© 2019 Deutscher Bundestag PE 6 - 3000 - 036/19, WD 3 - 3000 - 078/19 Aussetzung des Trennungsgebots für Abschiebungshaft in einer Notlage nach Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie Vorübergehende Streichung von § 62a Abs. 1 AufenthG Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Notifizierung des Vorliegens einer Notlage gegenüber der EU-Kommission 7 4. Umsetzung der Schutzklausel durch eine vorübergehende Streichung von § 62a Abs. 1 AufenthG 7 4.1. Vorliegen einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie in Deutschland 7 4.2. Vollständige vorübergehende Aussetzung des Trennungsgebotes 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 036/19, WD 3 - 3000 - 078/19 Seite 4 1. Einleitung § 62a Abs. 1 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) sieht vor, dass Abschiebungshaft grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen wird. Zudem sind Familien gemäß § 62a Abs. 1 S. 3 und 4 AufenthG getrennt von den übrigen Abschiebungsgefangenen unterzubringen; ihnen ist ein angemessenes Maß an Privatsphäre zu gewährleisten. Im Referentenentwurf1 des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) für ein „Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (Geordnete-Rückkehr-Gesetz)“ war zunächst u. a. eine vollständige Aussetzung des für die Rückführung von illegal in Mitgliedstaaten aufhältigen Drittstaatsangehörigen europarechtlich in Art. 16 Abs. 1 S. 1 und Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie )2 verankerten Trennungsgebotes vorgesehen. Vor diesem Hintergrund wurde um eine Auslegung von Art. 18 Rückführungsrichtlinie gebeten. Dabei soll auch darauf eingegangen werden, ob und in welcher Weise ein Mitgliedstaat die Europäische Kommission über das Vorliegen einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie informieren müsste. Ferner wurde gefragt, ob bei Vorliegen einer solchen Notlage regelungstechnisch zur Aussetzung des Trennungsgebotes eine einfache Streichung von § 62a Abs. 1 AufenthG genügt. 2. Auslegung des Art. 18 der Richtlinie 2008/115/EG Art. 18 Rückführungsrichtlinie enthält Abweichungsmöglichkeiten in Bezug auf Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie in bestimmten Notlagesituationen. Gemäß Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie kann, wenn „eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals [führt]“, der betreffende Mitgliedstaat, solange diese außergewöhnliche Situation anhält, u. a. „dringliche Maßnahmen in Bezug auf die Haftbedingungen ergreifen, die von den Haftbedingungen der Artikel 16 Absatz 1 sowie 17 Absatz 2 abweichen.“ Gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Rückführungsrichtlinie erfolgt die Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind diese in einem Mitgliedstaat nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in 1 Stand 31. Januar 2019 (alle in der Ausarbeitung angegebenen Links wurden zuletzt am 2. April 2019 angerufen). 2 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 036/19, WD 3 - 3000 - 078/19 Seite 5 Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht , Art. 16 Abs. 1 Satz 2 Rückführungsrichtlinie.3 Gleichsam müssen bis zur Abschiebung in Haft genommene Familien eine gesonderte Unterbringung erhalten, die ein angemessenes Maß an Privatsphäre gewährleistet (gemeinsam sog. Trennungsgebot). Aus der Rückführungsrichtlinie (einschließlich ihrer Erwägungsgründe) ergeben sich über den Wortlaut hinaus keine weiteren Anhaltspunkte für die Auslegung des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie . Regelungen zur Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben nach der Rückführungsrichtlinie enthält das Rückkehr-Handbuch im Anhang zur Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission4. Jedoch finden sich auch in dessen entsprechenden Vorschriften – dort unter Ziff. 17 (Notlagen) – keine weiteren Bestimmungen zur Definition einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie . Zudem ist keine Rechtsprechung des EuGH zum Vorliegen einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie ersichtlich. Allerdings dürfte für die Frage des Vorliegens einer Überlastung der in einem Mitgliedstaat zur Verfügung stehenden Abschiebehaftkapazitäten die zu Art. 16 Abs. 1 S. 2 Rückführungsrichtlinie ergangene Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen sein: Danach ist das Trennungsgebot grundsätzlich unabhängig von der jeweiligen Verwaltungs- oder Verfassungsstruktur der Mitgliedstaaten gesetzlich zu gewährleisten und umzusetzen.5 In der Konsequenz dieser Rechtsprechung kann sich insbesondere ein föderal untergliederter Mitgliedstaat wie Deutschland nicht darauf zurückziehen, dass die Schaffung und Unterhaltung von speziellen Abschiebungshafteinrichtungen den Bundesländern obliegt. Die Bundesländer können Ausnahmen vom Trennungsgebot ihrerseits wiederum nicht damit begründen, dass in ihrem jeweiligen Gebiet keine bzw. nicht genügend Plätze in Abschiebungshafteinrichtungen zur Verfügung stünden. Die Abweichungsmöglichkeiten in Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie werden zudem durch Art. 18 Abs. 3 Rückführungsrichtlinie beschränkt. Gemäß Art. 18 Abs. 3 Rückführungsrichtlinie ist Art. 18 Rückführungsrichtlinie nicht so auszulegen, als gestatte er den Mitgliedstaaten eine Abweichung von ihrer allgemeinen Verpflichtung, alle geeigneten – sowohl allgemeinen als auch besonderen – Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass sie ihren aus der Rückführungsrichtlinie hervorgehenden Verpflichtungen nachkommen. Die Vorschrift soll – dem allgemeinen 3 Die Unterbringung in einer gewöhnlichen Haftanstalt nach Art. 16 Abs. 1 S. 2 Rückführungsrichtlinie ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bereits dann ausgeschlossen, wenn die nach nationalem Recht für Haftanordnung und -vollzug zuständige föderale Untergliederung eines föderal strukturierten Staates über keine spezielle Hafteinrichtung nach Art. 16 Abs. 1 S. 1 Rückführungsrichtlinie verfügt, solche aber in anderen föderalen Untergliederungen vorhanden sind: EuGH, Urteil vom 17.7.2014, verb. Rs. C-473/13 (Bero/Regierungspräsidium Kassel) und C-514/13 (Bouzalmate/Kreisverwaltung Kleve), ECLI:EU:C:2014:2095, Rn. 31-32. Als materielle Voraussetzung für die Unterbringung im Rahmen der Abschiebehaft verbietet das Trennungsgebot nach Auffassung des EuGH auch dann eine gemeinsame Unterbringung mit gewöhnlichen Strafgefangenen, wenn der betroffene Drittstaatsangehörige darin einwilligt: EuGH, Urteil vom 17.7.2014, Rs. C-474/13, (Thi Ly Pham/Stadt Schweinfurt) ECLI:EU:C:2014:2096, Rn. 21 ff. 4 Empfehlung (EU) 2017/2338 der Kommission vom 16. November 2017 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist, ABl. L 339 vom 19.12.2017, S. 83. 5 EuGH, Urteil vom 17.7.2014, verb. Rs. C-473/13 und C-514/13 (Bero und Bouzalmate), ECLI:EU:C:2014:2095, Rn. 28. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 036/19, WD 3 - 3000 - 078/19 Seite 6 Rechtsgrundsatz des „effet utile“ folgend6 - dafür Sorge tragen, dass die Bestimmungen der Rückführungsrichtlinie , und damit auch die Vorgaben zu den Haftbedingungen gemäß Art. 16 und 17 Rückführungsrichtlinie, praktisch wirksam zur Anwendung kommen. Die besondere Bedeutung der in der Rückführungsrichtlinie festgelegten Haftbedingungen zeigt sich zudem im Erwägungsgrund 17 der Rückführungsrichtlinie7 sowie in der bereits genannten Entscheidung des EuGH vom 17.7.2014 (verb. Rs. C-473/13 und C-514/13), die ebenfalls das Erfordernis des Vollzugs der Abschiebungshaft in speziellen Hafteinrichtungen betonen. Vor diesem Hintergrund sei nach Ansicht des EuGH bereits die Ausnahmebestimmung in Art. 16 Abs. 1 Satz 2 Rückführungsrichtlinie (siehe oben) eng auszulegen.8 Dies könnte dafür sprechen, die Ausnahmebestimmungen des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie ebenso eng auszulegen. Insbesondere dürfte der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie der effet utile der Annahme einer Notlage im Fall eines ggf. nur geringfügigen, vorübergehenden Unterschreitens des eigentlich notwendigen Bedarfs an Abschiebungshaftplätzen entgegenstehen. Es bedarf jedenfalls einer sorgfältigen Prüfung und Begründung durch den Mitgliedstaat, der von der Schutzklausel Gebrauch machen will, ab und bis zu welchem Grad des Unterschreitens des Bedarfes an Abschiebungshaftplätzen eine Überlastung im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie anzunehmen ist. Weitere Grenzen des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie zieht der Generalanwalt beim EuGH Yves Bot in seinen Schlussanträgen vom 30.4.2014 zu den verb. Rs. C-473/13, C-514/13 und C-474/13. Eine Inhaftierung in einer speziellen Einrichtung – als die am stärksten die Freiheit einschränkende Maßnahme, die die Rückführungsrichtlinie zulasse –, stelle seiner Ansicht nach ein „letztes Mittel“ dar und könne daher nur unter besonderen Umständen zur Anwendung kommen. Die strikte Begrenzung der Inhaftierung durch den Unionsgesetzgeber diene „zum einen [der] Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele und zum anderen [der Gewährleistung der] Beachtung der Grundrechte der betroffenen Drittstaatsangehörigen […]“.9 Soweit die Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen müsse, erscheint es nach Ansicht des Generalanwalts daher als „unantastbar“, dass der Mitgliedstaat die Absonderung von den gewöhnlichen Strafgefangenen gewährleiste, „da sie unabhängig vom Ort der Inhaftierung verpflichtend ist“.10 6 Erstmals Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 15.7.1963, Rs. 34/62 (Kommission/Deutschland), Slg. 1963, 289, 318, siehe dazu erläuternd Streinz, in Streinz: EUV/AEUV, 3. Auflage 2018, Art. 4 EUV, Rn. 33. 7 Erwägungsgrund 17: „In Haft genommene Drittstaatsangehörige sollten eine menschenwürdige Behandlung unter Beachtung der Grundrechte und im Einklang mit dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht erfahren. Unbeschadet des ursprünglichen Aufgriffs durch Strafverfolgungsbehörden, für den einzelstaatliche Rechtsvorschriften gelten, sollte die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgen.“ 8 EuGH, Urteil vom 17.7.2014, verb. Rs. C-473/13 und C-514/13 (Bero und Bouzalmate, Fn. 5), Rn. 25, 29 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 24.4.2012, Rs. C-571/10 (Kambaraj/IPES), ECLI:EU:C:2012:233, Rn. 86. 9 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 30.4.2014 (verb. Rs. C-473/13, C-514/14 und C-474/13), ECLI:EU:C:2014:295, Rn. 7. 10 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 30.4.2014 (verb. Rs. C-473/13, C-514/14 und C-474/13), (Fn. 9), Rn. 10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 036/19, WD 3 - 3000 - 078/19 Seite 7 3. Notifizierung des Vorliegens einer Notlage gegenüber der EU-Kommission Für den Fall, dass ein Mitgliedstaat von der Notfallregelung des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie Gebrauch machen möchte, regelt Art. 18 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie Verfahrensvorschriften. Die Mitgliedstaaten setzen gemäß Ziff. 18 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie die Kommission darüber in Kenntnis, wenn sie auf Maßnahmen nach Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie zurückgreifen. Gleiches gilt, sobald die Gründe für die Anwendung dieser außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr vorliegen. Entsprechende Informationen sollen gemäß Ziff. 17 Rückkehr-Handbuch der Kommission auf dem üblichen Dienstweg, d. h. über die Ständige Vertretung an das Generalsekretariat der Europäischen Kommission, übermittelt werden.11 Weitere Vorgaben über Inhalt oder Übermittlung der erforderlichen Informationen treffen weder Art. 18 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie noch Ziff. 17 Rückkehr-Handbuch. Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung von Art. 18 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie ist zudem nicht ersichtlich. 4. Umsetzung der Schutzklausel durch eine vorübergehende Streichung von § 62a Abs. 1 AufenthG Das deutsche Recht beinhaltet bislang keine Ausnahmeregelungen zur Abweichung von Art. 16 Abs. 1 und 17 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie in Notlagen im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie . Behörden dürfen sich nur auf in Richtlinien vorgesehene Ausnahmen berufen, wenn die für die Durchführung der Richtlinie zuständige Stelle des betreffenden Mitgliedstaats eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, dass sie diese Ausnahme in Anspruch nehmen will.12 Der Bundesgesetzgeber hat mit § 62a AufenthG von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zur Regelung des Trennungsgebotes bei Abschiebungshaft Gebrauch gemacht und müsste durch Anpassung der nationalen Bestimmungen zu erkennen geben, dass bzw. wann eine Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie vorliegt und welche „Abweichungen“ vom Trennungsgebot zugelassen werden. Dabei müssen – wie bereits unter 2. dargelegt – die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des effet utile beachtet werden. Der Referentenentwurf des BMI sah noch in der Fassung vom 31. Januar 2019 eine komplette Streichung von § 62a Abs. 1 AufenthG vor.13 Gleichzeitig soll § 62a Abs. 1 AufenthG nach Art. 8 des insoweit unveränderten Referentenentwurfs mit Wirkung zum 1. Juli 2022 wieder eingeführt werden. 4.1. Vorliegen einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie in Deutschland Sofern sich der Gesetzgeber entscheiden würde, nicht etwa nur die Voraussetzungen der Annahme einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie für die Situation im Mitgliedstaat näher zu konkretisieren und eine Stelle zu bestimmen, die auf dieser Grundlage zu gegebener 11 Bei dem Rückkehr-Handbuch handelt es sich um eine Empfehlung gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV. Empfehlungen sind gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV rechtlich nicht verbindlich, legen dem Adressaten jedoch regelmäßig ein bestimmtes Verhalten nahe, siehe dazu Ruffert, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016, Art. 288 AEUV, Rn. 96. 12 EuGH, Urteil vom 24.4.2012, Rs. C-571/10 (Kambaraj/IPES, Fn. 8), Rn. 87. 13 Art. 1 Nr. 26 des Referentenentwurfs in der Fassung vom 31. Januar 2019 (Fn. 1). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 036/19, WD 3 - 3000 - 078/19 Seite 8 Zeit das (bundesweite) Vorliegen einer Notlage feststellt, sondern die Rechtslage wie im Referentenentwurf vorgesehen vorübergehend generell unter Abweichung von Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie zu regeln, muss die Notlage bereits bei Inkrafttreten und während der gesamten Geltungsdauer dieser Ausnahmeregelung bestehen. Während der gesamten Zeit muss gemäß Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen , deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals führen. Die Schutzklausel des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie ist wie unter 2. dargelegt eng auszulegen. Insbesondere dürften mit Blick auf den Grundsatz des effet utile und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hohe Anforderungen an die Prüfung und Annahme einer Notlage durch einen Mitgliedstaat zu stellen sein. Mitgliedstaaten sind zudem auch in Notlagen verpflichtet, allgemeine und besondere Maßnahmen zur Einhaltung der Vorgaben der Rückführungsrichtlinie zu ergreifen. Nach der Begründung des Referentenentwurfs14 liegen die Voraussetzungen einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie derzeit vor: Zum Stichtag 31. Dezember 2018 waren nach dem Ausländerzentralregister (AZR) 235.957 Personen vollziehbar ausreisepflichtig, wobei ein weiterer Anstieg durch Abschluss von 280.000 anhängigen Rechtsmittelverfahren gegen ablehnende Asylentscheidungen zu erwarten sei.15 Auf den Anteil der nach dem AZR Ausreisepflichtigen, die sich nicht mehr im Bundesgebiet aufhalten, freiwillig ausreisen oder aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden können und deshalb gemäß § 60a AufenthG geduldet16 sind, wird in der Entwurfsbegründung nicht eingegangen. Der Gesamtanzahl der nach dem AZR Ausreisepflichtigen stünden bundesweit nur etwa 420 Plätze in speziellen Abschiebungshafteinrichtungen gegenüber, die bereits durch Koordination der Länder bestmöglich genutzt würden.17 Die Vermittlungsquote von Haftplätzen aus dem „Gemeinsamen Zentrum zur Unterstützung der Rückkehr“ liege nur im unteren zweistelligen Prozentbereich, weshalb in der Praxis trotz Vorliegens der Voraussetzungen zahlreiche Abschiebungshaftanträge nicht gestellt werden könnten.18 Die Entwurfsbegründung enthält keine Angaben zur Gesamtanzahl bzw. zum Gesamtanteil der Abschiebungen, die mangels Abschiebungshaftkapazitäten scheitern oder nicht unerheblich verzögert werden. 14 Im Folgenden werden sofern nicht anders angegeben die im aktualisierten Referentenentwurf in der Fassung vom 13. Februar 2019 genannten Zahlen zu Grunde gelegt. 15 Referentenentwurf in der Fassung vom 13. Februar 2019 (Fn. 14), S. 58. 16 182.169 Personen zum Stichtag 31. Januar 2019 laut Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Linda Teuteberg, Stephan Thomae, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP (BT-Drs. 19/7598), BT-Drs. 19/8030, S. 7. 17 Referentenentwurf in der Fassung vom 13. Februar 2019 (Fn. 14), S. 58. 18 Referentenentwurf in der Fassung vom 13. Februar 2019 (Fn. 14), S. 58; („in der Regel 10 %“ laut Begründung in der Fassung vom 31. Januar 2019, Fn. 1, S. 50). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 036/19, WD 3 - 3000 - 078/19 Seite 9 Die Überlastung der Kapazitäten sei nach Ansicht der Bundesregierung auch unvorhersehbar gewesen.19 Nach der plötzlichen Trendwende des zuvor über Jahre rückläufigen Bedarfs an Abschiebungshaftplätzen durch den sprunghaften Anstieg der Zahl der Schutzsuchenden im Jahr 2015 seien der Bund und die Länder europa- sowie völkerrechtlich vorrangig verpflichtet gewesen, Kapazitäten für deren Versorgung aufzubauen.20 Diese Auslegung der „Unvorhersehbarkeit“ der Überlastung der Abschiebungshaftkapazitäten im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie erscheint sehr weitgehend. Sie wird im Entwurf damit begründet, dass in dieser Situation die Versorgung der neuankommenden Menschen nach Sinn und Zweck der Schutzklausel vor dem Ausbau der Haftkapazitäten Vorrang habe, mit dem Zweck, zu einem späteren Zeitpunkt (nach Abschluss des Asyl- und Rechtsmittelverfahrens) die Regelanforderungen der Rückführungsrichtlinie erfüllen zu können.21 Die Länder hätten den Ausbau der Haftkapazitäten nach Beendigung der Ausnahmesituation zwar begonnen. Eine den Bedarf deckende Zahl an Abschiebungshaftplätzen sei jedoch erst zum 30. Juni 2022 zu erwarten.22 Auf Art. 18 Abs. 3 Rückführungsrichtlinie, der die Mitgliedstaaten entsprechend dem Grundsatz des effet utile verpflichtet, auch in Notlagen allgemeine sowie besondere Maßnahmen zur Wahrung des Trennungsgebotes zu ergreifen, wird nicht konkret eingegangen. Der Entwurf enthält insbesondere keine Angaben dazu, ob die Zahl der Haftplätze bis zum 30. Juni 2022 jedenfalls schrittweise gesteigert werden wird und weshalb dennoch während der gesamten Zeit eine vollständige Aussetzung des Trennungsgebotes gerechtfertigt wäre. 4.2. Vollständige vorübergehende Aussetzung des Trennungsgebotes Eine vorübergehende komplette Streichung von § 62a Abs. 1 AufenthG würde dazu führen, dass nicht etwa nur ausnahmsweise von den Vorgaben von Art. 16 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie abgewichen werden dürfte, sondern das Trennungsgebot jedenfalls bis einschließlich 30. Juni 2022 gar nicht mehr gesetzlich verankert wäre. Das AufenthG würde in diesem Fall weder den Vollzug von Abschiebungshaft in speziellen Hafteinrichtungen noch zumindest die getrennte Unterbringung von Abschiebe- und Strafgefangenen innerhalb derselben Hafteinrichtung gebieten. Dadurch würde nicht nur die Eingriffsintensität der Abschiebungshaft als ohnehin schon schwerste23 Form der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht erheblich verstärkt, sondern die Unterscheidung der Abschiebungshaft von der Strafhaft gänzlich aufgehoben. Nach Ansicht des EuGH begründet Art. 16 Abs. 1 S. 2 Rückführungsrichtlinie aber eine unbedingte Verpflichtung, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige von den gewöhnlichen Strafgefangenen zu 19 Referentenentwurf in der Fassung vom 13. Februar 2019 (Fn. 14), S. 58. 20 Referentenentwurf in der Fassung vom 13. Februar 2019 (Fn. 14), S. 58. 21 Referentenentwurf in der Fassung vom 13. Februar 2019 (Fn. 14), S. 58 f. 22 Referentenentwurf in der Fassung vom 13. Februar 2019 (Fn. 14), S. 59. 23 So auch Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 30.4.2014, (Fn. 9), Rn. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 036/19, WD 3 - 3000 - 078/19 Seite 10 trennen, wenn ein Mitgliedstaat sie nicht in speziellen Hafteinrichtungen unterbringen kann.24 Das Trennungsgebot gehe über eine bloße spezifische Durchführungsmodalität der Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten hinaus und stelle eine materielle Voraussetzung für diese Unterbringung dar, ohne deren Erfüllung die Unterbringung grundsätzlich nicht mit der Richtlinie in Einklang stünde.25 Das Gebot der Trennung Abschiebegefangener von gewöhnlichen Strafgefangenen gelte ohne Ausnahme und garantiere die Wahrung der Rechte, die der Unionsgesetzgeber diesen Drittstaatsangehörigen im Rahmen der Abschiebungshaftbedingungen in gewöhnlichen Haftanstalten ausdrücklich einräume.26 Laut Ansicht des Generalanwalts beim EuGH Yves Bot gibt es „keinen legitimen Grund, [die Abschiebungshaft] unter den Bedingungen und Regelungen des Strafvollzugs durchzuführen.“27 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verlangt einen Zusammenhang zwischen dem für einem Freiheitsentzug auf Grundlage einer Ausnahme nach Art. 5 Abs. 1 lit. a bis f EMRK angeführten Grund einerseits und dem Ort und der Art und Weise der Inhaftierung andererseits.28 Eine Inhaftierung ist mithin nach Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK nicht schon allein dann ausnahmsweise zulässig, wenn diese mit dem Ziel und zum Zweck der Durchsetzung der Ausreisepflicht erfolgt.29 Vielmehr dürfte erforderlich sein, dass auch der Ort und die Art und Weise des Freiheitsentzuges den Charakter einer Abschiebungshaft aufweisen. Auch Kluth betont, dass es schwerwiegende menschenrechtliche Gründe gibt, die das Trennungsgebot tragen und dass die auf den äußeren Rahmen bezogenen Vorgaben eng mit der Art und Weise der Freiheitsbeschränkung verbunden sind.30 Die skizzierten Grundaussagen des EuGH und insbesondere des EGMR deuten darauf hin, dass auch im Falle einer Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie zumindest die Trennung von Abschiebe- und Strafgefangenen innerhalb derselben Haftanstalt gewährleistet werden müsste, um den Charakter der Abschiebungshaft und die für diese geltenden menschenrechtlichen Garantien der EMRK im Mindestmaß zu wahren. Der Referentenentwurf des BMI wurde mittlerweile dahingehend geändert, dass § 62a Abs. 1 bis zum 30. Juni 2022 trotz vorüber- 24 EuGH, Urteil vom 17.7.2014, Rs. C-474/13 (Pham/Stadt Schweinfurt), ECLI:EU:C:2014:2096, Rn. 17 unter Verweis auf EuGH, Urteil vom selben Tag, verb. Rs. C-473/13 und C-514/13 (Bero und Bouzalmate, Fn. 5). 25 EuGH, Urteil vom 17.7.2014, Rs. C-474/13 (Pham/Stadt Schweinfurt, Fn. 23), Rn. 21. 26 EuGH, Urteil vom 17.7.2014, Rs. C-474/13 (Pham/Stadt Schweinfurt, Fn. 23), Rn. 19. 27 Vgl. Schlussanträge vom 30.4.2014, (Fn. 9), Rz. 93. 28 EGMR, Urteil vom 19. Januar 2012, 39472/07 Nr. 91 (Popov/Frankreich), Rn. 118. 29 EGMR, Urteil vom 19. Januar 2012, 39472/07 Nr. 91 (Popov/Frankreich, Fn. 27), Rn. 119. 30 Kluth, ZAR 2015, 285 (289). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung PE 6 - 3000 - 036/19, WD 3 - 3000 - 078/19 Seite 11 gehender Aussetzung der Verpflichtung zur Unterbringung in speziellen Abschiebungshafteinrichtungen jedenfalls vorsehen soll, dass Abschiebungsgefangene getrennt von Strafgefangenen unterzubringen seien.31 Eine Beschränkung des Trennungsgebotes dürfte europa- sowie menschenrechtlich darüber hinaus jedoch nur dann zu rechtfertigen sein, wenn die nationale Regelung zur Inanspruchnahme der Schutzklausel des Art. 18 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie sicherstellt, dass alle gegenüber einer Beschränkung des Trennungsgebotes milderen Mittel ausgeschöpft werden. In Deutschland stehen derzeit über 400 Plätze32 in speziellen Abschiebungshafteinrichtungen zur Verfügung. Dies spricht dafür, dass eine komplette Streichung von § 62a Abs. 1 AufenthG ohne gesetzliche Verpflichtung, vor der Unterbringung in Strafhaftanstalten vorrangig die Plätze in Abschiebungshafteinrichtungen auszuschöpfen, keine hinreichende gesetzliche Umsetzung von Art. 18 Abs. 1 und Abs. 3 Rückführungsrichtlinie darstellt. *** 31 Art. 1 Nr. 26 des Referentenentwurfs in der Fassung vom 13. Februar 2019 (Fn. 14). 32 438 Plätze im November 2018 laut Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. (BT-Drs. 19/1488), BT-Drs 19/5817, S. 28; seit 3. Dezember 2018 kamen 24 Plätze für die Abschiebungshaft und 34 Plätze für den Ausreisegewahrsam in Sachsen (Dresden) hinzu, vgl. die Pressemitteilung des Freistaats Sachsen vom 3. Dezember 2018.