. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 8 Der Unterricht an allgemeinbildenden Schulen fällt mangels Verbindung zur Forschung nicht in den Schutzbereich der Norm.22 – Art. 6 Abs. 1 GG – Ehe: Das Bundesverfassungsgericht definiert die Ehe als „die auf freiem Entschluss beruhende, auf der Grundlage gleichberechtigter Partnerschaft frei ausgestaltete und staatlich beurkundete Verbindung eines Mannes und einer Frau zur grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft“.23 – Art. 6 Abs. 1 GG – Familie: Der Begriff der Familie erfasst auch Gemeinschaften, die als soziale Familie von einer rechtlichen Elternschaft unabhängig sind.24 Der Familienbegriff ist zudem unabhängig von dem ebenfalls von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Institut der Ehe zu verstehen25 und er besteht unabhängig von einer Blutsverwandtschaft.26 Entscheidend ist, dass zwischen den Familienmitgliedern „tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Beziehungen bestehen27. Über die aus Eltern und ihren Kindern bestehende bürgerliche Kleinfamilie hinaus fallen in den Schutzbereich daher bei Vorliegen einer solchen Bindung u. a. die Beziehungen zwischen „Großeltern und Enkelkindern“, zwischen „nahen Verwandten in der Seitenlinie“ und die „elterliche Gemeinschaft mit Stief-, Adoptiv- und Pflegekindern“.28 Der Schutz besteht unabhängig vom Alter des Kindes, sodass auch die Beziehung zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern erfasst wird,29 wobei es nicht auf das Bestehen einer Hausgemeinschaft ankommt.30 Der grundrechtlich gewährte Schutz wird aber umso schwächer , je schwächer die biologische, rechtliche und soziale Verbindung der Beziehungen ausgestaltet ist.31 – Art. 8 Abs. 1 GG – Versammlungsfreiheit: Der Begriff der Versammlung erfasst „eine aus zwei oder mehr Personen bestehende Gruppe, die durch das Zusammentreffen einen gemeinsamen Zweck verfolgt, der sie innerlich verbindet“.32 Eine einzelne Person fällt damit 22 Kempen, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 183. 23 Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 6 Rn. 2a mit weiteren Nachweisen. 24 Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 6 Rn. 14. 25 Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 6 Rn. 16. 26 Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 6 Rn. 15. 27 Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 6 Rn. 14a, unter Verweis auf BVerfGE 136, 382 (389). 28 Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 6 Rn. 14a f. 29 Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 6 Rn. 19. 30 Coester-Waltjen, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 6 Rn. 11. 31 Coester-Waltjen, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 6 Rn. 11. 32 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 8 Rn. 24. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 9 nicht in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit. Als Auffanggrundrecht greift aber die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. – Art. 11 Abs. 1 GG – Freizügigkeit: Das Grundrecht der Freizügigkeit erfasst das Recht „an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen [und] auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen“.33 In Abgrenzung zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG handelt es sich um Aufenthalte „zwecks Wohnsitzbegründung im Sinne einer Verlagerung des alltäglichen Lebensschwerpunkts“.34 Die Aufenthaltsfreiheit umfasst auch die Freiheit, an einem Ort vorübergehend oder längerfristig zu verweilen, ohne einen Wohnsitz zu begründen. In Abgrenzung zur Bewegungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG wird unter Freizügigkeit ein Ortswechsel von einiger Bedeutung und Dauer verstanden.35 – Art. 12 Abs. 1 GG – Berufsfreiheit: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfasst der Schutzbereich der Berufsfreiheit „jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit […], die auf gewisse Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient“.36 Erfasst werden auch Zweitberufe, Nebentätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten und Ferienjobs.37 Art. 12 Abs. 1 GG schützt zudem die freie Wahl der Ausbildungsstätte: „Hierzu zählen insbesondere Universitäten und Fachhochschulen […] sowie Berufs- und sonstige berufsbildende Schulen.38 Nicht in den Schutzbereich fallen allgemeinbildende Schulen, weil der unmittelbare Bezug zur späteren Berufstätigkeit fehlt.39 – Art. 13 Abs. 1 GG – Unverletzlichkeit der Wohnung: Schutzgut ist die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet.40 – Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG – Eigentum: Der Eigentumsschutz im Bereich des Privatrechts betrifft grundsätzlich „alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf.“41 Ob künftige Umsätze eines Betriebs unter den Schutz des Eigentums fallen, ist umstritten.42 Ebenso 33 Pagenkopf, in: Sachs Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 11 Rn. 14, Fußnoten des Originals ausgelassen. 34 OVG Berlin-Brandenburg (11. Senat), Beschluss vom 23. März 2020, OVG 11 S 12/20, BeckRS 2020, 4408, Rn. 4. 35 Pagenkopf, in: Sachs Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 11 Rn. 16. 36 BVerfGE 102, 197 (212). 37 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 38. 38 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 61. 39 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 62. 40 Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 13 Rn. 1. 41 BVerfGE 83, 201 (209); 101, 239 (258); 112, 93 (107). 42 Wendt, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 14 Rn. 44, 49. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 10 ist umstritten, inwieweit das Recht am eingerichteten Gewerbebetrieb Art. 14, Art. 12 GG oder beiden Grundrechten unterfällt.43 – Art. 2 Abs. 1 – Allgemeine Handlungsfreiheit: Das Recht der Allgemeinen Handlungsfreiheit ist im Verhältnis zu den anderen Grundrechten als „Auffangrecht“44 konzipiert. Es schützt „jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt“.45 Auch banale Tätigkeiten und alltägliche Verhaltensweisen genießen Grundrechtsschutz.46 2.2. Eingriff Grundsätzlich greifen die in den „Eindämmungsverordnungen“ enthaltenen Ge- und Verbote in den Schutzbereich der Freiheitsrechte wohl insbesondere wie folgt ein: – Allgemeines Persönlichkeitsrecht: Besuchsverbote und Besuchsbeschränkungen können die persönliche Selbstbestimmung beeinträchtigen.47 – Informationelle Selbstbestimmung: Die Verpflichtung zur Vorlage eines Ausweises führt zu einer Datenübertragung und greift insoweit in den Schutzbereich ein.48 Auch die Verpflichtung zum Erstellen von Anwesenheitslisten bei ausnahmsweise zugelassenen Zusammenkünften führt zu einer Datenverarbeitung und damit zu einem Eingriff. Entsprechendes gilt auch für das Offenlegen der Gründe für den Aufenthalt im öffentlichen Raum auf Nachfrage der Polizei. Auch das Überwachen der Öffentlichkeit mit Drohnen legt einen Eingriff nahe.49 43 Wendt, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 14 Rn. 49, 67. 44 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 2 Abs. 1 Rn. 15, Fußnoten des Originals ausgelassen. 45 BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 1989, 1 BvR 921/85, BeckRS 9998, 164952. 46 Dreier, in: Dreier Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 1 Rn. 26. 47 Im Kontext der Untersuchungshaft: BVerfGE 34, 384 (396 ff.); 49, 24 (57, 59 ff.); BVerfG, NJW 1995, 1478 f. (die beiden letztgenannten erwähnen ausdrücklich nur die allgemeine Handlungsfreiheit, nicht aber das allgemeine Persönlichkeitsrecht). 48 Vgl. BVerwG NJW 2008, 3080 (Ausweispflicht von Taxifahrern). 49 Tagesspiegel vom 4. April 2020, Überwachung wegen Covid-19, Auch in Deutschland überwachen Drohnen die Corona-Maßnahmen, https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/ueberwachung-wegen-covid-19-auch-in-deutschland -ueberwachen-drohnen-die-corona-massnahmen/25714280.html: „‘Kleinere Personengruppen wurden an beliebten Treffpunkten über in den Drohnen verbaute Lautsprecher zum Verlassen der Plätze aufgefordert‘, heißt es weiter. Die Einsatzerfahrung mit den Drohnen sei positiv.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 11 – Leben: Nach Ansicht von Interessenverbänden50 und Experten führt eine längere Ausgangsbeschränkung zu steigenden Suizidzahlen.51 Auch sollen die Kontaktbeschränkungen Presseberichten zufolge wohl zu höheren Sterblichkeitsraten in Alten- und Pflegeheimen geführt haben.52 Bei hinreichend gesicherter Kausalität zu den Ausgangssperren ließe sich argumentieren , dass nach den Maßstäben der Rechtsprechung53 ein Eingriff in das Recht auf Leben vorliegt. – Körperliche Unversehrtheit: Der längere Aufenthalt in Wohnungen, die Einschränkung der körperlichen Bewegung und letztlich mehr oder weniger alle Beschränkungen können sich mittelbar auf die Gesundheit auswirken, z. B. in Form einer Depression. Nach herrschender Meinung liegt bei nur geringfügiger Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit durch rein äußerliche Maßnahmen (z. B. Beschränkung von Erholungsmöglichkeiten) kein Eingriff vor.54 Nach teilweiser Auffassung in der Literatur sollen dagegen auch geringfügige, mittelbare Beeinträchtigungen Eingriffsqualität haben.55 – Persönliche Freiheit: Die Verpflichtung zum grundsätzlichen Aufenthalt in der Wohnung ist eine Freiheitsbeschränkung.56 Ein Teil der Literatur argumentiert, dass eine elektronische Fußfessel eine Freiheitsentziehung darstellt.57 Vor diesem Hintergrund könnte die Verpflich- 50 Siehe z. B. Tag24 vom 30. März 2020, Einsamkeit in Corona-Zeiten: Experten befürchten mehr Suizide, https://www.tag24.de/thema/coronavirus/coronavirus-einsamkeit-suizid-telefonseelsorge-hilfe-angst-muenchen -1473642. 51 Krause, Abteilungsleiter Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, ZDFheute vom 29. März 2020, Epidemiologe alarmiert – Kontaktsperre und Co gefährlicher als Corona?, „Wir wissen, dass zum Beispiel Arbeitslosigkeit Krankheit und sogar erhöhte Sterblichkeit erzeugt. Sie kann Menschen auch in den Suizid treiben“, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-epidemiologe-folgen-helmholtz- 100.html. 52 Die Zeit, Alt Einsam Bedroht, 2. April 2020, S. 13: „Das Besuchsverbot soll das Leben der Bewohner schützen. Aber Corinna Sauter weiß, dass es das Leben der Bewohner zugleich unerträglich macht. Zum Beispiel das Leben derer, die kaum noch sehen und hören können und für die die Berührungen ihrer Kinder und Enkel die wichtigste Form der Zuwendung sind. Oder das Leben jener, in deren Köpfen sich die Demenz ausbreitet und denen der regelmäßige Besuch der Verwandten so sehr hilft im Kampf gegen das Vergessen. […] Dass es am Ende des Winters, wenn die Grippesaison ihren Höhepunkt erreicht, mehr Todesfälle gebe als sonst, sei normal. Aber derart viele Bewohner, denen innerhalb derart kurzer Zeit die Lebenskraft schwindet, das habe sie noch nie erlebt.“ 53 Siehe oben Fn. 6. 54 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage, Art. 2 Abs. 2 Rn. 49. 55 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage, Art. 2 Abs. 2 Rn. 50 f. 56 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 2 Rn. 103: „Auch wenn der einzelne unter Zwangsandrohung ‚freiwillig‘ hoheitlichen Anordnungen zum Bleiben oder Folgen nachkommt, liegt eine Freiheitsbeeinträchtigung vor.“ 57 Niedzwicki, NdsVBl. 2005, 257 ff. Vgl. auch LG Bonn, Urteil vom 10. Mai 2013, 27 KLs 430 Js 958/09 - 03/11, BeckRS 2015, 08222: Hausarrest mit elektronischer Fußfessel als freiheitsentziehende Maßnahme. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 12 tung zum grundsätzlichen Aufenthalt in der Wohnung auch eine Freiheitsentziehung darstellen , wenngleich sie wohl weniger grundrechtsintensiv ist, als das Tragen einer elektronischen Fußfessel. – Glaubensfreiheit: Die Beschränkung von Zusammenkünften von Angehörigen einer Glaubensgemeinschaft inner- oder außerhalb von Häusern einer Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaft wie Kirchen, Synagogen und Moscheen greift in die Glaubensfreiheit ein. Dies gilt auch für erlaubte Kontakte, insoweit die Bürger diese aber der Polizei gegenüber glaubhaft machen müssen. – Informationsfreiheit: Insoweit das Verlassen der Wohnung beschränkt ist, können sich Bürger nicht mehr durch den Besuch von Gerichtsverhandlungen oder Sitzungen von Parlamenten als Zuschauer informieren. Damit liegt ein Eingriff vor.58 Ein Eingriff besteht zudem durch das Verbot, Bibliotheken aufzusuchen.59 – Pressefreiheit: Auch mittelbare und mittelbar-faktische Eingriffe sind relevant.60 So dürfte die Pressefreiheit allein schon dadurch betroffen sein, dass Journalisten sich bei Recherchen außer Haus gegenüber der Polizei müssen erklären können. Ferner dürfen Informanten Journalisten zu einem Gespräch nicht mehr aufsuchen. Insgesamt gestalten sich Recherchen schwieriger.61 – Wissenschaftsfreiheit: Ein Lehrverbot greift in die Wissenschaftsfreiheit ein, ebenso das Verbot für Forscher, die Räumlichkeiten der Universität nutzen zu können (z. B. Bibliothek, Forschungsräume). – Ehe und Familie: Kontaktbeschränkungen unter Eheleuten oder Mitgliedern der Familie greifen in den Schutzbereich ein. Dies gilt auch für erlaubte Kontakte, insoweit die Familienmitglieder diese aber der Polizei gegenüber glaubhaft machen müssen. – Versammlungsfreiheit: Ein generelles Versammlungsverbot greift in die Versammlungsfreiheit ein. 58 Schemmer, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 27. 59 Vgl. Grabenwarter, in : Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 1032. 60 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 386 f. 61 Die Zeit, Alt Einsam Bedroht, 2. April 2020, S. 13: „Bedingungen der Recherche: Eigentlich ist das Betreten der meisten Altenheime derzeit strikt verboten. Das örtliche Gesundheitsamt und der private Heimbetreiber fanden eine Berichterstattung aber so wichtig, dass sie der ZEIT erlaubten, das Haus Raichberg für ein paar Stunden zu besuchen. Den beiden Autoren wurde vor Betreten des Heimes Fieber gemessen. Dann durften sie sich, in Schutzkleidung gehüllt und unter strenger Einhaltung des Sicherheitsabstandes, einen kurzen Eindruck vom Heim machen. In den darauffolgenden Tagen ließ die Heimleiterin Corinna Sauter sie über Videoanrufe an ihrer Arbeit teilhaben. Das Geschehen vor dem Heim, etwa die Einlieferung der Patientin mit der Oberschenkelfraktur, haben sie von draußen verfolgt. Die Reporter haben alle Angehörigen persönlich besucht.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 13 – Freizügigkeit: Eingriffe sind hier eher fernliegend62, da – soweit ersichtlich – Wohnortwechsel, z. B. durch Umzüge, weiterhin möglich sind. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sich die Ge- und Verbote derart verdichten, dass Wohnortwechsel zumindest erschwert werden (z. B. weil Wohnungsbesichtigungen nicht mehr möglich sind).63 Ferner haben vereinzelte Landkreise „Einreiseverbote“ auf Grundlage einer „SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung“ erlassen. Damit ist die Nutzung von Nebenwohnungen (sogenannten Zweitwohnungen) im Landkreis aus touristischen Gründen untersagt.64 – Berufsfreiheit: Eingriffe liegen insbesondere vor, indem Ausbildungen nicht mehr angetreten, fortgeführt oder abgeschlossen werden können; Berufe können nicht mehr ausgeübt werden, einschließlich Gewerbe. – Unverletzlichkeit der Wohnung: Das Gebot, die Wohnung nicht zu verlassen, ist eher kein Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung. Art. 13 GG ist ein Abwehrrecht gegen ein Eindringen von außen und kein Freiheitsrecht, nach außen dringen zu dürfen. – Eigentum: Es ist denkbar, dass die Ge- und Verbote dazu führen, dass Rechtspositionen eines Gewerbetreibenden beeinträchtigt oder vernichtet werden, auf deren Fortbestand der Betriebsinhaber vertrauen konnte.65 Insoweit lässt sich ein Eingriff begründen. Das Gleiche gilt z. B. für Forderungen, die Eigentümer aufgrund des weitgehenden Stillstands der Rechtspflege nicht durchsetzen können. – Allgemeine Handlungsfreiheit: Beschränkungen bezüglich des Verweilens auf Parkbänken, sportlicher Aktivitäten oder Spaziergängen mit dem Hund stellen einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit dar, ebenso wie das Gebot, einen Ausweis mit sich zu führen. 62 So wohl auch OVG Berlin-Brandenburg (11. Senat), Beschluss vom 23. März 2020, 11 S 12/20, BeckRS 2020, 4408, Rn. 6: „Es fehlt bereits an einem Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts. Freizügigkeit im Sinne des Art. 11 Abs. 1 GG bedeutet das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen. […] Damit erfasst Art. 11 Abs. 1 GG die Ortswahl zwecks Wohnsitzbegründung im Sinne einer Verlagerung des alltäglichen Lebensschwerpunkts. Die Freizügigkeit ist aber nicht im Sinne einer allgemeinen räumlich -körperlichen Bewegungsfreiheit zu verstehen, die durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG speziell geschützt wird.“ 63 Wollenschläger, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 11 Rn. 44: „Ein Eingriff liegt [...] bei einer derart hohen Belastungsintensität vor, dass der Zu- bzw. Wegzug faktisch verunmöglicht ist“, unter Verweis auf die Rechtsprechung. 64 Pressemitteilung des VG Potsdam vom 1. April 2020, https://www.juris.de/jportal/portal /page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA200400942&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp. 65 Wendt, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 14 Rn. 47. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 14 Insgesamt spricht die Rechtsprechung daher von „massiven Eingriffen“ und kommt zu der Feststellung , „dass die in der Hauptsache angegriffenen Normen außerordentlich weitreichende – in der jüngeren Vergangenheit beispiellose […] – Einschränkungen der Freiheitsrechte sämtlicher Menschen begründet“.66 2.3. Schranke 2.3.1. Gesetzliche Grundlage In vorgenannte Grundrechte kann nur „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ oder durch „allgemeine Gesetze“ eingegriffen werden (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 5 Abs. 2, Art. 8 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Satz 2, Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Die bisherige Rechtsprechung hat die alte Fassung des § 28 Abs. 1 IfSG als ausreichende Rechtsgrundlage für Allgemeinverfügungen zum Infektionsschutz angesehen.67 Dies gilt auch für Verordnungen nach § 32 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG. Der Bundestag hat am 25. März 2020 Änderungen des Infektionsschutzgesetzes beschlossen.68 Die Änderungen des § 28 IfSG sind am Tag nach der Verkündung in Kraft getreten, mithin am 28. März 2020.69 Die Änderungen bieten weitere Anhaltspunkte dafür, dass § 28 Abs. 1 IfSG grundsätzlich eine gesetzliche Grundlage für notwendige Schutzmaßnahmen bietet.70 Im Übrigen wird im Folgenden unterstellt, dass die Rechtsgrundlagen formell ordnungsgemäß zustande gekommen sind und das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) einhalten. 66 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. März 2020, 20 NE 20.632, juris, Rn. 34 (Hervorhebung durch Autor); siehe auch OVG Berlin-Brandenburg (11. Senat), Beschluss vom 23. März 2020, OVG 11 S 12/20, BeckRS 2020, 4408, Rn. 6: „ein Eingriff in die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG)“; ferner Papier, Süddeutsche Zeitung vom 1. April 2020, „Selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet“, https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-grundrechte-freiheit-verfassungsgericht-hans-juergen-papier- 1.4864792?reduced=true: Ausgangsbeschränkungen führen zu „schwerwiegenden Grundrechtseingriffen“. 67 Näher hierzu: Wissenschaftliche Dienste, WD 3 - 3000 - 086/20, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz . 68 BT-Drs. 19/18111, Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. 69 Gesetz vom 27. März 2020, Bundesgesetzblatt Teil I 2020 Nr. 14 vom 27. März 2020, S. 587. 70 Näher hierzu: Wissenschaftliche Dienste, WD 3 - 3000 - 086/20, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 15 2.3.2. Verhältnismäßigkeit Ein Eingriff in Grundrechte muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dies setzt voraus, dass der Eingriff ein legitimes Ziel in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgt. 2.3.2.1. Legitimes Ziel Der „Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere eine Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems“ sind ein legitimes Ziel für Grundrechtseingriffe.71 2.3.2.2. Geeignetheit Das „Corona-Virus“ überträgt sich wohl vor allem durch soziale Kontakte. Daher sind Maßnahmen , die darauf gerichtet sind, soziale Kontakte zu verringern oder zu verhindern, geeignet, die Gesundheit der Bevölkerung und das Funktionieren des Gesundheitssystems zu schützen. Bei der Beurteilung der Geeignetheit staatlicher Maßnahmen, steht Gesetzgeber und Exekutive ein Einschätzungsspielraum zu. Hierauf weist auch die Rechtsprechung zu den aktuellen Infektionsschutzmaßnahmen im Zusammenhang mit dem „Corona-Virus“ hin: „Das weitreichende Verbot der Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels ist geeignet, die weitere Verbreitung des Virus und vor allem die Verbreitungsgeschwindigkeit einzudämmen . Das Verbot verhindert eine Interaktion von Kunden und Personal. Zudem ist es geeignet, die Bevölkerung zu bewegen, vermehrt zu Hause zu bleiben und nur notwendige Besorgungen zur Befriedigung des täglichen Bedarfs zu tätigen. Bei der Auswahl und Beurteilung der Wirksamkeit von Maßnahmen zur Bekämpfung einer neuartigen Viruserkrankung muss den zuständigen Gesundheitsbehörden zudem ein Beurteilungsspielraum zugebilligt werden. Wie oben dargestellt gehen die Aussagen verlässlicher Experten dahin, dass Maßnahmen der sozialen Distanzierung (wie die Schließung von Geschäften) neben anderen Maßnahmen ein wichtiger und entscheidender Baustein bei der Verlangsamung der Ausbreitung der Infektion sind.“72 „Diese massiven Eingriffe [durch Ausgangsbeschränkungen] sind aber – soweit im Eilverfahren feststellbar – von einer hinreichend bestimmten, ihrerseits verfassungskonformen gesetzlichen Grundlage getragen und zur Erreichung eines legitimen Ziels – unmittelbar der befristeten Verhinderung weiterer Infektionsfälle, mittelbar der Gewährleistung einer möglichst umfassenden medizinischen Versorgung von Personen, die an COVID-19 erkrankt sind – geeignet.“73 71 So auch VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020, 5 V 553/20, juris, Rn. 43, zum „bezweckten Erfolg“ der „SARS- CoV-2-Eindämmungsverordnung“ (Hervorhebung durch Autor); siehe auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. März 2020, 20 NE 20.632, juris, Rn. 34: „Verhinderung weiterer Infektionsfälle“ und „Gewährleistung einer möglichst umfassenden medizinischen Versorgung von Personen“ als „legitimes Ziel“. 72 VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020, 5 V 553/20, juris, Rn. 39 (Hervorhebung durch Autor). 73 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. März 2020, 20 NE 20.632, juris, Rn. 34 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 16 „Unter Berücksichtigung dieser fachlichen Zusammenhänge liegt auf der Hand, dass die getroffenen Maßnahmen durchaus geeignet sind, einzelne Infektionsketten zu unterbrechen bzw. eine rasch fortschreitende Ansteckung anderer Personen einzudämmen.“74 „Sie [Schließungsmaßnahmen] sind geeignet, weil durch eine Schließung der betroffenen Sport- und Freizeitstätte verhindert wird, dass sich Menschen dort aufhalten und sich oder andere mit SARS-CoV-2 infizieren.“75 Dabei gilt der „im allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz […], dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Dafür sprechen das Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen (§ 1 Abs. 1, § 28 Abs. 1 IfSG), sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Es erscheint sachgerecht, einen am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, ‚flexiblen‘ Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen […].“76 In wenigen Einzelfällen aber hat die Rechtsprechung die Geeignetheit verneint. In einem Fall hat ein Verwaltungsgericht eine Allgemeinverfügung eines Landkreises auf Grundlage der Brandenburger „SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung“ für nicht geeignet gehalten. Die Allgemeinverfügung untersagte die Nutzung von Nebenwohnungen (sogenannten Zweitwohnungen) im Landkreis aus touristischen Gründen. In der Pressemitteilung zu der Entscheidung heißt es: „Nach der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann derzeit nicht festgestellt werden, dass die in Rede stehende Untersagung gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes zur Verhinderung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 erforderlich [gemeint ist: geeignet] ist. Denn entgegen der Annahme des Landkreises dränge sich eine absehbare Kollabierung des Gesundheitssystems des Landkreises infolge eines erhöhten Anstiegs der Ansteckungsgefahr wegen der bevorstehenden Anreise von Zweitwohnungsnutzern keinesfalls auf. Zwar sei es ein berechtigtes Anliegen zu verhindern, dass die medizinischen Kapazitäten, insbesondere im Bereich der Intensivmedizin, infolge einer zunehmenden Ausbreitung der Infektion nicht überschritten werden. Inwieweit allerdings ein Zusammenhang zwischen 74 VG Bayreuth, Beschluss vom 11. März 2020, B 7 S 20.223, juris, Rn. 52 (Hervorhebung durch Autor). 75 VG Hamburg, Beschluss vom 27. März 2020, 14 E 1428/20, juris, Rn. 60, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13771374/70d4d8e4a9bc41aed170cf2c2e01a9f0/data/14-e-1428-20.pdf (Hervorhebung durch Autor). 76 VG Bayreuth, Beschluss vom 11. März 2020, B 7 S 20.223, juris, Rn. 45 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 17 der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems im Versorgungsgebiet und der Nutzung von Nebenwohnungen bestehe, sei derzeit nicht ersichtlich [...].“77 Die vorstehenden Erwägungen dürften auch für das Verbot touristischer Reisen in ein anderes Bundesland gelten, unterstellt man, dass Touristen angesichts der allgemeinen Kontaktbeschränkungen mit den „Einheimischen“ weniger Kontakte haben dürften, als die „Einheimischen“ untereinander. Dies gilt erst Recht für allein Reisende. Aufgrund des Beherbergungsverbots und der Schließung der Gastronomie dürften Touristen nicht viel mehr als die Natur genießen wollen und können. Insoweit dürfte ein Verbot touristischer Reisen wie in § 4 der „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung “78 Mecklenburg-Vorpommern nicht geeignet und damit unverhältnismäßig sein. Ferner bestehen begründete Zweifel, ob eine Ausweispflicht79 geeignet ist, den Zwecken des IfSG zu dienen: „Zudem ist fraglich, welchem Zweck im Sinne der Schutzziele des IfSG eine Feststellung der Wohnanschrift haben könnte, sodass Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Ausweispflicht in Corona-Verordnungen bestehen. Zwar käme als legitimer Zweck in Betracht, die Einhaltung einer Beschränkung des Aufenthalts im öffentlichen Raum zu kontrollieren, jedenfalls unter der Prämisse, dass diese selbst verfassungsmäßig sei. Allerdings stellt sich die Frage, ob ein Ausweisdokument oder ein Nachweis des Wohnsitzes bei einer Kontrolle die Einhaltung des Kontaktverbotes belegen kann. Ausnahmegründe können nur durch das Vorbringen der betroffenen Personen oder spezielle Dokumente glaubhaft gemacht werden. Das Ausweisdokument enthält nur Angaben wie Namen, Alter, Körpergröße und Meldeanschrift, die keinen Bezug zu den Ausnahmegründen haben. Sofern zwei Menschen zusammen unterwegs sind, müssen sie ihren gemeinsamen Wohnsitz nicht nachweisen, da sie nach § 14 Abs. 3 lit. i Corona-VO Berlin zusammen unterwegs sein dürfen. Auch wäre es nicht rechtmäßig, mit dem Ausweis zu prüfen, ob sich eine Person in der Nähe ihrer Wohnung befindet. Denn es ist 77 Pressemitteilung des VG Potsdam vom 1. April 2020, https://www.juris.de/jportal/portal /page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA200400942&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht .jsp (Hervorhebung durch Autor); anders im Ergebnis aber z. B. Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein, Beschluss vom 2. April 2020, 3 MB 11/20, juris. 78 § 4 Abs. 1: „Touristische Reisen aus privatem Anlass in das Gebiet des Landes Mecklenburg-Vorpommern sind untersagt. Dies gilt insbesondere für Reisen, die zu Freizeit- und Urlaubszwecken und zu Fortbildungszwecken unternommen werden; in der Fassung der Dritten Verordnung vom 23. März 2020, https://www.regierungmv .de/static/Regierungsportal/Ministerium%20f%C3%BCr%20Wirtschaft%2c%20Arbeit%20und%20Gesundheit /Dateien/Downloads/GVOBl%20Nr%206%20vom%2018.%20M%C3%A4rz%202020%20-%20Corona.pdf; https://www.regierung-mv.de/static/Regierungsportal/Ministerpr%C3%A4sidentin%20und%20Staatskanzlei /Dateien/pdf-Dokumente/Verordnung%2021.3.20%20%281%29.pdf; https://www.regierung-mv.de/static/Regierungsportal /Ministerium%20f%C3%BCr%20Wirtschaft%2c%20Arbeit%20und%20Gesundheit/Dateien /Downloads/2.AK_GVO_8_corona_sonder.pdf; siehe hierzu auch Berliner Kurier vom 25. März 2020, Es gibt wieder eine innerdeutsche Grenze, https://www.berliner-kurier.de/berlin/es-gibt-wieder-eine-innerdeutschegrenze -li.79461. 79 Siehe auch § 17 der „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin .de/corona/massnahmen/verordnung/ in der bis 1. April 2020 geltenden Fassung („Die Ausweispflicht (§ 17) ist aufgehoben“, Pressemitteilung des Senats von Berlin vom 2. April 2020, https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles /pressemitteilungen/pressemitteilung.915476.php). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 18 (bisher) grundsätzlich nicht verboten, sich in einer weiteren Entfernung vom Wohnsitz aufzuhalten . Viele Menschen haben zudem Zweitwohnsitze (hierzu Thiele) – eine Residenz- und Aufenthaltspflicht in der Erstwohnung gibt es nicht. Ein Aufenthalt jenseits einer weder im Gesetz oder der Verordnung definierten ‚Umgebung‘ der Wohnung kann aufgrund von verschiedenen Ausnahmegründen der Verordnung gerechtfertigt sein, auch aufgrund der Zulässigkeit von Sport und Bewegung im Freien. Dass nur kurze Spaziergänge umfasst sind, steht nicht in der Verordnung.“80 2.3.2.3. Erforderlichkeit 2.3.2.3.1. Einschätzungsspielraum Bei der Frage gleich wirksamer, aber weniger einschneidender Maßnahmen, wie z. B. freiwilliger Impfungen steht dem Verordnungsgeber nach der Rechtsprechung ein Einschätzungsspielraum zu: „Für die Beurteilung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der angeordneten Maßnahmen dürfte dem Verordnungsgeber grundsätzlich ein Einschätzungsspielraum zuzubilligen sein […]. Für dessen Überschreitung ist hier nichts ersichtlich. Die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 und COVID-19 ist von der WHO als Pandemie eingestuft worden. Die Erfahrungen in anderen Staaten zeigen, dass die exponentiell verlaufende Verbreitung des besonders leicht von Mensch zu Mensch übertragbaren Virus nur durch eine strikte Minimierung der persönlichen Kontakte zwischen den Menschen eingedämmt werden kann.“81 „Im Blick auf die Erforderlichkeit der angegriffenen Regelungen kann der Senat zumindest im Rahmen des Eilverfahrens nicht feststellen, dass andere zur Erreichung des Ziels der Verhinderung weiterer Infektionen mit COVID-19 möglicherweise ebenfalls geeignete Regelungsmodelle – wie insbesondere der bundesweit empfohlene Ansatz, den Aufenthalt im öffentlichen Raum nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands zu gestatten […] – in ihrer Wirkung dem vom Antragsgegner gewählten Regelungsmodell eines präventiven Ausgangsverbots gleichkommen und daher als milderes Mittel in Betracht zu ziehen sind. In einer durch zahlreiche Unsicherheiten und sich ständig weiterentwickelnde fachliche Erkenntnisse geprägten epidemischen Lage wie der vorliegenden ist dem Verordnungsgeber jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt der Entwicklung eine Einschätzungsprärogative im Hinblick auf das gewählte Mittel einzuräumen, soweit und solange sich nicht andere Maßnahmen eindeutig als gleich geeignet und weniger belastend darstellen. Eine solche eindeutige Feststellung ist hier nicht möglich. Allein der 80 Fährmann/Arzt/Aden, Ausweispflicht per Corona-Verordnung? Verordnungsgeber missachten rechtsstaatliche Grenzen, Verfassungsblog vom 29. März 2020, https://verfassungsblog.de/ausweispflicht-per-corona-verordnung / (Hervorhebung durch Autor). 81 OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat, 23. März 2020, 11 S 12/20, BeckRS 2020, 4408, Rn. 10 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 19 Umstand, dass andere Verordnungsgeber bei vergleichbaren äußeren Umständen und Regelungszielen ein abweichendes Regelungsmodell gewählt haben, führt jedenfalls nicht dazu, dass die hier streitgegenständlichen Regelungen als unverhältnismäßig anzusehen wären.“82 2.3.2.3.2. Verfügbarkeit Das Verwaltungsgericht Hamburg hat sich mit der Möglichkeit milderer Mittel ausführlich auseinandergesetzt : „Sie [Maßnahmen] sind auch erforderlich, weil mildere, aber gleich wirksame Mittel nicht ersichtlich sind. Dies gilt insbesondere für die von der Antragstellerin vorgeschlagenen Maßnahmen (Beschränkung der Besucherzahl, regelmäßige Flächen- und Gerätedesinfektion). Diese sind zur Erreichung des angestrebten Zwecks, die Zahl der Übertragungen des Virus und (daraus folgend) der Erkrankungen möglichst gering zu halten, schon nicht gleich wirksam. Allein eine Öffnung des Trampolinparks und anderer Sport- und Freizeiteinrichtungen für den Publikumsverkehr würde – unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Betriebs – bereits zu einer gewissen Sogwirkung dahingehend führen, dass Menschen sich, um zu den entsprechenden Einrichtungen zu gelangen, in der Öffentlichkeit bewegen, was aus den beschriebenen Gründen möglichst vermieden werden soll. […] Zudem kommt es gerade beim Trampolinspringen und bei der Nutzung von Kletteranlagen zu einer Vielzahl von nicht im Einzelnen nachvollziehbaren Kontakten zwischen Mensch und Gerät, die die Wahrscheinlichkeit von Schmierinfektionen erhöht. Wie die Antragstellerin dieses Problem durch Nutzung scanbarer Banderolen für alle Besucher lösen will, ist nicht ersichtlich. Ebenso wenig ist vorstellbar, dass jede einzelne Anlage nach jeder Benutzung vollständig desinfiziert werden kann […]. Auch die Rechnung der Antragstellerin, unter Zugrundelegung einer Fläche von 5.000 Quadratmetern und einer Besucherzahl von 50 Personen gleichzeitig habe jede Person 100 Quadratmeter Sportfläche für sich, bleibt letztlich schematisch und damit inhaltlich unzutreffend […]. Aus diesen Gründen erscheint es auch offensichtlich, dass die Antragsgegnerin nicht gehalten war, für jeden der in Hamburg existierenden Fitness-, Sport- und Freizeitbetriebe individuell zu prüfen, welche risikoverringernden Maßnahmen theoretisch möglich und praktisch realisierbar wären (so auch VG Köln, Beschluss vom 20.3.2020, 7 L 520/20, n.v., für den Betrieb einer Spielhalle). […] Die von der Antragstellerin vorgeschlagenen Maßnahmen dürften sich zudem – unter Zugrundelegung einer betriebswirtschaftlichen Betrachtung, die bei der Prüfung 82 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. März 2020, 20 NE 20.632, juris, Rn. 60 (Hervorhebung durch Autor); siehe auch Papier, Süddeutsche Zeitung vom 1. April 2020, „Selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet“, https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-hessen-politiker-1.4862073: „Es werden ja Alternativen diskutiert, etwa mehr Tests, Atemschutzmasken, Ausrichtung auf die Schutzbedürftigen . Es wäre fatal, wenn wir wegen offensichtlicher Mängel in der Ressourcenbeschaffung länger auf extreme Eingriffe in die Freiheit aller angewiesen sein sollten und den Menschen keine anderen Mittel anbieten könnten, die weniger tief in ihre Freiheit einschneiden. Da sehe ich eine vermeidbare Gefahr der Erosion des Rechtsstaats.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 20 der Frage angezeigt sein dürfte, ob ein eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb unverhältnismäßig beeinträchtigt wird – nicht einmal als milderes Mittel erweisen.“83 Abgesehen von den beiden Rechtsprechungsbeispielen wären im Einzelnen z. B. folgende mildere Mittel denkbar: - Gaststätten bleiben geöffnet, aber Mahlzeiten können nur einzeln eingenommen werden an Tischen mit großem Abstand und die Bezahlung muss elektronisch-kontaktlos erfolgen. - Versammlungen bleiben zulässig, aber es bestehen eine Höchstzahl der Teilnehmer und Auflagen für den einzelnen Zutritt und für den Mindestabstand bei der Versammlung selbst.84 - Gottesdienste und andere Glaubensversammlungen bleiben zulässig unter ähnlichen Auflagen, wie zuvor bei den Versammlungen ausgeführt. Ferner bleiben einzelne Kontakte mit Priestern, Rabbinern, Imamen oder spirituellen Meistern möglich unter Wahrung des Sicherheitsabstands. Dies könnte auch Praktiken wie die katholische Beichte einschließen. - Sport in Gruppen ist zulässig unter ähnlichen Auflagen, wie zuvor bei den Versammlungen ausgeführt. Dies könnte z. B. für Tai-Chi, Gymnastik, Tennis oder Fechten gelten. - Schwimmbäder könnten geöffnet bleiben und nur eine minimale Zahl an Nutzern gleichzeitig einlassen. - Auch für den Besuch von Gerichtsverhandlungen, Sitzungen von Parlamenten und Bibliotheken ließe sich an die Öffnung für eine Minimalgruppe denken. Die Liste ließe sich für wohl alle betroffenen Lebensbereiche entsprechend fortsetzen. Gleichwohl kann man bei allen Vorschlägen als Gegenargument anführen, dass die Mittel nicht gleich wirksam sind. Bei jeder weiteren Öffnung ergäben sich weitere Bewegungen und typischerweise auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit an Kontakten im öffentlichen Raum. Ferner könnte man eine gewisse Sogwirkung85 oder Nachahmungsgefahr unterstellen: Je mehr Menschen sich außerhalb der Wohnung bewegen, desto eher akzeptiert die breite Gesellschaft dies und desto weniger wird die Aufenthaltsbeschränkung als umgesetztes und durchgesetztes Ge- und Verbot wahrgenommen und gelebt. 83 VG Hamburg, Beschluss vom 27. März 2020, 14 E 1428/20, juris, Rn. 61-66, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13771374/70d4d8e4a9bc41aed170cf2c2e01a9f0/data/14-e-1428-20.pdf (Hervorhebung durch Autor). 84 Vgl. hierzu SZ vom 6. April 2020, Wenn Vermummung Pflicht ist, https://www.sueddeutsche.de/politik/proteste -muenstern-atomkraft-coronavirus-1.4869663. 85 Hierzu VG Hamburg (Fn. 75). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 21 2.3.2.3.3. Immunisierte („Geheilte“) International gibt es vereinzelte Pressemeldungen, wonach es angeblich bei der gleichen Person Zweitinfektionen gegeben habe.86 Da die Tests unmittelbar nach der ersten Erkrankung vorgenommen wurden, bestehen jedoch Zweifel an der Aussagekraft.87 Erste Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die die Infektion überstanden haben, Antikörper besitzen und damit eine Immunität gegenüber dem Virus Sars-CoV-2 haben: „Und das ist auch das, was wir erwarten im Menschen, dass wir zumindest für die Dauer der Pandemie und wahrscheinlich noch eine Zeit lang darüber hinaus immun sind. Das ist auch meine Arbeitshypothese.“88 Aufgrund verfügbarer sachverständiger Einschätzungen könnte jedenfalls in naher Zukunft eine ganz überwiegende Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass eine geheilte Erkrankung für einen längeren Zeitraum immunisiert, z. B. für mehrere Jahre.89 Es lässt sich kaum vertreten, dass Immunisierte den gleichen Kontaktbeschränkungen unterliegen müssen wie Nicht-Immunisierte. Für Nicht-Immunisierte wäre es daher wohl der geringere Eingriff gegenüber umfassender Kontaktbeschränkungen , wenn sie ihre Immunisierung jederzeit nachweisen können oder z. B. durch das gegebenenfalls offene Tragen eines behördlichen Ausweises sichtbar machen. Hierdurch entstünde ein gewisser Mehraufwand bei der polizeilichen Überwachung der Öffentlichkeit. Auch könnte der sichtbare Genuss von Freiheiten für Immunisierte die Moral der Nicht-Immunisierten schwächen. Ob diese Maßnahme damit aber insgesamt tatsächlich signifikant weniger wirksam ist, lässt sich bezweifeln. Allerdings könnte die Privilegierung von „Geheilten“ dazu führen, dass sich Personen absichtlich mit der Krankheit infizieren, um durch eine baldige Immunität die Maßnahmen zu umgehen. Dadurch könnte der Zweck vereitelt sein, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. 86 BZ vom 27. Februar 2020, Frau in Japan zum zweiten Mal positiv auf Coronavirus getestet!, https://www.bz-berlin .de/welt/mehrfach-ansteckung-corona-virus-frau-in-japan-zum-zweiten-mal-positiv-auf-corona-getestet: „Sie sei am 29. Januar positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden. Daraufhin habe sich ihr Zustand verbessert, weswegen sie am 1. Februar aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Am 3. Februar sei sie bei einer erneuten Untersuchung negativ getestet worden. Später habe sie zu Hause jedoch Symptome wie Husten, Halsschmerzen und Schmerzen in der Brust gezeigt. Am 26. Februar sei sie dann bei einem erneuten Test wieder positiv getestet worden, hieß es.“ 87 MDR vom 20. März 2020, Infektion Covid-19Corona – Kann man zwei Mal daran erkranken?, https://www.mdr.de/wissen/mensch-alltag/corona-immunitaet-ansteckung-nach-genesung-100.html: „Virale RNA [ribonucleic acid] kann oft lange nachdem das infektiöse Virus verschwunden ist noch nachgewiesen werden“ (Mikrobiologe Prof. Dr. Florian Krammer von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai, New York). 88 Der Virologe Christian Drosten zitiert nach MDR vom 20. März 2020, Infektion Covid-19Corona – Kann man zwei Mal daran erkranken?, https://www.mdr.de/wissen/mensch-alltag/corona-immunitaet-ansteckung-nach-genesung -100.html. 89 Prof. Dr. Isabella Eckerle, Universitätsklinikum Genf, Schweiz, zitiert nach MDR vom 20. März 2020, Infektion Covid-19Corona – Kann man zwei Mal daran erkranken?, https://www.mdr.de/wissen/mensch-alltag/coronaimmunitaet -ansteckung-nach-genesung-100.html: „Bei SARS[1] beispielsweise sind Antikörper drei bis fünf Jahre nachweisbar. Die Zeiträume sind also eher Jahre.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 22 2.3.2.3.4. Sonstige Bereiche Insgesamt ist die Erforderlichkeit der Kontaktbeschränkungen durchaus umstritten. So weist ein Verfassungsrechtler zum Beispiel auf Folgendes hin: „Wenn alte und vorbelastete Menschen isoliert werden, können sie wirksam geschützt werden, ohne alle anderen Menschen ebenfalls zu isolieren. Es wäre noch nicht einmal notwendig, sie in die Quarantäne zu zwingen. Sie sind ja für die Allgemeinheit keine größere Gefahr als alle anderen Menschen. Sie gefährden nur sich selbst, wenn sie sich durch soziale Kontakte dem Infektionsrisiko aussetzen. Deshalb würde es ausreichen, dass man ihnen eine freiwillige Quarantäne empfiehlt und ihnen Hilfen anbietet, die Quarantäne durchzuhalten, etwa durch Lieferdienste für Lebensmittel oder durch Bereitstellung von Quarantäneeinrichtungen, in die man sich als Angehöriger einer Risikogruppe begeben kann. Betretungsverbote für Altersheime und andere Einrichtungen, in denen typischerweise Menschen mit einem hohen Corona-Risiko leben, würden aufrechterhalten. Gezielte Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen bieten sich somit als freiheitsschonende Mittel an, die die Betroffenen nicht weniger, vielleicht sogar besser schützen, als die Inpflichtnahme der gesamten Bevölkerung.“90 2.3.2.4. Angemessenheit 2.3.2.4.1. Grundsatz Die Angemessenheit ist gewahrt, wenn der Grundrechtseingriff nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck steht.91 Für die verschiedenen betroffenen Grundrechte gelten dabei entsprechend der betroffenen Rechtsgüter unterschiedliche Abwägungsmaßstäbe. Diese ergeben sich ausdrücklich aus dem Grundgesetz oder aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. So ist z. B. eine Einschränkung der Freizügigkeit u. a. nur bei „Seuchengefahr“ zulässig (Art. 11 Abs. 2 GG), ein Berufsausübungsverbot nach der Rechtsprechung nur zum „Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaftsguts“.92 Diese Unterschiede können letztlich dahingestellt bleiben, da die Ausgangsbeschränkungen Leben und Gesundheit der Bevölkerung, und damit höchste Rechtsgüter93 schützen sollen: „Auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne [=Angemessenheit] ist gewahrt. Der Eingriff in das Grundrecht der Antragstellerin und der bezweckte Erfolg, der im Schutz der Gesundheit 90 Murswiek (Universität Freiburg), Zur Verfassungswidrigkeit der Corona-Politik, Raus aus dem Ausnahmezustand!, Tichys Einblick vom 31. März 2020, https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/raus-aus-dem-ausnahmezustand / (Hervorhebung durch Autor). 91 BVerfGE 50, 217 (227); 80, 103 (107); 99, 202 (212 f.). 92 BVerfG NJW 2017, 3704 (3705). 93 BVerfGE 39, 1 (42): „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 23 der Bevölkerung und insbesondere einer Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems besteht, stehen nicht außer Verhältnis. Zwar muss die Antragstellerin einen Eingriff in ihre Berufsausübung und voraussichtlich empfindliche Einkommenseinbußen hinnehmen. Auf der anderen Seite rechtfertigt der Gesundheitsschutz, insbesondere die Verlangsamung der Ausbreitung der hoch infektiösen Viruserkrankung, in der gegenwärtigen Situation einschneidende Maßnahmen wie sie die Antragsgegnerin vorliegend getroffen hat. Wie oben dargestellt ist es nach Ansicht von Experten entscheidend, die Verbreitung des Coronavirus gerade in einer Frühphase effektiv zu bekämpfen. Ansonsten droht die nicht fernliegende Gefahr eines Kollabierens des staatlichen Gesundheitssystems, wie es beispielsweise in Italien der Fall zu sein scheint.“94 „Die starke Zunahme der Fallzahlen innerhalb weniger Tage und die daraus resultierende hohe Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung machen eine Unterbrechung der Infektionsketten dringend erforderlich. Insoweit erscheint es auch aus Sicht der Kammer als erforderlich und angemessen, Menschenansammlungen so weit wie möglich auszuschließen.“95 „Die streitgegenständlichen Regelungen sind auch angemessen, weil der damit verbundene Eingriff in das Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG nicht außer Verhältnis zu dem damit verfolgten Zweck, der Vorbeugung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten und damit dem Schutz des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, steht. Eine dauerhafte, über den Geltungszeitraum der Allgemeinverfügungen hinausgehende Einschränkung oder gar Vernichtung des Betriebs der Antragstellerin ist eher nicht zu befürchten. Weder droht eine Abwanderung ihrer Kundschaft zu Online-Angeboten noch zu (derzeit ebenfalls geschlossenen) Konkurrenzbetrieben. Negative finanzielle Folgen werden durch die aktuell getroffenen Regelungen zur Entlastung der Wirtschaft (ausgeweitete Kurzarbeit, Kreditangebote, etc.) zumindest teilweise aufgefangen werden können. Im Gegensatz dazu sind die Schäden, die bei einer weiteren und vor allem ungebremsten Verbreitung des Virus und einem deutlichen Ansteigen der Erkrankungs- und Todeszahlen für eine sehr große Zahl von Menschen zu gewärtigen wären, von deutlich höherem Gewicht.“96 „Dem Antragsteller drohten ohne die beantragte gerichtliche Feststellung keine schweren und unzumutbaren Nachteile. Seine potentiellen Mandanten müssten bei einer allenfalls im Einzelfall erfolgenden Kontrolle im Wesentlich nur Ort und Zeit eines etwaigen Besprechungstermins in der Kanzlei glaubhaft machen; dies stelle schon keine erhebliche Hürde für die Inanspruchnahme und Erbringung anwaltlicher Hilfe dar. [...] Der Verlangsamung der Ansteckungsrate durch Vermeidung sozialer Kontakte komme entscheidende Bedeutung zu, um die Überlastung und den Zusammenbruch des Gesundheitssystems und in der Folge erhebliche Gesundheitsschäden und den Tod einer Vielzahl von Menschen zu verhindern. Hierzu trage es bei, wenn 94 VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020, 5 V 553/20, juris, Rn. 43 (Hervorhebung durch Autor). 95 VG Hannover, Beschluss vom 27. März 2020, 15 B 1968/20, juris, Rn. 13 (Hervorhebung durch Autor); siehe auch VG Göttingen, Beschluss vom 20. März 2020, 4 B 56/20: Allgemeinverfügung zum Schutz vor Corona darf große Geburtstagsfeier untersagen. 96 VG Hamburg, Beschluss vom 27. März 2020, 14 E 1428/20, juris, Rn. 67, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13771374/70d4d8e4a9bc41aed170cf2c2e01a9f0/data/14-e-1428-20.pdf (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 24 nur dringend erforderliche persönliche Termine bei Rechtsanwältinnen und -anwälten wahrgenommen werden dürften.“97 2.3.2.4.2. Befristung Für eine Angemessenheit sprechen auch eine zeitliche Befristung der Maßnahmen und eine fortlaufende Evaluierung98 ihrer Notwendigkeit: „Hinzu kommt, dass die angegriffene Allgemeinverfügung Teil eines aktuell sehr dynamischen Prozesses ist, bei dem die getroffenen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr nahezu täglich neu überdacht und angepasst werden. So ist auch die Schließungsanordnung […] vorerst […] befristet. […] Diese (kurze) Befristung stellt sicher, dass die neuen Entwicklungen der Corona- Pandemie stets berücksichtigt werden. Je nach Entwicklung können die Einschränkungen wieder gelockert werden, wenn die Ordnungsbehörden dies bei Abwägung der berührten Interessen für vertretbar erachten. Nach alledem überwiegt vorliegend das öffentliche Interesse an Leben und körperlicher Unversehrtheit der Bevölkerung gegenüber ihren vorwiegend wirtschaftlichen Interessen.“99 „Im Übrigen sei die durch die angegriffenen Normen allenfalls verursachte geringfügige Beeinträchtigung des Antragstellers in seiner Berufsausübungsfreiheit angesichts des mit der – zeitlich ohnehin eng befristeten – Verordnung bezweckten Schutzes der überragend wichtigen Schutzgüter der Gesundheit und des Lebens gerechtfertigt und insbesondere nicht unverhältnismäßig .“100 Verfassungsrechtler betonen zugleich die Notwendigkeit der Befristung: „Das geht im Moment nicht anders, kann aber nicht auf Dauer gelten. Es muss alles getan werden, um Art und Ausmaß der Gefahren genauer einzugrenzen. Politik und Verwaltung müssen immer wieder prüfen, ob es weniger einschneidende Maßnahmen gibt. Auf Dauer kann man eine solche flächendeckende Beschränkung nicht hinnehmen. Das muss befristet sein.“101 97 Pressemitteilung vom 3. April 2020 zu VG Berlin, Beschluss vom 2. April 2020, VG 14 L 31.20, https://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.915801.php (Hervorhebung durch Autor). 98 Siehe so z. B. § 18 Abs. 3 „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/. 99 VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020, 5 V 553/20, juris, Rn. 43 (Hervorhebung durch Autor). 100 Pressemitteilung vom 3. April 2020 zu VG Berlin, Beschluss vom 2. April 2020, VG 14 L 31.20, https://www.berlin.de/gerichte/verwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.915801.php (Hervorhebung durch Autor). 101 Papier, Süddeutsche Zeitung vom 1. April 2020, „Selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet“, https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-grundrechte-freiheit-verfassungsgericht-hans-juergen-papier- 1.4864792?reduced=true(Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 25 „Auch die Verhältnismäßigkeit hat eine zeitliche Dimension. Freiheitseinschränkungen können verhältnismäßig sein, wenn sie nur kurze Zeit dauern. Je länger sie dauern und je größer die Schäden, die durch sie verursacht werden, desto größer ist die Rechtfertigungslast für den Staat, der sie anordnet. Die Schäden des Shutdowns werden mit jedem Tag größer. […] Selbst wenn man der Auffassung wäre, dass der Shutdown in einer unübersichtlichen und durch die Medien dramatisierten Lage zunächst als gerechtfertigt erschien, so muss man heute sagen: Er ist es jedenfalls jetzt nicht mehr und muss so schnell wie möglich beendet werden. So schnell wie möglich heißt: Sobald man die nötigen Regelungen zum Schutz der Risikogruppen getroffen hat. Das sollte innerhalb weniger Tage möglich sein.“102 Wie lange genau eine Befristung zulässig ist, lässt sich nicht abstrakt in genauen Fristen beurteilen . Dies hängt von der fortlaufend zu beurteilenden Gefahr und der zum jeweiligen Zeitpunkt abzuwägenden Interessen und Schutzgüter ab. Je eher sich z. B. aufgrund der langen Dauer der Ausgangsbeschränkungen eine Verletzung des Kernbereichs der Grundrechte ergibt, desto kürzer sind die Maßnahmen zu befristen. 2.3.2.4.3. Kernbereich der Grundrechte Das Bundesverfassungsgericht spricht mitunter vom Kernbereich bzw. von Grundelementen einzelner Grundrechte. Insoweit seien die Grundrechte Ausdruck der Garantie der Menschenwürde und damit auch für den Verfassungsgesetzgeber unantastbar.103 Verfassungsrechtler haben sich bereits kritisch geäußert, dass z. B. der Kernbereich der Versammlungsfreiheit berührt wäre, wenn Versammlungen verboten seien und zugleich gerichtlicher Rechtsschutz gegen deren Verbot nicht möglich wäre: „Gegen eine rechtswidrige Ausgangssperre könnte man allerdings in Bayern gar nicht mehr demonstrieren, weil ja alle Versammlungen durch Allgemeinverfügung verboten wurden. [...] Ist das nur eine Einschränkung oder wird damit nicht schon in den Wesensgehalt des Grundrechts (Art. 19 Abs. 2 GG) eingegriffen? Man kann noch nicht einmal mehr im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine rechtswidrige Ausgangssperre vorgehen, weil der Gang zum Gericht nach der bayerischen Allgemeinverfügung nicht mehr zu den triftigen Gründen zählt, draußen herumzulaufen. Hier droht mit der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) das rechtsstaatliche Fundament unseres Grundgesetzes zu erodieren.“104 102 Murswiek (Universität Freiburg), Zur Verfassungswidrigkeit der Corona-Politik, Raus aus dem Ausnahmezustand!, Tichys Einblick vom 31. März 2020, https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/raus-aus-dem-ausnahmezustand / (Hervorhebung durch Autor). 103 Vgl. BVerfGE 84, 90 (126 f.); 95, 48 (60): „Kernbereich der Eigentumsgarantie“; BVerfGE 84, 90 (127); 94, 12 (34); 95, 48 (62): „Grundelemente des Gleichheitssatzes“; BVerfGE 94, 12 (48): Kernelemente anderer Grundrechte. 104 Kingreen (Universität Regensburg), Whatever it Takes? Der demokratische Rechtsstaat in Zeiten von Corona, Verfassungsblog vom 20. März 2020, https://verfassungsblog.de/whatever-it-takes/ (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 26 Gleichwohl dürfte derzeit gegen eine Verletzung des Wesenskerns sprechen, dass sich gerichtliche Entscheidungen herbeiführen lassen, ohne das Haus zu verlassen oder jedenfalls ohne ein Gericht persönlich aufzusuchen: „Soweit der Antragsteller schließlich geltend macht, er sei aufgrund der von ihm angegriffenen Vorschriften nicht berechtigt, ein Gericht aufzusuchen, um eine Klage oder einen Antrag einzureichen , ist darauf hinzuweisen, dass dies, wie der vorliegende Antrag zeigt, auch keine persönliche Anwesenheit im Gericht erfordert.“105 Bei anderen Grundrechten wie der Handlungsfreiheit dürfte es eher fernliegen, dass sie jedenfalls bei vorübergehender Dauer Ausgangsbeschränkungen zu einer „Entkernung“ der Grundrechte führen. Die Ausgangsbeschränkungen belassen eine Vielzahl an Handlungsfreiheiten inner- und außerhalb der Wohnung. 2.3.2.4.4. Glaubensfreiheit Die Allgemeinverfügung des Landes Bayern sieht von der „Ausgangsbeschränkung“ keine Ausnahmen vor für die individuelle Einkehr in Gotteshäuser oder für einen persönlichen Kontakt mit einem Seelsorger.106 Dies erscheint unverhältnismäßig. Zwar lässt sich der Glaube beim Gebet oder der Meditation alleine und über in den Medien übertragenen Veranstaltungen (z. B. Fernsehgottesdienste )107 entfalten. Es erscheint aber angesichts des geringen Übertragungsrisikos unverhältnismäßig , jedenfalls die individuelle Einkehr in einen Glaubensraum zu untersagen. Einzelne Verordnungen lassen „die individuelle stille Einkehr in Kirchen, Moscheen, Synagogen und Häusern anderer Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften“ zu.108 Dabei gilt keine zahlenmäßige Beschränkung für die Anwesenheit von Personen in dem Gebäude, sondern nur der allgemeine Sicherheitsabstand. Ähnliches dürfte für Kontakte gelten, die unter die Glaubensfreiheit fallen, wie z. B. ein persönliches Gespräch mit einem Priester oder spirituellem Lehrer. Dabei fällt ins Gewicht, dass der „Glaubensfreiheit [...] ein hoher Wert zu[kommt], zumal sie in enger Verbindung mit der Menschenwürde als dem obersten Wert im System der Grundrechte steht und wegen 105 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. März 2020, 11 S 12/20, BeckRS 2020, 4408, Rn. 12 (Hervorhebung durch Autor). 106 Allgemeinverfügung vom 20. März 2020, Az. Z6a-G8000-2020/122-98, Nr. 5 (triftige Gründe), https://www.verkuendung -bayern.de/baymbl/2020-152/. 107 Siehe z. B. Evangelische Kirche, Berlin Stadtmitte vom 13. März 2020, Reaktion auf Corona-Virus: Berliner Dom überträgt Gottesdienste per Livestream, https://kkbs.de/blog/48212; t-online.de vom 26. März 2020, Kirche startet in Corona-Krise neues Online-Angebot, https://www.t-online.de/region/id_87597078/kirche-startet-in-coronakrise -neues-online-angebot.html. 108 So z. B. § 14 Abs. 3 lit. p „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/; weniger klar § 6 der „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung “ Mecklenburg-Vorpommern: „Verboten sind Zusammenkünfte jedweder Glaubensgemeinschaften [...]“, der damit wohl Raum für stille Einkehr lässt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 27 ihres Ranges extensiv ausgelegt werden muss [...]. Folglich unterliegt die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Entscheidung einer eingehenden gerichtlichen Kontrolle [...].“109 2.3.2.4.5. Versammlungsfreiheit Zur Möglichkeit milderer Mittel bei Versammlungen hat das Verwaltungsgericht Dresden Folgendes ausgeführt: „Der Antragsteller könne sich demgegenüber auch nicht darauf berufen, dass mit dem von ihm benannten Maßnahmenkatalog dem Infektionsschutz hinreichend Rechnung getragen werde. Denn es liege nicht in seinem Einflussbereich, wie viele Teilnehmer tatsächlich zu der von ihm angezeigten Versammlung kämen. Auch könne er nicht hinreichend gewährleisten, dass die Teilnehmer die von ihm angedachten Maßnahmen tatsächlich umsetzten. Eine Einflussmöglichkeit , die er gegebenenfalls als Versammlungsleiter wahrnehmen könne, habe er weder für die Anreise noch für die Abreise der Teilnehmer. Hinzu komme, dass eine öffentliche Versammlung, die an einem relativ stark frequentierten Ort abgehalten werden solle, bereits ihrem Zweck nach darauf ausgerichtet sei, Aufmerksamkeit auch bei unbeteiligten Dritten zu erwecken. Es sei weder vorhersehbar noch vom Veranstalter zu beeinflussen, dass unbeteiligte Personen von außen zu der Versammlung hinzukämen.“110 Es trifft zwar zu, dass ein absolutes Versammlungsverbot geeignet und erforderlich ist, Sozialkontakte weitgehend zu vermeiden. Allerdings bestehen Bedenken angesichts des hohen Wertes der Versammlungsfreiheit, ob dies angemessen ist. Wohl aus diesem Grund verbieten nicht alle Ausgangsbeschränkungen Versammlungen in allen Fällen:111 „Für Versammlungen unter freiem Himmel von bis zu 20 Teilnehmenden kann die Versammlungsbehörde in besonders gelagerten Einzelfällen auf Antrag Ausnahmen vom Verbot des Absatz 1 zulassen, sofern dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist. Das zuständige Gesundheitsamt ist fachlich an der Entscheidung nach Satz 1 zu beteiligen.“ Das Verwaltungsgericht Dresden hält gleichwohl ein absolutes Verbot von Versammlungen auch bei geringer Teilnehmerzahl aus folgenden Gründen für gerechtfertigt: 109 BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020, 2 BvR 1333/17, Rn. 101, https://www.bundesverfassungsgericht .de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/01/rs20200114_2bvr133317.html (Hervorhebung durch Autor). 110 Beck-aktuell, VG Dresden: Eilanträge gegen sächsische Maßnahmen zu Corona-Pandemie erfolglos, zu VG Dresden, Beschluss vom 30. März 2020, 6 L 212/20, 6 L 220/20, https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/vg-dresden-eilantraegegegen -saechsische-massnahmen-zur-corona-pandemie-bleiben-ohne-erfolg (Hervorhebung durch Autor). 111 Siehe so z. B. § 1 Abs. 7 „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 28 „In Anbetracht der gesundheitlichen Gefährdung einer Vielzahl von Menschen erschienen die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit für einen vorübergehenden Zeitraum angemessen.“112 Es erscheint fraglich, ob diese vorläufige, auf einer summarischen Prüfung beruhende Entscheidung allen verfassungsrechtlichen Aspekten gerecht wird. So ist es nicht nur Aufgabe des Veranstalters, die Durchführung einer Versammlung zu sichern, sondern auch Pflicht des Staates. Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus: „[E]in Versammlungsverbot [...] setzt als ultima ratio [...] voraus, dass das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft ist. [...] Auch insofern gilt, dass die Gefahrenprognose auf erkennbaren Umständen beruhen muss. Ein bloßer Verdacht und Vermutungen reichen nicht aus [...].“113 Die Literatur fasst die weitere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wie folgt zusammen: „Der Staat darf nicht nur seinerseits nicht ohne verfassungskonforme Rechtfertigung in das Grundrecht eingreifen, sondern muss auch Übergriffe und Störungen Privater auf eine Versammlung verhindern. Daher hat die Polizei Versammlungen gegen Gegendemonstrationen, Stör- oder Verhinderungsversuche zu schützen. Allerdings steht die Schutzpflichtverpflichtung des Staates unter dem Vorbehalt des Möglichen. Im Falle des polizeirechtlichen Notstandes , wenn polizeilich ein effektiver Schutz der Versammlung gegen ihre Gegner nicht möglich ist, kann die Schutzpflicht für Leib und Leben der Versammlungsteilnehmer auch ein Verbot der Versammlung gebieten. Als ultima ratio sind vor Annahme eines polizeilichen Notstandes aber alle verfügbaren Ressourcen auszuschöpfen.“114 Bei einer Versammlung kann die Polizei dafür sorgen, dass die Teilnehmerzahl der beauflagten Höchstgrenze entspricht und dass die Anreise und Abreise der Teilnehmer mit sozialem Abstand erfolgt. Daher ist ein absolutes Versammlungsverbot mangels Erforderlichkeit wohl verfassungswidrig . Abstrakte zahlenmäßige Höchstgrenzen dürften – wenn überhaupt – nur insoweit zulässig sein, als sie den Kapazitäten dessen entsprechen, was sich im Hinblick auf infektionsschutzrechtliche Auflagen noch polizeilich kontrollieren lässt. Insgesamt sprechen daher gute Gründe dafür, angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit insbesondere Demonstrationen in bestimmtem Umfang zuzulassen. 2.3.2.4.6. Ehe und Familie Es dürfte unverhältnismäßig sein, wenn Kontakt z. B. unter Ehe- und Beziehungspartnern oder zwischen Eltern und ihren Kindern nicht möglich sind. In diesem Zusammenhang ist z. B. § 4 112 Beck-aktuell, VG Dresden: Eilanträge gegen sächsische Maßnahmen zu Corona-Pandemie erfolglos, zu VG Dresden, Beschluss vom 30. März 2020, 6 L 212/20, 6 L 220/20, https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/vg-dresden-eilantraegegegen -saechsische-massnahmen-zur-corona-pandemie-bleiben-ohne-erfolg (Hervorhebung durch Autor). 113 BVerfG BayVBl 2001, 624 (625). 114 Depenheuer, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 8 Rn. 113, Fußnoten des Originals ausgelassen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 29 Abs. 1 und Abs. 4 der „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung“ Mecklenburg-Vorpommern115 zu nennen: „(1) Touristische Reisen aus privatem Anlass in das Gebiet des Landes Mecklenburg-Vorpommern sind untersagt. Dies gilt insbesondere für Reisen, die zu Freizeit- und Urlaubszwecken und zu Fortbildungszwecken unternommen werden. [...] (4) Ausnahmen von Abs. 1 kommen für Anlässe in Betracht, bei denen die Anwesenheit der reisenden Personen zwingend erforderlich ist (z. B. Beisetzungen).“ Die Verordnung wertet Familienbesuche wie Beisetzungen schon sprachlich zu „touristischen Reisen“ ab.116 Eine Ausnahme für Besuche unter Eheleuten sieht die Verordnung nicht vor. Arbeitet einer der Eheleute unter der Woche z. B. in Wolfsburg, kann er am Wochenende seinen Ehepartner in Schwerin nicht sehen. Dies dürfte unangemessen sein. Dies wiegt umso schwerer, als § 7 der Verordnung unter der Überschrift „Strafvorschriften“ eine Strafandrohung ausspricht: „Auf die Strafvorschrift des § 75 Absatz 1 Nr. 1 IfSG wird hingewiesen.“ 2.3.2.4.7. Vielzahl der eingeschränkten Grundrechte Allein die auf wesentliche Grundrechte und Eingriffe beschränkte Prüfung ergibt Eingriffe in 17 verschiedene Freiheitsrechte (siehe oben 2.2). Die Vielzahl der durch die Ausgangssperren eingeschränkten Grundrechte und die Vielzahl der hiervon betroffenen Bürger könnte ein Abwägungskriterium sein. In diese Richtung dürfte folgender Hinweis eines Verfassungsrechtlers gehen: „Ausgeblendet werden vor allem alle nichtvirologischen Wirkungen des Shutdowns: die Bildungsverluste bei Schülern und Studenten, die immensen ökonomischen Schäden, die Gefährdung der Existenzgrundlagen Hunderttausender Kleinunternehmer, die gesundheitlichen Folgen des Bewegungs- und Lichtmangels infolge von Homeoffice und Ausgangsbeschränkungen , die Verluste an Sozialkontakten, die Dramen, die sich aus dem permanenten Zusammenleben auf engstem Raum in den Haushalten entwickeln werden. Ausgeblendet sind auch die Auswirkungen auf politische Teilhaberechte, auf demokratische Öffentlichkeit, auf all das, was das Bundesverfassungsgericht als notwendige Bedingung der Demokratie hervorgehoben hat. [...] 115 In der Fassung der Dritten Verordnung vom 23. März 2020, https://www.regierung-mv.de/static/Regierungsportal /Ministerium%20f%C3%BCr%20Wirtschaft%2c%20Arbeit%20und%20Gesundheit/Dateien/Downloads /GVOBl%20Nr%206%20vom%2018.%20M%C3%A4rz%202020%20-%20Corona.pdf; https://www.regierung -mv.de/static/Regierungsportal/Ministerpr%C3%A4sidentin%20und%20Staatskanzlei/Dateien/pdf-Dokumente /Verordnung%2021.3.20%20%281%29.pdf; https://www.regierung-mv.de/static/Regierungsportal/Ministerium %20f%C3%BCr%20Wirtschaft%2c%20Arbeit%20und%20Gesundheit/Dateien/Downloads /2.AK_GVO_8_corona_sonder.pdf. 116 Zur Unbestimmtheit dieser Norm siehe unten unter Nr. 5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 30 Vergleicht man die potentielle Zahl der Corona-Toten mit den Zahlen der Grippe-Toten oder mit den Zahlen der Opfer von Verkehrsunfällen, die der Staat hinnimmt, ohne einzugreifen, dann fragt man sich, warum gerade zur Abwehr von Coronainfektionen volkswirtschaftliche Schäden in Kauf genommen werden sollen, die zum ökonomischen Kollaps führen und dann auch die Grundlagen des Sozialstaats erschüttern können, warum hier soziale und politische Freiheiten blockiert werden in einem Maße, das man zur Abwehr anderer Risiken nicht im entferntesten kennt. Das müsste die Politik begründen, weil Freiheitseinschränkungen begründungsbedürftig sind. Aber sie liefert die Begründung nicht, und sie kann sie nicht liefern.“117 2.3.2.4.8. Leben gegen Leben? Es sind Konstellationen denkbar, in denen bei Ausgangsbeschränkungen das Recht auf Leben des einen Bürgers, dem Recht auf Leben eines anderen Bürgers entgegensteht. Dies wäre z. B. der Fall, wenn Ausgangsbeschränkungen zu Suiziden führen, oder wenn aufgrund der Ausgangsbeschränkungen die Daseinsvorsorge oder Sicherheit leidet, und es infolgedessen zu Todesfällen kommt. Entsprechendes gilt, wenn Aufgrund von Kontaktbeschränkungen alte Menschen früher sterben.118 Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch entschieden, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden darf. Hiernach kann eine staatliche Stelle nicht entscheiden, dass das eine Leben vorzugsweise zu schützen ist: „Hingegen kann der deutsche Gesetzgeber den Abschuss solcher [als Waffe eingesetzter] Flugzeuge nicht erlauben, in denen sich – wie bei den terroristischen Angriffen am 11. September 2001 – Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden, die selbst Opfer der Luftpiraten geworden sind. Insoweit hat auch der Plenarbeschluss nichts daran geändert, dass die den Umständen nach wahrscheinliche Tötung dieser Menschen mit dem Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) unvereinbar ist.“119 Daher melden Verfassungsrechtler Zweifel an, ob der Staat aus einer Schutzpflicht für (künftige) Erkrankte, seine Schutzpflicht für das Leben anderer Bürger vernachlässigen darf: „Natürlich würden ein Tempolimit auf den Autobahnen und ein Überholverbot auf Landstraßen dazu führen, dass nicht jeden Tag neun Menschen auf Deutschlands Straßen sterben; wir 117 Murswiek (Universität Freiburg), Zur Verfassungswidrigkeit der Corona-Politik, Raus aus dem Ausnahmezustand!, Tichys Einblick vom 31. März 2020, https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/raus-aus-dem-ausnahmezustand / (Hervorhebung durch Autor). 118 Siehe zu alledem oben Abschnitt 2.2 unter „Leben“. 119 BVerfG, Beschluss vom 3. Juli 2012, 2 PBvU 1/11, Rn. 88 (Hervorhebung durch Autor); siehe hierzu Papier, Süddeutsche Zeitung vom 1. April 2020, „Selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet“, https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-grundrechte-freiheit-verfassungsgericht-hans-juergen-papier- 1.4864792?reduced=true: „[D]as Bundesverfassungsgericht hat damals betont: Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden. Jedes Leben ist gleichrangig und gleich wertvoll, es genießt den gleichen Schutz. Und es geht nicht an, dass dann jemand entscheidet, dieses oder jenes Leben ist vorzugsweise zu schützen oder zu retten.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 31 machen es nicht, weil wir (hier m. E. absurderweise) die mobile Freiheit höher gewichten als den Lebensschutz.“120 2.3.2.5. Umsetzungsebene Neben der Ebene der Regelung ist auch, wenn nicht sogar vor allem, der Verhältnismäßigkeit bei der Umsetzung der Eindämmungsverordnungen durch die Vollzugsbehörden Rechnung zu tragen. Dies ist Frage der Anwendung im Einzelfall. 3. Gleichheit 3.1. Schutzbereich Im Sinne des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG darf „weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich“ behandelt werden.121 3.2. Ungleichbehandlung innerhalb einer Vergleichsgruppe Vergleichbar sind Personen, Gruppen oder Sachverhalte mit gemeinsamen Merkmalen, welche unter einen gemeinsamen Oberbegriff fallen. Die Ungleichbehandlung lässt sich durch ein Unterscheidungsmerkmal zwischen den Personen, Sachverhalten oder Gruppen feststellen.122 Durch die SARS-Eindämmungsverordnungen sind unzählige Bürger und Unternehmen betroffen. Hieraus ergeben sich unzählige Vergleichsmöglichkeiten. Im Folgenden werden daher einige Beispiele herausgegriffen, um die Grundlinien zu veranschaulichen. 3.2.1. Gewerbebetrieb Die SARS-Eindämmungsverordnungen verbieten bestimmte Arten des Gewerbebetreibens: Tanzlustbarkeiten , Messen, Ausstellungen, Spezialmärkte, Spielhallen, Spielbanken, Wettvermittlungsstellen und ähnliche Unternehmen.123 Nach zumindest einer Verordnung ist der Betrieb einer Physiotherapiepraxis gestattet,124 während das Betreiben eines Friseursalons verboten ist.125 Gegen 120 Kingreen (Universität Regensburg), Whatever it Takes? Der demokratische Rechtsstaat in Zeiten von Corona, Verfassungsblog vom 20. März 2020, https://verfassungsblog.de/whatever-it-takes/ (Hervorhebung durch Autor). 121 BVerfGE 4, 144 (155) – Hervorhebung durch Autor. 122 Heun, in Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 3 Rn. 24. 123 Siehe z. B. § 2 „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin .de/corona/massnahmen/verordnung/. 124 Siehe z. B. § 14 Abs. 3 lit. b „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/. 125 Siehe z. B. § 2 Abs. 5 der „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 32 die Vergleichbarkeit könnte sprechen, dass es sich bei einer Physiotherapiepraxis um eine medizinische Einrichtung handelt. In diesem Sinne sind auch ein Hotel und Krankenhaus nicht miteinander vergleichbar. 3.2.2. Einzelhandel Aktuelle Öffnungsverbote gelten ausdrücklich nicht für den Einzelhandel für Lebensmittel und Getränke einschließlich Spätverkaufsstellen, Abhol- und Lieferdienste sowie weiteren Stellen. Erfasst sind hingegen z. B. Läden für Tabakwaren. Das Oberverwaltungsgericht Hamburg führt in einem Fall aus: „Denn jedenfalls mit Blick auf das stark spezialisierte Warensortiment der Antragstellerin im Filialhandel mit E-Nikotinprodukten erscheint am Maßstab von Art. 3 Abs. 1 GG die Einschätzung der Antragstellerin, dass dieses für die Versorgung der Bevölkerung mit Waren des täglichen Bedarfs nicht von gleicher Bedeutung ist wie die nach Ziffer 3. a) bis q) ausgenommenen Verkaufsstellen, als tragfähig.“126 Eine andere Vergleichsgruppe könnte der Einzelhandel und eine Aktion des „Late-Night-Shoppings“ in selbigen Einzelhandelsgeschäften sein. Dazu führt das Verwaltungsgericht Stuttgart aus: „Soweit die Antragstellerin rügt, mit der angegriffenen Maßnahme bewege sich die Antragsgegnerin außerhalb der üblichen Verwaltungspraxis in Baden-Württemberg zur Eindämmung der Corona-Pandemie, die an keiner Stelle Einschränkungen des Einzelhandels vorsehe, ist dem entgegenzuhalten, dass sich das Late-Night-Shopping als besonderes, zeitlich begrenztes Event mit seiner großen Anziehungskraft für einen großen Kundenkreis vom klassischen Einzelhandel unterscheiden dürfte.“127 Das Verwaltungsgericht Aachen sah die Unterscheidung zwischen gewöhnlichem Einzelhandel einerseits und einer Lottoannahmestelle und einem Pralinenfachgeschäft andererseits als vertretbar an, da letztere nicht zur Grundversorgung der Bevölkerung gehörten und zur Sicherstellung des täglichen Bedarfs nicht notwendig seien.128 3.2.3. Kontaktverbot Grundsätzlich müssen sich Bürger ständig in ihrer Wohnung aufhalten. Ausnahmsweise dürfen Ehepartner und Lebenspartner den jeweiligen Partner in seiner Wohnung besuchen.129 Auch alte 126 OVG Hamburg, Beschluss vom 26. März 2020, 5 Bs 48/20, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13760462/a86c8c0eee39357420a2dedf40e1d0f3/data/5bs48-20.pdf (Hervorhebung durch Autor). 127 VG Stuttgart, Beschluss vom 14. März 2020, 16 K 1466/20, juris, Rn. 10 (Hervorhebung durch Autor). 128 VG Aachen, Pressemeldung zu den Beschlüssen vom 23. März 2020, 7 L 230/20, 7 L 233/20, https://www.juris .de/jportal/portal/t/1tkj/page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA200300784&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten %2Fzeigenachricht.jsp. 129 Siehe z. B. § 14 Abs. 3 „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 33 oder kranke Menschen dürfen z. B. unter bestimmten Voraussetzungen Besuche empfangen. Andere Menschen dürfen keine Besuche empfangen und können sich lediglich zum Sport oder der Bewegung an der frischen Luft mit einer Kontaktperson treffen. Hier ließe sich eine Vergleichsgruppe „Besucher“ bzw. „Besuchsempfänger“ bilden. Innerhalb dieser Vergleichsgruppe läge eine entsprechende Ungleichbehandlung nahe. 3.2.4. Bewegen und Sitzen im Freien Eine gängige Ausnahme von Ausgangsbeschränkungen ist die Erlaubnis, sich für eine bestimmte Zeit im Freien zu bewegen – allein oder zu zweit. Verboten ist es jedoch, sich auf einer Grünfläche oder Parkbank niederzulassen, auch wenn man alleine ist.130 Hier könnte man von unterschiedlichen Vergleichsgruppen ausgehen, insoweit man auf den Zweck abstellt: Der einen Gruppe geht es zentral um die Bewegung, der anderen zentral um den Aufenthalt bzw. das Beisammensein im Freien. Für die Unterscheidung ließe sich anführen, dass Bewegung zur Gesunderhaltung unmittelbar nötig ist, der reine Aufenthalt im Freien jedoch nicht, oder erheblich weniger. 3.2.5. Immunisierte („Geheilte“) Hier gelten obige Überlegungen entsprechend (Abschnitt 2.3.2.3.3). 3.2.6. Mittelbare Auswirkungen Ausgangsbeschränkungen betreffen innerhalb einer Vergleichsgruppe Adressaten in unterschiedlicher Weise. So soll Unterrichtsausfall z. B. Schüler aus prekären Verhältnissen „viel härter“ treffen als andere Schüler: „Bei Schülern, deren Eltern nicht zu Hause seien oder die wegen fehlender Deutschkenntnisse nicht helfen könnten, müsse man aufpassen, warnt der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger. ‚Bis nach Ostern kriegen wir das hin. Wenn die Schulschließungen länger andauern, wird es ganz andere Notfallpläne brauchen.“131 Derartige mittelbare Auswirkungen sind vom Gleichheitssatz grundsätzlich nicht erfasst.132 3.2.7. Unterschiede zwischen Bundesländern Aus unterschiedlichen Regelungen in verschiedenen Bundesländern folgt keine relevante Ungleichbehandlung : 130 So bis zur Änderung vom 2. April 2020 „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/ (nunmehr § 14 Abs. 4: „Bei Aktivitäten nach Absatz 3 i sind Erholungspausen auf fest installierten Sitzgelegenheiten bei Wahrung des Mindestabstands nach Absatz 2 zulässig, auf Wiesen und Freiflächen bei Wahrung eines Mindestabstands von 5 m“). 131 FAZ vom 2. April 2020, Schulschließungen sind für arme Kinder gefährlich, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft /schulschliessungen-sind-fuer-arme-kinder-gefaehrlich-16708224.html. 132 Stern/Sachs/Dietlein, in: Stern, Staatsrecht: Die einzelnen Grundrechte Bd. IV/2, 1. Auflage 2011, § 120 S. 1506 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 34 „Soweit die Antragstellerin der Würdigung des Verwaltungsgerichts bzw. der Allgemeinverfügung die Rechtslage in Hessen und Berlin sowie in Italien und Frankreich, nach der Fachgeschäfte für E-Zigaretten und Zubehör auch vor dem Hintergrund der Coronavirus-Epidemie weiterhin geöffnet blieben, entgegenhält, legt sie auch damit eine Ermessensfehlerhaftigkeit der Allgemeinverfügung insbesondere am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes, Art. 3 Abs. 1 GG, nicht dar. Der Umstand, dass andere Bundesländer bzw. Staaten das Ziel einer Verlangsamung der Virusausbreitung durch Vermeidung sozialer Kontakte mit Maßnahmen abweichenden Zuschnitts verfolgen, zeigt für sich betrachtet keine Ermessensfehlerhaftigkeit bzw. Gleichheitswidrigkeit der durch die Antragsgegnerin getroffenen Schließungsverfügungen auf [...].“133 3.3. Rechtfertigung 3.3.1. Grundsatz Um die Ungleichbehandlung innerhalb einer Vergleichsgruppe zu rechtfertigen, bedarf es eines sachlichen Grundes. Ein sachlicher Grund liegt vor, wenn Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht vorliegen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen.134 Die neuere Rechtsprechung hat den Prüfungsmaßstab ergänzt durch den Aspekt der verhältnismäßigen Gleichheit. Danach ist das Gleichheitsrecht verletzt, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.135 Für das legitime Differenzierungsziel, die Geeignetheit der Differenzierungskriterien, und die Erforderlichkeit und Angemessenheit der Differenzierung gelten im Wesentlichen die Ausführungen zu den Freiheitsrechten entsprechend (siehe oben 2.3.2). Im Einklang mit den vorgenannten Grundlinien hat das Verwaltungsgericht Bremen zu der unterschiedlichen Behandlung von Einzelhändlern wie folgt Stellung genommen: „Es ist auch keine Verletzung des Gleichheitssatzes ersichtlich, weil andere (auch größere) Unternehmen weiterhin geöffnet bleiben dürfen. In Bezug auf Einzelhändler, die nicht unter das Öffnungsverbot der Allgemeinverfügung fallen, sind Sachverhalte vor dem Hintergrund des mit der streitgegenständlichen Regelung verfolgten Ziels nicht vergleichbar [...]. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass ein großer Teil des Lebensmitteleinzelhandels ebenfalls Aktionswaren führt und insofern (auch) Gelegenheitskäufe zu erwarten sind. Die Allgemeinverfügung durfte zulässigerweise darauf abstellen, dass bei solchen Geschäften im Gegensatz zu denen der Antragstellerin ein Offenhalten zur Sicherstellung der Versorgung 133 OVG Hamburg, Beschluss vom 26. März 2020, 5 Bs 48/20, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13760462/a86c8c0eee39357420a2dedf40e1d0f3/data/5bs48-20.pdf (Hervorhebung durch Autor), unter Verweis auf BVerfGE 122, 1, juris, Rn. 95 mit weiteren Nachweisen zur Bindung eines Trägers öffentlicher Gewalt an Art. 3 Abs. 1 GG innerhalb seines Kompetenzbereichs. 134 BVerwG, Urteil vom 21. Juni 1955, I C 16653, BeckRS 1995, 30437876. 135 BVerfGE 55, 72 (88). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 35 der Bevölkerung geboten ist. Insofern liegen Gründe vor, die ihrer Art und ihrem Gewicht nach eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Das Unterlassen weitergehender Einschränkungen , die evtl. der Verbreitung noch effektiver Einhalt geböten, kann die Antragstellerin nicht rügen. Es ist nicht ersichtlich, dass die in der Allgemeinverfügung vorgenommene Differenzierung zwischen Einzelhandelsgeschäften mit einer relevanten Versorgungsfunktion und solchen ohne diese willkürlich wäre. Es mag sein, dass die Antragsgegnerin andere Einzelhändler , die ebenfalls nur in geringem Umfang ihres Sortiments Lebensmittel anbieten, derzeit als von der Ausnahme unter Ziffer 1 Buchstabe f) erfasst ansieht und nicht gegen diese Ladengeschäfte vorgeht. Dabei stellt sich zum einen aber zunächst die Frage, ob tatsächlich eine Vergleichbarkeit im Sortiment und in der Marktausrichtung besteht. Zum anderen würde es sich im Ergebnis um ein Vollstreckungsproblem handeln, bei dem angesichts der kurzen Zeit der Existenz der Allgemeinverfügung und der erheblichen Belastung der Verwaltung durch die aktuelle Krise noch nicht erkennbar wäre, dass die Antragsgegnerin willkürlich nur die Antragstellerin in den Blick genommen hätte.“136 3.3.2. Notwendigkeit der Typisierung Bei der Gleichheit gilt folgende Besonderheit: Eine den Einzelnen maßgeblich beeinträchtigende Norm ist nicht notwendigerweise verfassungswidrig.137 Durch den Gleichheitssatz wird der Gesetzgeber folglich nicht zu einer Berücksichtigung jeder individuellen Besonderheit eines Sachverhalts gezwungen.138 Ein Gesetz muss aufgrund seines abstrakt-generellen Charakters notwendigerweise typisieren, weshalb untypische singuläre Einzelfälle nicht erfasst werden müssen.139 3.3.3. Geringere Anforderungen bei Gefahrenabwehr Der Rechtsprechung zufolge sind bei Gefahrenabwehr an den Maßstab des Gleichheitssatzes geringere Anforderungen zu stellen: „Mit diesen Beanstandungen verkennt die Antragstellerin sowohl die Zielrichtung der Allgemeinverfügung als auch die Anforderungen, die im Bereich des Infektionsschutzes – als besonderem Gefahrenabwehrrecht [...] – am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG an dringliche Anordnungen der Verwaltung zu stellen sind. [...] Der Senat kann offenlassen, ob die angegriffene Allgemeinverfügung hinsichtlich der Auswahl der zu schließenden und der weiterhin geöffneten Verkaufsstellen einzelne Schlüssigkeitsdefizite aufweist [...]. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich [...] je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Hoheitsträger , wobei das Niveau der Rechtfertigungsanforderungen sich nach den Besonderheiten des geregelten Lebens- und Sachbereichs bestimmt [...]. Für Rechtsbereiche der Gefahrenabwehr 136 VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020, 5 V 553/20, juris, Rn. 44 (Hervorhebung durch Autor). 137 BVerfGE 70, 1 (30). 138 Kischel, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand. 1. Dezember 2019, Art. 3 GG Rn. 122. 139 Kischel, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand. 1. Dezember 2019, Art. 3 GG Rn. 121. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 36 wie das Infektionsschutzrecht ist zu berücksichtigen, dass die Verwaltung ihre Entscheidungen hier oftmals – wie die vorliegende Konstellation zeigt – unter Zeitdruck und Bedingungen einer sich ständig verändernden Lage zu treffen hat. Dass sie trotz dieser Handlungsbedingungen bei ihren Entscheidungen am Maßstab von Art. 3 Abs. 1 GG einem Gebot innerer Folgerichtigkeit unterläge – wie dies in anderen Rechtsbereichen, etwa dem Steuerrecht, für das Handeln des Gesetzgebers anerkannt ist [...], wird, soweit ersichtlich, in Rechtsprechung und Literatur zu Recht nicht vertreten.“140 3.4. Umsetzungsebene Neben der Ebene der Regelung ist dem Gleichbehandlungsgrundsatz auch, wenn nicht sogar vor allem, bei der Umsetzung der Eindämmungsverordnungen durch die Vollzugsbehörden Rechnung zu tragen. Dies ist Frage der Anwendung im Einzelfall. 4. Menschenwürde 4.1. Schutzbereich Die Menschenwürde ist das Fundament aller Freiheits- und Gleichheitsrechte.141 Sie garantiert jedem Menschen um seiner selbst willen einen von der staatlichen Gewalt unbedingt zu achtenden Wert. Er ist selbständige Person, nicht verfügbare Sache: „Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“142 Als „geistig-sittliche[s] Wesen […], das darauf angelegt ist, sich in Freiheit selbst zu bestimmen und zu entfalten“ gehört er niemandem als sich selbst und muss deshalb stets Zweck an sich selbst bleiben:143 „Die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht hiernach darin, dass er stets als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt […]. Namentlich die selbstbestimmte Wahrung der eigenen Persönlichkeit setzt voraus, dass der Mensch über sich nach eigenen Maßstäben verfügen kann und nicht in Lebensformen gedrängt wird, die in unauflösbarem Widerspruch zum eigenen Selbstbild und Selbstverständnis stehen […].“144 140 OVG Hamburg, Beschluss vom 26. März 2020, 5 Bs 48/20, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13760462/a86c8c0eee39357420a2dedf40e1d0f3/data/5bs48-20.pdf (Hervorhebung durch Autor). 141 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand: 58. EL Januar 2020, § 90 Rn. 79. 142 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019 Art. 1 Abs. 1 Rn. 36 (Hervorhebung durch Autor), auch unter Verweis auf BVerfGE 9, 89 (95): „Darüber hinaus fordert die Würde der Person, dass über ihr Recht nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt wird; der einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können [...].“; 27, 1 (6): „Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen“; 28, 386 (391); 45, 187 (228); 50, 166 (175); 87, 209 (228); EGMR, Urteil vom 25. April 1978, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Series A 26, § 33. 143 Hillgruber, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 1 Rn. 12 mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung. 144 BVerfG, NJW 2020, 905 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 37 4.2. Eingriff 4.2.1.1. Objektformel Ein Ansatzpunkt für einen Eingriff wäre die auch vom Bundesverfassungsgericht genutzte Objektformel – jedenfalls im Hinblick auf den äußeren Gesamteindruck der Eingriffe:145 – Bürger dürfen für mehrere Wochen ihre Wohnung grundsätzlich 24 Stunden pro Tag nicht verlassen; – bei jedem Verlassen der Wohnung müssen die Bürger sich der Polizei gegenüber erklären können; – insoweit es ausnahmsweise erlaubt ist, sich in den öffentlichen Raum zu begeben, muss man sich fortbewegen, darf sich aber nirgends niederlassen, auch nicht auf einer Parkbank; – Besuche sind eingeschränkt, auch zwischen Familienmitgliedern; – Krankenhauspatienten und ältere Menschen sind weitestgehend vollständig isoliert; – die Gerichtsöffentlichkeit kommt weitgehend zum Erliegen; – Demonstrationen sind entweder verboten oder nur in einer kleinen Gruppe möglich; – Bürger, die sich mit Journalisten treffen wollen, sind in den Möglichkeiten eingeschränkt und müssen sich gegebenenfalls gegenüber der Polizei erklären. Das Bundesverfassungsgericht sieht jedoch auch Grenzen der Objektformel: „Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muss. Eine Verletzung der Menschenwürde kann darin allein nicht gefunden werden.“146 Insoweit ließe sich vertreten, dass sich Bürger in die Ausgangsbeschränkungen „fügen müssen“, weil die „Verhältnisse“ des Infektionsschutzes, und insbesondere die Menschenwürde der durch die Infektion besonders Gefährdeten, dies erfordern. In diesem Zusammenhang erinnert ein Verfassungsrechtler daran, „dass die staatliche Schutzpflicht für das individuelle Leben, das schwach ist und sich nicht ausreichend selbst schützen kann, unmittelbar aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Menschenwürde folgt. In seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch spricht das Bundesverfassungsgericht in genau diesem Sinne von der ‚Würde des Menschseins‘, die 145 Siehe Fn. 155. 146 BVerfGE 30, 1 (25 f.) – Hervorhebung durch Autor. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 38 zu achten und zu schützen der Staat verpflichtet ist und aus der sich der Lebensschutz ableitet (BVerfGE 88, 203 (251 f.).“147 Gleichwohl stehen sich letztlich die Menschenwürde der durch die Infektion Gefährdeten und gegebenenfalls die Menschenwürde der durch die Ausgangsbeschränkungen Beeinträchtigten gegenüber: „Auch dies ändert freilich nichts am Abwägungsbedarf. Doch bleibt festzuhalten, dass dem Verlangen nach freier und gleicher Persönlichkeitsentfaltung in Würde sehr deutlich und grundrechtsintensiv die Würde des Lebens der in besonderer Weise gefährdeten Älteren und Schwachen gegenübersteht, die es zu wahren gilt.“148 4.2.1.2. Dauer Die Dauer der Beeinträchtigung kann dazu führen, dass sich die Belastung auf Seiten der Bürger so verdichtet, dass von einem Eingriff in die Menschenwürde auszugehen ist. So ist für Verfassungsrechtler die Dauer der Ausgangsbeschränkungen ein wesentliches Abwägungskriterium: „Natürlich wird mittelfristig viel dafürsprechen, nach Risikogruppen zu differenzieren und denjenigen Personengruppen, die durch das Corona-Virus besonders gefährdet sind, mehr an eigener Freiheitsbeschränkung abzuverlangen als den anderen.“149 „Auf Dauer kann man eine solche flächendeckende Beschränkung nicht hinnehmen. Das muss befristet sein.“150 4.2.1.3. Soziokulturelles Existenzminium Unabhängig von der Dauer der Maßnahmen ist fraglich, ob die Summe der Ge- und Verbote den Bürgern nicht das „soziokulturelle Existenzminium“ nimmt und insoweit gegen die Menschenwürde verstößt. Die Rechtsprechung hat diesen Begriff als Teil der Menschenwürde definiert im Zusammenhang mit Ausgangssperren und der Rationierung von Besuchskontakten psychiatrischer Patienten.151 147 Kube (Heidelberg), Leben in Würde – Würde des Lebens, Verfassungsblog vom 2. April 2020, https://verfassungsblog .de/leben-in-wuerde-wuerde-des-lebens/ (Hervorhebung durch Autor). 148 Kube (Heidelberg), Leben in Würde – Würde des Lebens, Verfassungsblog vom 2. April 2020, https://verfassungsblog .de/leben-in-wuerde-wuerde-des-lebens/ (Hervorhebung durch Autor). 149 So Kube (Heidelberg) explizit im Kontext der Menschenwürde, Verfassungsblog vom 2. April 2020, https://verfassungsblog .de/leben-in-wuerde-wuerde-des-lebens/ (Hervorhebung durch Autor). 150 Papier, Süddeutsche Zeitung vom 1. April 2020, „Selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet“, https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-grundrechte-freiheit-verfassungsgericht-hans-juergen-papier- 1.4864792?reduced=true (Hervorhebung durch Autor). 151 LG Fulda, Urteil vom 23. Januar 2013, 2 O 52/08, BeckRS 2015, 13456 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 39 4.2.1.4. Jugendschutz Das Bundesverfassungsgericht hat die Menschenwürde im Jugendstrafvollzug im Zusammenhang mit dem Bedarf an „Kontakten“ und „körperlicher Bewegung“ von Jugendlichen genannt.152 In dieser Hinsicht könnte jedenfalls für Jugendliche ein Eingriff in die Menschenwürde noch näher liegen als bei Erwachsenen, insbesondere, wenn beide Altersgruppen gleichen Beschränkungen unterliegen. 4.2.1.5. Sexueller Missbrauch und häusliche Gewalt Das Grundgesetz verpflichtet den Staat in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 in besonderer Weise über das Schicksal von Kindern zu wachen. Schutzgut dieser Norm ist die Menschenwürde der Kinder: „Das Wächteramt des Staates (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) beruht in erster Linie auf dem Schutzbedürfnis des Kindes, dem als Grundrechtsträger eigene Menschenwürde und ein eigenes Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit i. S. der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG zukommt.“153 Hierbei ist folgender Hinweis des Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs von Belang: „Durch die völlig berechtigten restriktiven Maßnahmen sind den Kindern auch temporäre Flucht- und vor allem Hilfemöglichkeiten wie Schule, Sportvereine und andere Freizeiteinrichtungen verwehrt. Damit fallen auch Orte weg, an denen Missbrauch entdeckt werden könnte. Täter und Täterinnen können sexuelle Gewalt leichter und unbemerkter ausüben, wenn die Kinder wie in der jetzigen Situation von ihrem helfenden sozialen Umfeld abgekoppelt sind. Das bereitet mir allergrößte Sorge. [...] Beratungsstellen wie das Elterntelefon der ‚Nummer gegen Kummer‘ des Familienministeriums bekommen vermehrt Anrufe. Und die vom Ministerium geförderte medizinische Kinderschutz- Hotline, bei der sich Ärztinnen und Ärzte bei Missbrauchsverdacht beraten lassen können, wird ebenfalls verstärkt nachgefragt. Wir gehen ganz klar für familiäre Gewalt von einem erhöhten Unterstützungsbedarf aus. Allerdings lässt sich das Missbrauchsrisiko gar nicht unbedingt an erhöhten Anrufzahlen ablesen – aus Frankreich gibt es Berichte, dass die Anrufzahlen beispielsweise bei Frauennotrufen sogar runtergegangen sind. Denn wenn Täterinnen und Täter kontinuierlich zu Hause sind, haben gefährdete Kinder und Jugendliche gar keine Gelegenheit, unbemerkt anzurufen. Das ist leider ein bekanntes Phänomen und verschärft die Situation noch einmal dramatisch.“154 152 BVerfG, NJW 2006, 2093 (2096) – Hervorhebung durch Autor. 153 BVerfGE 24, 119, Leitsatz 4 (Hervorhebung durch Autor). 154 Die Welt vom 1. April 2020, Durch die Bank starker Anstieg der innerfamiliären häuslichen Gewalt, https://www.welt.de/politik/deutschland/article206938253/Corona-Roerig-sieht-Anstieg-von-Gewalt-gegen- Kinder.html (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 40 Hier ließe sich einwenden, dass die Grundrechtsverletzungen nur mittelbar auf einem Eingriff des Staates beruhen – insbesondere einer Schutzpflichtverletzung. Für Eingriffe in das Recht auf Leben aufgrund mangelnden Infektionsschutzes gilt dies aber auch. Vorstehende Überlegungen geltend entsprechend für Opfer häuslicher Gewalt. In diesem Zusammenhang weist ein Verfassungsrechtler auch auf „die Dramen“ hin, „die sich aus dem permanenten Zusammenleben auf engstem Raum in den Haushalten entwickeln werden“:155 „Die Polizei geht davon aus, dass es durch die Isolation und Quarantäne zu mehr Gewaltfällen in Haushalten komme. Der Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes, Harald Schmidt, verweist auf die Weihnachtsfeiertage. In dieser Zeit steige die häusliche Gewalt regelmäßig an, da Familien mehr Zeit miteinander verbringen würden. Als weitere Stressfaktoren kämen jetzt auch die Angst vor einer Corona-Infektion sowie das Fehlen von Kinderbetreuung und Rückzugsmöglichkeiten hinzu.“156 4.2.1.6. Suizidgefährdete Der oben angesprochene Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach – zusammengefasst – „die staatliche Schutzpflicht für das individuelle Leben, das schwach ist und sich nicht ausreichend selbst schützen kann, unmittelbar aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Menschenwürde folgt“, gilt wohl auch für Suizidgefährdete. Nach Ansicht von Interessenverbänden 157 und Experten158 führt eine längere Ausgangsbeschränkung zu steigenden Suizidzahlen. Bei hinreichend gesicherter Kausalität zu den Ausgangssperren ließe sich argumentieren, dass nach den Maßstäben der Rechtsprechung – neben einem Eingriff in das Recht auf Leben – auch ein Eingriff in die Menschenwürde vorliegt. Presseberichte sind zu der Zahl solcher Selbsttötungen allenfalls eine unterrepräsentative Informationsquelle: Nach dem Pressekodex gebietet die „Berichterstattung über Selbsttötung [...] Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, 155 Murswiek (Universität Freiburg), Zur Verfassungswidrigkeit der Corona-Politik, Raus aus dem Ausnahmezustand!, Tichys Einblick vom 31. März 2020, https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/raus-aus-dem-ausnahmezustand / (Hervorhebung durch Autor); siehe auch Sußner, Freiheitsrechte und Gewaltschutzansprüche in Zeiten von Corona, Verfassungsblog vom 26. März 2020: „Alles deutet darauf hin, dass derartige staatliche Schutzpflichten vor häuslicher Gewalt sich in Zeiten von Corona noch verstärken“. 156 https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-wie-isolierung-und-quarantaene-in-dercoronakrise .2850.de.html?drn:news_id=1116969; siehe auch Pressemitteilung Bundesregierung vom 6. April 2020, Bundesfamilienministerin zu Konflikten während Corona, Bundesfamilienministerin Giffey sieht vor allem in den Städten die Gefahr vermehrter häuslicher Gewalt, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus /giffey-zu-haeuslicher-gewalt-1739470. 157 Siehe z. B. Tag24 vom 30. März 2020, Einsamkeit in Corona-Zeiten: Experten befürchten mehr Suizide, https://www.tag24.de/thema/coronavirus/coronavirus-einsamkeit-suizid-telefonseelsorge-hilfe-angst-muenchen -1473642; Deutsche DepressionsLiga, Corona-Krise: Vermehrt Depressionen und Suizide, 30. März 2020, https://www.mta-dialog.de/artikel/corona-krise-vermehrt-depressionen-und-suizide.html. 158 Krause, Abteilungsleiter Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, ZDFheute vom 29. März 2020, Epidemiologe alarmiert – Kontaktsperre und Co gefährlicher als Corona?: „Wir wissen, dass zum Beispiel Arbeitslosigkeit Krankheit und sogar erhöhte Sterblichkeit erzeugt. Sie kann Menschen auch in den Suizid treiben“, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-epidemiologe-folgen-helmholtz-100.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 41 die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.“159 Ob Medien bei Suiziden den etwaigen Beweggrund „Depression aufgrund von Ausgangssperre“ berichten, bleibt daher zu bezweifeln. 4.3. Rechtfertigung Bei der Menschenwürde besteht die Besonderheit, dass ein Eingriff zugleich eine Rechtsverletzung bedeutet. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts gilt der Schutz der Menschwürde „absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleiches“.160 Gleichwohl ist Leben ein hohes Rechtsgut. Daher stellt sich die Frage, ob der Schutz des Lebens mit einem Eingriff in die Menschenwürde in Abwägung gebracht werden kann. Mit der Aussage eines „absoluten Schutzes“ könnte die folgende frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Widerspruch stehen: Das menschliche Leben „ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“161 Umstritten ist, ob aus diesen Entscheidungen folgt, dass die Menschenwürde zugunsten des Lebensschutzes einschränkbar ist.162 Ein Verfassungsrechtler hat allerdings angesichts der Ausgangssperren auf Folgendes hingewiesen: „Überhaupt ist der derzeit verbreiteten Vorstellung entgegenzutreten, dass bei den notwendigen Abwägungsentscheidungen Gesundheit und Leben apriorisch höherrangig sind als andere Verfassungsgüter. Auch wenn es schwerfällt: Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) steht unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Im Interesse der persönlichen Freiheit zwingen wir niemanden, in die postmortale Organspende einzuwilligen , obwohl tagtäglich Menschen auf den Wartelisten sterben.“163 5. Bestimmtheitsgebot Das Bestimmtheitsgebot folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG. Hiernach muss das Handeln der Verwaltung messbar und in gewissem Ausmaße für den Bürger voraussehbar und berechenbar sein sowie eine Gerichtskontrolle möglich sein.164 Einige der Kontaktbeschränkungen 159 Ziffer 8, Richtlinie 8.7, https://www.presserat.de/files/presserat/dokumente/download/Pressekodex 2017light_web.pdf. 160 BVerfGE 75, 369 (380) – Hervorhebung durch Autor. 161 BVerfGE 39, 1 (42) – Hervorhebung durch Autor. 162 Vgl. die Nachweise bei Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 1 Abs. 1 Rn. 73. 163 Kingreen (Universität Regensburg), Whatever it Takes? Der demokratische Rechtsstaat in Zeiten von Corona, Verfassungsblog vom 20. März 2020, https://verfassungsblog.de/whatever-it-takes/ (Hervorhebung durch Autor). 164 Huster/Rux, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition Stand: 01.12.2019, Art. 20 Rn. 182 mit Nachweisen zur Rechtsprechung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 42 dürften hiernach erheblich problematisch oder wohl verfassungswidrig sein.165 Die folgenden Textstellen sind zufällig ausgewählte Beispiele und dienen der Veranschaulichung der Problematik. So soll nach § 4 Abs. 1 und Abs. 4 der „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung“ Mecklenburg- Vorpommern166 Folgendes gelten: „(1) Touristische Reisen aus privatem Anlass in das Gebiet des Landes Mecklenburg-Vorpommern sind untersagt. Dies gilt insbesondere für Reisen, die zu Freizeit- und Urlaubszwecken und zu Fortbildungszwecken unternommen werden. [...] (4) Ausnahmen von Abs. 1 kommen für Anlässe in Betracht, bei denen die Anwesenheit der reisenden Personen zwingend erforderlich ist (z. B. Beisetzungen).“ Hier drängen sich z. B. folgende zwei Unklarheiten auf: Gilt § 4 auch für private Besuche unter Familienmitgliedern? Hierzu schweigt sich die Verordnung aus. Zugleich definiert § 4 eine Beisetzung als ausnahmsweise erlaubte touristische Reise, wenngleich niemand eine Beisetzung vernünftigerweise als Tourismus bezeichnen würde. Damit wird aber noch unklarer, was einer Beisetzung vergleichbare Fälle sein sollen. Dies wiegt umso schwerer, als § 7 der Verordnung unter der Überschrift „Strafvorschriften“ eine Strafandrohung ausspricht: „Auf die Strafvorschrift des § 75 Absatz 1 Nr. 1 IfSG wird hingewiesen.“ Der normative Gehalt dieser Vorschrift bleibt unklar: Handelt es sich um eine eigenständige Strafvorschrift, um eine Belehrung in Gesetzesform oder um eine erzieherische Androhung? Im Zweifel muss sich der Verordnungsgeber an den verschärften Anforderungen des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen, wenn er seine Verordnung ausdrücklich in einen strafrechtlichen Kontext stellt. Der Gesetzgeber hat hiernach „die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen“.167 Unklar ist auch, ob das Einreiseverbot auch für Personen gilt, die ihren Wohnsitz in Mecklenburg- Vorpommern erst begründen wollen. § 4 Abs. 5 der Verordnung schweigt sich zu diesem Fall aus. 165 Siehe hierzu auch Fährmann/Arzt/Aden, Ausweispflicht per Corona-Verordnung? Verordnungsgeber missachten rechtsstaatliche Grenzen, Verfassungsblog vom 29. März 2020, https://verfassungsblog.de/ausweispflicht-percorona -verordnung/: „§ 14 Abs. 3 sieht Ausnahmen vor; manche davon sind problematisch unpräzise formuliert, etwa wenn § 14 Abs. 2 lit. n eine „Glaubhaftmachung“ der Notwendigkeit eines Besuchs beim Rechtsanwalt verlangt. Die Unbestimmtheit dieser Vorschriften kann für Betroffene und Polizeibeamt*innen zum Problem werden, auch wegen des Straftatbestands in § 75 Abs. 1 Nr. 1 IfSG (ähnlich Sußner). Auch die Ausnahme für „Sport und Bewegung an der frischen Luft“ nach § 14 Abs. 2 lit. i ist unpräzise [...]“. 166 In der Fassung der Dritten Verordnung vom 23. März 2020, https://www.regierung-mv.de/static/Regierungsportal /Ministerium%20f%C3%BCr%20Wirtschaft%2c%20Arbeit%20und%20Gesundheit/Dateien/Downloads /GVOBl%20Nr%206%20vom%2018.%20M%C3%A4rz%202020%20-%20Corona.pdf; https://www.regierung -mv.de/static/Regierungsportal/Ministerpr%C3%A4sidentin%20und%20Staatskanzlei/Dateien/pdf-Dokumente /Verordnung%2021.3.20%20%281%29.pdf; https://www.regierung-mv.de/static/Regierungsportal/Ministerium %20f%C3%BCr%20Wirtschaft%2c%20Arbeit%20und%20Gesundheit/Dateien/Downloads /2.AK_GVO_8_corona_sonder.pdf. 167 BVerfGE 92, 1 (12). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/20 Seite 43 Entsprechendes gilt für § 6 Abs. 2 der „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung“ Mecklenburg- Vorpommern: „Verboten sind Zusammenkünfte jedweder Glaubensgemeinschaften in Kirchen, Moscheen, Synagogen, Kapellen und anderswo. Unaufschiebbare Zusammenkünfte, wie Trauungen und Beisetzungen[,] sind in Gegenwart von bis zu 20 Personen zulässig.“ Zunächst ist unklar, was „anderswo“ erfassen soll – auch Zusammenkünfte unter freiem Himmel? Ferner verbleibt unklar, wann eine Zusammenkunft unaufschiebbar sein soll: Ist eine Trauung immer unaufschiebbar oder gilt dies nur für bestimmte Trauungen? Ist nur die Beisetzung unaufschiebbar oder auch ein Ritual der Einäscherung anstelle einer Beisetzung? Was ist einer Trauung und Beisetzung in der „Unaufschiebbarkeit“ vergleichbar? Eine Kommunion? Eine (Not-)Taufe? Gilt die Ausnahme nur für Personen mit Hauptwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern oder auch für gemischte Trauungen bzw. Trauungen ausschließlich zwischen Personen ohne Wohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern? Die mangelnde Bestimmtheit wird noch dadurch exponiert, dass Richtlinien fehlen, anhand welcher Unterlagen bei Standardsituationen wie Wohnsitzwechsel oder „Sterbebegleitung“ die Glaubhaftmachung erfolgen soll (oder auch überhaupt erfolgen kann): Genügt für den Nachweis einer Beerdigung eine schriftliche Trauernachricht? Oder ist ein amtliches Dokument erforderlich, wie z. B. der Todesfeststellung? Wie ist in diesem Fall das Verwandtschaftsverhältnis des Reisenden zu dem Verstorbenen nachzuweisen? Genügt eine Kopie oder erfordert es das Original? Die fragwürdigen Situationen, die sich aus der Unbestimmtheit der Normen an Autobahnausfahrten für die Reisenden und Vollzugspolizisten ergeben, illustrieren folgende Beispiele: „Die Gemeinde Krummhörn in Ostfriesland forderte ein Ehepaar zur Rückreise nach Rheinland- Pfalz auf und bekam vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg Recht. Die Besitzerin eines Hauses in Aurich sollte dem Landkreis mit Fotos beweisen, dass sie ihren Noch-Hauptwohnsitz in Dortmund bereits für den Verkauf leergeräumt hat und nicht etwa aus Angst vor Corona aus Nordrhein-Westfalen geflüchtet ist.“168 *** 168 Tagesschau.de vom 3. April 2020, Ostern in der Zweitwohnung – geht das?, https://www.tagesschau.de/inland /corona-zweitwohnung-101.html.