© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 078/16 Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Überprüfung der Genehmigung der vorläufigen Anwendbarkeit des Freihandelsabkommens CETA Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch (VS-NfD) Dies gilt für den zweiten Satz im letzten Absatz auf Seite 4 und den ersten Absatz auf Seite 5 dieser Ausarbeitung. Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/16 Seite 2 Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Überprüfung der Genehmigung der vorläufigen Anwendbarkeit des Freihandelsabkommens CETA Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 078/16 Abschluss der Arbeit: 10.03.2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/16 Seite 3 1. Fragestellung Zwischen der EU und Kanada wurde bis vor wenigen Tagen das Freihandelsabkommen CETA nachverhandelt.1 Nach Auskunft der Bundesregierung könnte möglicherweise im Mai, voraussichtlich aber auch erst zu einem späteren Zeitpunkt, im Rat der EU über die Unterzeichnung von CETA entschieden und seine vorläufige Anwendung genehmigt werden (Art. 218 Abs. 5 AEUV2).3 Vor diesem Hintergrund sind verschiedene Fragen zur möglichen vorläufigen Anwendung von CETA gestellt worden. Gegenstand dieser Ausarbeitung ist die Frage mit verfassungsrechtlichem Bezug, bei der es darum geht, auf welchem Wege und unter welchen Voraussetzungen Bundestagsabgeordnete im Vorfeld eines Beschlusses über die vorläufige Anwendung von CETA dies verfassungsrechtlich überprüfen lassen können.4 2. Erläuterungen 2.1. Aktueller Kenntnisstand über die vorläufige Anwendung von CETA Derzeit steht noch nicht fest ob, und wenn ja, in welchem Umfang, der Rat die vorläufige Anwendung von CETA genehmigen wird. Es ist auch noch offen, ob CETA als gemischtes Abkommen eingeordnet werden wird und daher auch die Mitgliedstaaten diesen Vertrag ratifizieren müssen.5 Die Bundesregierung hat erklärt, dass nach ihrer Auffassung CETA ein gemischtes Abkommen ist.6 In Bezug auf die vorläufige Anwendung von CETA erklärt die Bundesregierung außerdem, dass bei gemischten Abkommen nur die Aspekte vorläufig angewendet würden, die in der EU-Zuständigkeit liegen. Die Teile des Abkommens, die in nationaler Zuständigen liegen, würden erst nach Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten in Kraft treten.7 Für die Frage, wie die Genehmigung der vorläufigen Anwendung von CETA durch den Rat im Sinne von Art. 218 Abs. 5 AEUV nach deutschem Verfassungsrecht überprüft werden könnte, ist 1 Vgl. dazu das im EuDoX-Dokument „CETA - Investment chapter and annexes resulting from fine-tuning” vom 29.02.2016 (http://eudoxap01.bundestag.btg:8080/eudox/dokumentInhalt?id=132864). 2 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 01.12.2009, BGBl. 2008 II S. 1038 ff., zuletzt geändert mit Wirkung vom 24.04.2012, ABl. EU L 112/21. 3 Antwort des Staatssekretärs Matthias Machnig vom 3. Februar 2016 auf die schriftliche Frage von Klaus Ernst, MdB, BT-Drs. 18/7473, Frage Nr. 10, S. 8. 4 Die anderen Fragen werden in gesonderten Gutachten des Fachbereichs PE 6 „Europa“ behandelt. 5 Vgl. EU-Sachstand, Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA), vom 14.12.2015 (http://eudoxap01.bundestag.btg:8080/eudox/dokumentInhalt?id=128527). 6 Vgl. das Dokument des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie „Häufig gestellte Fragen zum EU-Kanada- Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA)“, S. 3 (http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/F/faq-ceta,property =pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf). 7 Siehe Fn. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/16 Seite 4 entscheidend, in welchem Umfang der Rat die vorläufige Anwendbarkeit von CETA genehmigt, und ob es sich bei CETA um ein gemischtes Abkommen handelt. Denn dies bestimmt den Gegenstand , der einer verfassungsrechtlichen Überprüfung unterzogen werden müsste. Genau diese Punkte sind jedoch – wie vorstehend erläutert bisher nicht geklärt. Folglich kann dazu an dieser Stelle keine konkrete und abschließende Antwort gegeben werden, welche Maßnahmen zur Überprüfung ergriffen werden könnten. 2.2. Allgemeine Erläuterung zur verfassungsrechtlichen Kontrolle von Unionsakten Allgemein ist zur der Frage, ob Unionsakte in Deutschland auf ihre Übereinstimmung mit dem deutschen Grundgesetz überprüft werden können, folgendes – auch mit Blick auf CETA – festzuhalten : Rechtsakte und sonstige Akte der Union sind in erster Linie am Unionsrecht selbst zu messen. Auf Seiten der Rechtsprechung sind dafür die Gerichte der Union, d.h. vor allem der Europäische Gerichtshof (EuGH), zuständig.8 Der EuGH ist jedoch nur berufen, das Unionsrecht auszulegen und auf dieser Basis zu entscheiden (Art. 19 Abs. 1 Satz 2., UAbs. 2 EUV). Er entscheidet daher nicht über die Frage, ob ein Unionsakt mit nationalem Verfassungsrecht in Einklang steht. Dies obliegt mit gewissen Grenzen in Deutschland dem Bundesverfassungsgericht.9 Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass es Unionsakte im Hinblick darauf überprüft, ob sie die Kompetenzen der Union überschreiten (ultra-vires-Kontrolle), oder ob sie gegen die identitätsstiftenden Werte des Grundgesetzes nach Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen (Identitätskontrolle).10 Soweit ersichtlich, wird in der verfassungsrechtlichen Literatur bisher nicht vertieft diskutiert, dass CETA die Kompetenzen der Union im Sinne eines ultra-vires-Akts überschreitet oder gegen die identitätsstiftenden Werte des Grundgesetzes nach Art. 79 Abs. 3 GG verstößt. 8 Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV, Art. 263 ff. AEUV; vgl. dazu statt aller: Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 19 EUV, Rdnr. 9 ff. m.w.N. 9 Sie dazu grundlegend den neueren Aufsatz von Schwerdtfeger, Europäisches Unionsrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Grundrechts-, ultra-vires- und Identitätskontrolle im gewaltenteiligen Mehrebenensystem , EuR 2015, 290 m.w.N. 10 Zur Ultra-vires-Kontrolle vgl. BVerfGE 134, 366, 392 – OMT-Beschluss; zur Identitätskontrolle: Entscheidung des BVerfG vom 15.12.2015, auf der Internetseite des BVerfG aufrufbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht .de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/12/rs20151215_2bvr273514.html;jses-sionid =AB85753B63F6CB03DE6C0A13E20868A0.2_cid370; jeweils m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/16 Seite 5 Zur ultra-vires- und Identitätskontrolle hat sich das Bundesverfassungsgerichts in zwei aktuellen Entscheidungen erneut geäußert. In seinem OMT-Beschluss aus dem Jahr 2014 hat das Bundesverfassungsgericht ausführlich dargestellt , dass ein (drohender) ultra-vires-Akt der Unionsorgane Handlungs- und Unterlassenspflichten der deutschen Staatsorgane auslöst.13 Deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürften an einer kompetenzüberschreitenden Handlung von Unionorganen nicht teilnehmen. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung dürften eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Usurpation von Hoheitsrechten durch die Union nicht einfach geschehen lassen.14 Würden der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung gegen diese Pflicht verstoßen, könnte der wahlberechtigte Bürger durch eine auf sein Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) gestützte Verfassungsbeschwerde dagegen vorgehen.15 Da auch Bundestagsabgeordnete wahlberechtigte Bürger sind, steht auch ihnen eine solche Verfassungsbeschwerde grundsätzlich offen. Daneben könnte auch eine Fraktion des Deutschen Bundestages im Wege der Prozessstandschaft in einem einen Organstreit 16 gegen eine solche Pflichtverletzung vorgehen.17 Zur Identitätskontrolle hat sich das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Dezember 2015 geäußert.18 Es hat dabei bestätigt, dass es Unionsakte auch daraufhin prüft, ob sie gegen die identitätsstiftenden Werte des Grundgesetzes nach Art. 79 Abs. 3 GG, d.h. insbesondere 13 BVerfGE 134, 366, 394 ff. – OMT-Beschluss. 14 BVerfGE 134, 366, 394 – OMT-Beschluss. 15 Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. 16 Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG. 17 BVerfGE 134, 366, 397 f. – OMT-Beschluss. 18 Entscheidung des BVerfG vom 15.12.2015 – Identitätskontrolle (Fn. 10). Vgl. dazu auch Brand, Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Identitätskontrolle, Aktueller Begriff der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Nr. 06/16 (05.02.2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/16 Seite 6 gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und die Verfassungsgrundsätze des Art. 20 GG, verstoßen. Daher besteht auch unter diesem Gesichtspunkt und bei entsprechendem Vortrag die Möglichkeit, dies in einer Verfassungsbeschwerde oder gegebenenfalls auch in einem Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht zu rügen. Gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG19 kann das Bundesverfassungsgericht auch schon im Vorfeld einer drohenden Rechtsverletzung eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dies gilt für alle Verfahrensarten, die vor dem Bundesverfassungsgericht zulässig sind und damit sowohl für eine Verfassungsbeschwerde als auch für ein Organstreitverfahren.20 In der Regel wird die Entscheidung in allen genannten Verfahren von der Auslegung des Unionsrechts abhängen. Daher müsste das Bundesverfassungsgericht wohl in den meisten Fällen nationale Verfahren aussetzen und die europarechtlichen Fragen dem EuGH zur Entscheidung vorlegen,21 wie dies auch in seinem OMT-Verfahren geschehen ist.22 Nur wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte-claire-Doktrin),23 darf die Vorlage an den EuGH unterbleiben. Als derart „offenkundig“ hatte das Bundesverfassungsgericht die Rechtlage im Europarecht in seinem jüngsten Urteil zur Identitätskontrolle angesehen und daher die Frage dem EuGH nicht vorgelegt.24 Ende der Bearbeitung 19 Bundesverfassungsgerichtsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473), das zuletzt durch Artikel 8 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474) geändert worden ist. 20 Statt aller: Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Loseblattsammlung , 21. Ergänzungslieferung (Stand: Juli 2002), § 32 Rdnr. 14 m.w.N. 21 Art. 19 Abs. 3 Buchstabe b EUV, Art. 267 AEUV. 22 BVerfGE 134, 366, 369 ff. – OMT-Beschluss. 23 EuGH, Urteil vom 06.10.1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, Slg. 1982, S. 3415. Zum Ganzen auch: Wegener, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, 4. Auflage 2011, Art. 267 AEUV Rdnr. 32. 24 Entscheidung des BVerfG vom 15.12.2015, Erwägungsgrund 125 – Identitätskontrolle (Fn. 10).