© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 079/15 Erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts bei Infrastrukturprojekten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/15 Seite 2 Erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts bei Infrastrukturprojekten Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 079/15 Abschluss der Arbeit: 23. März 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/15 Seite 3 1. Fragestellung Der Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes sieht vor, dass die Bundesautobahn 1 „Köln-Niehl – Kreuz Leverkusen“ in die Anlage zu § 17e Abs. 1 Bundesfernstraßengesetz (FStrG) aufgenommen werden soll, die eine Auflistung von Bundesfernstraßen mit erstinstanzlicher Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts beinhaltet. Hintergrund dieser Novellierung sind gravierende Schäden an der Rheinbrücke bei Leverkusen, die ein beschleunigtes Planungsverfahren für den Ersatzbau der Brücke erforderlich machen. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, ob eine Regelung, die eine erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für alle Ersatzbauten im Infrastrukturbereich vorsieht, verfassungsrechtlich zulässig wäre. 2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer erstinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts Im Verwaltungsprozess ist gemäß § 45 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) die erstinstanzliche Zuständigkeit grundsätzlich den Verwaltungsgerichten bzw. in den Fällen des § 47 und § 48 VwGO den Oberverwaltungsgerichten zugewiesen. Die erstinstanzlichen Zuständigkeiten des Bundesverwaltungsgerichts nach § 50 Abs. 1 VwGO bilden somit Ausnahmefälle, die sich unter anderem damit rechtfertigen lassen, dass es um Fälle geht, für die ein näherer Anknüpfungspunkt in einem einzelnen Land fehlt oder die wegen ihrer Bedeutung und im Interesse der Beschleunigung dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorbehalten wurden.1 Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit solch erstinstanzlicher Zuständigkeiten des Bundesverwaltungsgerichts wurde von der Rechtsprechung bereits geprüft. So hat sich beispielsweise das Bundesverwaltungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit seiner erstinstanzlichen Zuständigkeit für bestimmte Verkehrsprojekte befasst2: 2.1. Vereinbarkeit mit Art. 92 und Art. 95 Abs. 1 Grundgesetz (GG) Gemäß Art. 92 GG wird die rechtsprechende Gewalt – neben dem Bundesverfassungsgericht – durch die im Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt . Art. 95 Abs. 1 GG benennt die für die einzelnen Gerichtsbarkeiten zu errichtenden „obersten Gerichtshöfe“. Teilweise wird hieraus abgeleitet, dass die obersten Bundesgerichte zum einen nur als Rechtsmittelgerichte und zum anderen nicht als Tatsacheninstanzen tätig würden.3 1 Siehe Scheidler, Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts, DVBl 2011, 466 (467). 2 BVerwG, NVwZ 2009, 302 ff. Siehe hierzu auch Ronellenfitsch, in: Marschall (Begr.), Bundesfernstraßengesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2012, § 17e Rn. 8 – Fn. 6. 3 Wickel, Symbolische Gesetzgebung in der Verkehrswegeplanung? – Anmerkung zur erneuerten Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes, NVwZ 2001, 16 (19); weitere Nachweise bei Scheidler, Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts, DVBl 2011, 466 (467 – Fn. 9). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/15 Seite 4 Das Bundesverwaltungsgericht hat jedoch klargestellt, dass aus der Bezeichnung als „oberste Gerichtshöfe“ in Art. 95 Abs. 1 GG nicht folge, dass diese Gerichte nur Rechtsmittelgerichte sein könnten. So führt das Gericht aus: „Aus dem Zusammenhang der genannten Grundgesetzbestimmungen folgt, dass die obersten Gerichtshöfe zwar grundsätzlich als Rechtsmittelgerichte letzter Instanz errichtet werden müssen, dass ihnen aber aus sachlich einleuchtenden Gründen ausnahmsweise auch eine erstinstanzliche Zuständigkeit eingeräumt werden kann. Ein solcher sachlicher Grund, der die Zuständigkeitsregelung zugleich mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigt, kann zum Beispiel vorliegen, wenn Verwaltungsakte bestimmter oberster Bundesbehörden oder Entscheidungen vergleichbarer Hoheitsträger angegriffen werden, die von überregionaler oder allgemeiner grundsätzlicher Bedeutung sind oder einer raschen endgültigen Klärung ihres Rechtsbestandes bedürfen.“4 Das Gericht betont, dass nicht jeder beliebe Grund eine derartige Zuständigkeitsbestimmung rechtfertigen könne.5 Aus dem Umstand, dass die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Gerichte des Bundes von denen der Länder den föderalen Aufbau des Gerichtswesens und damit die Aufgabenverteilung im Bundesstaat berühre, ergebe sich das Erfordernis, dass es um Rechtsstreitigkeiten gehen müsse, bei denen ein gesamtstaatliches oder bundesstaatliches Interesse an einer raschen (rechtskräftigen) Entscheidung bestehe.6 Weiter führt das Gericht aus: „Aus dem Ausnahmecharakter einer solchen Zuständigkeitsbestimmung folgt darüber hinaus, dass sie weiteren quantitativen und qualitativen Schranken unterliegt, damit der oberste Gerichtshof seiner eigentlichen Aufgabe als Revisionsgericht, nämlich der Rechtsfortbildung und der Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung, gerecht werden kann: Die Zuweisung erstinstanzlicher Zuständigkeiten an einen obersten Gerichtshof darf quantitativ und qualitativ nach ihrem Anteil an der gesamten Geschäftslast des Gerichts keine solche Größenordnung erreichen, dass nicht mehr von einer ausnahmsweisen Zuständigkeit gesprochen werden kann. Sie darf auch nicht dazu führen, dass den Gerichten der Länder in wesentlichen Rechtsmaterien, zumal solchen mit raumbedeutsamen Inhalt, praktisch keine substanziellen Zuständigkeiten mehr verbleiben.“7 Das Gericht gesteht dem Gesetzgeber bei der Beurteilung, ob die genannten Voraussetzungen erfüllt sind, einen weiten Einschätzungsspielraum zu.8 2.2. Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 4 GG Darüber hinaus stellt das Bundesverwaltungsgericht klar, dass die mit der Schaffung einer entsprechenden erstinstanzlichen Zuständigkeit verbundene Verkürzung des Rechtswegs auf nur 4 BVerwG, Urteil vom 9. Juli 2008 – 9 A 14/07, NVwZ 2009, 302 (303). 5 BVerwG, Urteil vom 9. Juli 2008 – 9 A 14/07, NVwZ 2009, 302 (303). 6 BVerwG, Urteil vom 9. Juli 2008 – 9 A 14/07, NVwZ 2009, 302 (303). 7 BVerwG, Urteil vom 9. Juli 2008 – 9 A 14/07, NVwZ 2009, 302 (303). 8 BVerwG, Urteil vom 9. Juli 2008 – 9 A 14/07, NVwZ 2009, 302 (303). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 079/15 Seite 5 eine Instanz nicht gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG oder das allgemeine Rechtsstaatsprinzip verstößt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts garantiert Art. 19 Abs. 4 GG den Zugang zu Gericht, gewährt aber keinen Anspruch auf einen Instanzenzug.9 Auch die Wirksamkeit der Rechtsschutzgewährung wird nach der Rechtsprechung hierdurch nicht in Frage gestellt.10 3. Zusammenfassung Unter den oben aufgezeigten Voraussetzungen kann der Gesetzgeber für Ersatzbauten im Infrastrukturbereich eine erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts normieren. Die entsprechende Regelung müsste zudem den von der Rechtsprechung aufgestellten Mindesterfordernissen für die Normgestaltung in Hinblick auf den Grundsatz der Gleichheit, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie das Bestimmtheits- und Klarheitsgebot entsprechen.11 9 BVerfGE 1, 433 (437 f.); BVerfGE 49, 329 (343); BVerfGE 65, 76 (90); BVerfGE 87, 48 (61). 10 BVerwG, Urteil vom 22. Januar 2004 – 4 A 32/02, NVwZ 2004, 722 (723). 11 Siehe hierzu Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002, § 4 Rn. 62 ff.