© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 078/15 Zuständigkeitsfragen zum Notfallschutz bei Atomunfällen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 2 Zuständigkeitsfragen zum Notfallschutz bei Atomunfällen Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 078/15 Abschluss der Arbeit: 10.06.2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: + Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Notfallschutzmaßnahmen bei Atomunfällen 4 2.1. Begriff des Atomunfalls 4 2.2. Regelungsgeflecht 5 2.3. Anlageninterne und anlagenexterne Notfallschutzmaßnahmen 5 3. Anlageninterner Notfallschutz 6 3.1. Betreiberpflichten 6 3.2. Staatliche Pflichten, Befugnisse und Zuständigkeiten 6 4. Anlagenexterner Notfallschutz 7 4.1. Betreiberpflichten 7 4.2. Staatliche Pflichten, Befugnisse und Zuständigkeiten 8 4.2.1. Atom- und Strahlenschutzrecht 8 4.2.2. (Atom-) Katastrophenschutzrecht 8 4.2.2.1. Länderebene 9 4.2.2.2. Länderkooperation und Bund-Länder-Kooperation 10 4.2.2.3. Grenzüberschreitende Kooperation 11 5. Notfallschutz in den Nachbarstaaten 12 5.1. EZPWD-Anfrage 12 5.2. Rechtslage in Belgien 12 5.3. Rechtslage in Frankreich 13 5.4. Rechtslage in den Niederlanden 15 5.5. Rechtslage in der Schweiz 15 5.6. Rechtslage in der Tschechischen Republik 15 5.7. Auswertung 16 6. Ausblick 17 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 4 1. Einleitung Die vom japanischen Parlament zur Aufarbeitung des Atomunfalls in Fukushima eingesetzte Untersuchungskommission beanstandete u.a. das mangelhafte Krisenmanagement zwischen den Betreibern des Atomkraftwerks, Regierung und den verantwortlichen Behörden und führte die Defizite auf eine unklare Zuständigkeitsverteilung zurück.1 Die Untersuchungskommission sprach sich für eine Zuständigkeitsverteilung aus, nach der der Betreiber für die anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen verantwortlich ist und die staatlichen und lokalen Behörden den anlagenexternen Notfallschutz vornehmen.2 Vor diesem Hintergrund wird die Frage gestellt, ob in Deutschland die Zuständigkeiten für die Vornahme von Notfallschutzmaßnahmen bei vergleichbar schweren Atomunfällen klar geregelt sind. Insoweit soll insbesondere geklärt werden, welche Zuständigkeiten auf Bundesebene, ggf. auch im Hinblick auf eine Bund-Länder- oder eine grenzüberschreitende Kooperation bestehen. Ferner soll die Frage beantwortet werden, welche Zuständigkeitsorganisation die Nachbarstaaten Deutschlands, in denen Atomkraftwerke betrieben werden, verfolgen. Zur Ermittlung der erforderlichen Informationen wurde eine Abfrage der Parlamente Belgiens, Frankreichs, der Niederlande, Tschechiens und der Schweiz über das Europäische Zentrum für Parlamentarische Wissenschaft und Dokumentation (EZPWD) vorgenommen. 2. Notfallschutzmaßnahmen bei Atomunfällen 2.1. Begriff des Atomunfalls Atomunfälle beschreiben technische Beeinträchtigungen von Atomkraftwerken mit einer gewissen Schwere. Im Gegensatz zu Störfällen, die „nur“ eine Beeinträchtigung des Betriebsablaufs darstellen ,3 wird der Begriff des Unfalls verwendet für einen „Ereignisverlauf, der für eine oder mehrere Personen eine effektive Dosis von mehr als 50 Millisievert zur Folge haben kann“, § 3 Abs. 2 Nr. 35 Strahlenschutzverordnung (StrlSchV). Ein dem Fukushima-Unfall vergleichbares Szenario wäre nicht nur ein Störfall, sondern ein Atomunfall im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 35 StrlSchV. Nach der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse würde ein solches Szenario mindestens die INES-Stufe 5 erreichen und als „ernster Unfall“ einzustufen sein, der bei einer begrenzten Freisetzung von Radioaktivität den Einsatz einzelner Katastrophenschutzmaßnahmen erfordert.4 1 Vgl. The National Diet of Japan, The Official Report of the Fukushima Nuclear Accident Independent Investigation Commission, 2012 (The Official Report), abrufbar unter: https://www.nirs.org/fukushima/naiic_report.pdf, 18. 2 The Official Report (Fn. 1), 22. 3 Vgl. § 3 Abs. 2 Nr. 28 Strahlenschutzverordnung: „Störfall: Ereignisablauf, bei dessen Eintreten der Betrieb der Anlage oder die Tätigkeit aus sicherheitstechnischen Gründen nicht fortgeführt werden kann (…).“ 4 Zu den INES-Stufen vgl. die vom Bundesamt für Strahlenschutz bereitgestellte Übersicht, abrufbar unter: http://www.bfs.de/de/kerntechnik/ereignisse/ines.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 5 2.2. Regelungsgeflecht Die anlageninternen und anlagenexternen Notfallschutzmaßnahmen sind nicht in einem einzigen Gesetz geregelt, sondern unterliegen einem komplexen und unübersichtlichen Regelungsgeflecht. Grund für die „Rechtszersplitterung“ sind zum einen unterschiedliche Gesetzgebungskompetenzen im Hinblick auf die betroffenen Rechtsbereiche. So fällt das Kernenergie- und Strahlenschutzrecht nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG in die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes. Gefahrenabwehr und Katastrophenschutz hingegen unterliegen der Gesetzgebungszuständigkeit der Länder.5 Ferner sind die jeweiligen Verwaltungskompetenzen, also die Zuständigkeiten für die Durchführung der einschlägigen Gesetze, zu beachten. Soweit die Verwaltungszuständigkeit bei den Ländern liegt, hängt die konkrete Zuständigkeitszuweisung von den jeweiligen Landesgesetzen ab. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Zuständigkeit für die Durchführung der atom- und strahlenschutzrechtlichen Vorschriften einerseits sowie der Durchführung der Vorschriften zum Katastrophenschutz andererseits. Besonders kompliziert wird die Materie durch zahlreiche Bekanntmachungen des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) sowie Handlungsempfehlungen und Leitlinien von Sachverständigenkommissionen, die nur unter bestimmten Voraussetzungen, z.B. durch Einbeziehung in die Betriebsgenehmigung, rechtlich verbindlich sind.6 Schließlich sind die Vorgaben des internationalen und europäischen Atom- und Katastrophenschutzrechts zu berücksichtigen – hier allerdings nur im Hinblick auf die fragliche Zuständigkeitsverteilung. 2.3. Anlageninterne und anlagenexterne Notfallschutzmaßnahmen Unter den Begriff der Notfallschutzmaßnahmen kann man Maßnahmen der Notfallvorsorge fassen, also vorbereitende Maßnahmen wie z.B. das Erstellen von Notfallplänen, sowie Maßnahmen der konkreten Notfallbekämpfung. Für die hier zu behandelnde Frage geht es allein um die Maßnahmen zur Abwehr bereits eingetretener oder unmittelbar bevorstehender Gefahren bei einem Atomunfall, so dass im Folgenden unter Notfallschutzmaßnahmen Maßnahmen der Notfallbekämpfung verstanden werden. Die Notfallschutzmaßnahmen im Sinne der Notfallbekämpfung können ferner danach unterschieden werden, ob sie die Gefahrenabwehr innerhalb bzw. in der unmittelbaren Umgebung des Atomkraftwerks betreffen – anlageninterne Notfallschutzmaßnahmen – oder ob sie außerhalb des Atomkraftwerks vorzunehmen sind – anlagenexterne Notfallschutzmaßnahmen. Konkret beziehen sich anlageninterne Notfallschutzmaßnahmen auf alle technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Wiederherstellung des ordnungsgemäßen Betriebs des Atomkraftwerks sowie zum Schutz vor Strahlenexpositionen bzw. ihrer Eingrenzung; anlagenexterne Notfallschutzmaßnahmen sind 5 Die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG (Schutz der Zivilbevölkerung ) umfasst nicht den Katastrophenschutz, sondern bezieht sich allein auf den Schutz gegen kriegsbedingte Gefahren, vgl. Degenhart, in: Sachs, GG (7. Aufl. 2014), Rn. 8 zu Art. 73. 6 Das Bundesamt für Strahlenschutz listet insoweit 106 Bekanntmachungen auf, abrufbar unter: http://www.bfs.de/de/bfs/recht/rsh/bmu. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 6 darauf gerichtet, die Gefahrenabwehr außerhalb des Atomkraftwerks zu bewältigen und insbesondere Bevölkerung, Umwelt und Eigentum zu schützen.7 3. Anlageninterner Notfallschutz Die anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen richten sich nach atom- und strahlenschutzrechtlichen Vorschriften des Atomgesetzes (AtG) und der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV), die z.T. Umsetzungen von Richtlinienrecht der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) sind.8 3.1. Betreiberpflichten Der Inhaber der Genehmigung für die kerntechnische Anlage (Betreiber) hat nach § 7c AtG die Verantwortung für die nukleare Sicherheit.9 Er ist zugleich Strahlenschutzverantwortlicher nach § 31 Abs. 1 StrlSchV und hat nach § 33 Abs. 3 i.V.m. § 51 Abs. 1 S. 1 StrlSchV dafür zu sorgen, dass bei Gefahr für Mensch und Umwelt unverzüglich geeignete Maßnahmen zur Abwendung dieser Gefahr getroffen werden. Entsprechende Vorsorgemaßnahmen (z.B. Notfallschutzpläne) muss der Betreiber schon für die Erteilung der Betriebsgenehmigung vorweisen (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG). Darüber hinaus ist der Betreiber nach § 51 Abs. 1 S. 2 StrlSchV i.V.m. § 6 Abs. 1 der atomrechtlichen Sicherheitsbeauftragten- und Meldeverordnung (AtSMV) verpflichtet, den Atomunfall der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde zu melden (Meldepflicht). 3.2. Staatliche Pflichten, Befugnisse und Zuständigkeiten Die Erfüllung der Betreiberpflichten unterliegt nach § 19 Abs. 1 AtG der staatlichen Aufsicht.10 Zur Wahrnehmung der staatlichen Aufsicht sind von den atomrechtlichen Aufsichtsbehörden Beauftragte und hinzugezogene Sachverständige nach § 19 Abs. 2 AtG befugt, jederzeit Atomkraftanlagen zu betreten und dort alle erforderlichen Prüfungen vorzunehmen. Nach § 19 Abs. 3 AtG und nach § 113 Abs. 1 StrlSchV können die atomrechtlichen Aufsichtsbehörden bei Gefahren für Leben, Gesundheit und Sachgüter konkrete Schutzmaßnahmen anordnen. Falls der Betreiber 7 Vgl. Notfallschutz bei Schadenslagen mit radiologischen Auswirkungen, Klausurtagung der Strahlenschutzkommission 10./11. November 2005, hrsg. vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2007), 33 f. 8 Vgl. insoweit insbesondere die Richtlinie 96/29/Euratom (Grundnormrichtlinie) sowie die Richtlinie 2009/71/Euratom (Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit kerntechnischer Anlagen). Die neue Grundnormrichtlinie 2013/59/Euratom – umzusetzen bis zum 6.2.2018 – wird die Richtlinie 96/29/Euratom mit Ablauf der Umsetzungsfrist ersetzen. Auch die Richtlinie über einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit kerntechnischer Anlagen wurde jüngst geändert und zwar durch die Richtlinie 2014/87/Euratom – umzusetzen bis zum 15.8.2017. 9 Die Verantwortlichkeit des Genehmigungsinhabers ist auch in Art. 6 Richtlinie 2009/71/Euratom vorgesehen. 10 Zur Atomaufsicht siehe auch Posser, Atom- und Strahlenschutzrecht, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht – Bd. 2 (3. Aufl. 2013), § 52 Rn. 64. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 7 diesen Anordnungen nicht nachkommt, können die Anordnungen aufgrund allgemeiner verwaltungsrechtlicher Vorschriften (Verwaltungsvollstreckungsgesetze) zwangsweise durchgesetzt werden. Die Durchführung der anwendbaren bundesrechtlichen Atomvorschriften (Verwaltungszuständigkeit ) obliegt den Ländern (§ 24 Abs. 1 AtG, Art. 85, 87c GG). Die atomrechtlichen Aufsichtsbehörden , die die Vornahme der anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen überwachen, sind also Landesbehörden. Welche Landesbehörden konkret zuständig sind, folgt aus den jeweiligen Zuständigkeitsregelungen der Länder.11 Die atomrechtlichen Aufsichtsbehörden der Länder führen die bundesrechtlichen Atomvorschriften im Auftrag des Bundes aus und unterliegen daher der Weisungsbefugnis des Bundes (Art. 85 Abs. 3 GG), konkret des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Das Bundesumweltministerium könnte demnach einer atomrechtlichen Aufsichtsbehörde eines Landes die Weisung erteilen, bestimmte anlageninterne Notfallschutzmaßnahmen gegenüber dem Betreiber anzuordnen. Nach § 20 AtG können die zuständigen Behörden für die Atomaufsicht sowie für die Durchführung der aufgrund des AtG erlassenen Rechtsverordnung Sachverständige hinzuziehen. Für den Bund sind insoweit verschiedene Sachverständige bzw. Sachverständigenkommissionen zuständig und zwar die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS)12, die Strahlenschutzkommission (SSK)13 sowie die Reaktorsicherheitskommission (RSK)14. 4. Anlagenexterner Notfallschutz 4.1. Betreiberpflichten Der Betreiber ist nicht nur – wie oben ausgeführt – dazu verpflichtet, einen Atomunfall der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde zu melden, sondern auch der Unterrichtung der für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörden sowie der Katastrophenschutzbehörden nachzukommen, § 51 Abs. 1 S. 2 StrlSchV i.V.m. § 6 Abs. 3 AtSMV (Meldepflicht). Darüber hinaus hat er nach § 53 Abs. 2 StrlSchV den für den Katastrophenschutz zuständigen Behörden und anderen Beteiligten (z.B. 11 Die Landesgesetze enthalten zu den jeweiligen Zuständigkeiten nach dem AtG und der StrlSchV differenzierte Regelungen. Darüber hinaus muss nicht notwendig nur eine Landesbehörde für die Durchführung des AtG und der StrlSchV zuständig sein. Die brandenburgische Verordnung zur Regelung der Zuständigkeiten auf dem Gebiet des Strahlenschutzes (StrlZV) sieht beispielsweise für die jeweiligen Befugnisse nach dem AtG und der StrlSchV unterschiedliche Zuständigkeiten u.a. des Ministeriums für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz, des Landesamtes für Soziales und Gesundheit oder des Landesamtes für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz vor, vgl. § 1 Abs. 2 StrlZV Bbg. 12 Vgl. dazu den Internetauftritt der GRS, abrufbar unter: http://www.grs.de/content/profil. 13 Vgl. dazu den Internetauftritt der Strahlenschutzkommission, abrufbar unter: http://www.ssk.de/DE/UeberSSK/ueber_ssk_node.html. 14 Siehe dazu die Erläuterungen des Bundesamtes für Strahlenschutz, abrufbar unter: http://www.bfs.de/de/kerntechnik /sicherheit/gremienarbeit/rsk_esk.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 8 privaten Hilfsorganisationen) die für den Katstrophenschutz notwendigen Informationen zu geben und sie zu beraten. 4.2. Staatliche Pflichten, Befugnisse und Zuständigkeiten Die von den staatlichen Behörden vorzunehmenden anlagenexternen Notfallschutzmaßnahmen richten sich zum einen nach dem Atom- und Strahlenschutzrecht, wobei auch das Strahlenschutzrecht nach dem Strahlenschutzvorsorgegesetz (StrVG) zu beachten ist. Zum anderen können nationale und grenzüberschreitende Katastrophenschutzregelungen anwendbar sein. 4.2.1. Atom- und Strahlenschutzrecht Einzelne Pflichten zur Vornahme von externen Notfallschutzmaßnahmen sind in atomrechtlichen Bundesgesetzen geregelt. So haben die zuständigen Behörden nach § 51 Abs. 2 StrlSchV unverzüglich die möglicherweise betroffene Bevölkerung u.a. über Art und Ausmaß des Atomunfalls zu unterrichten sowie ihr Hinweise über Verhaltens- und Gesundheitsschutzmaßnahmen zu geben.15 Die Zuständigkeit der jeweiligen Landesbehörden richtet sich nach Landesrecht.16 Rechtsgrundlagen , die eine zwischen den zuständigen Landesbehörden und dem Betreiber abgestimmte Kommunikation nach außen regeln würden, gibt es – soweit ersichtlich – nicht. Darüber hinaus sieht das Strahlenschutzvorsorgesetz (StrVG) u.a. Pflichten und Befugnisse zur Überwachung der Strahlenbelastung (§§ 2, 3 StrVG), zur Einrichtung eines integrierten Mess- und Informationssystems (§ 4 StrVG) und zum Verbot des Inverkehrbringens radioaktiv belasteter Lebensmittel (§ 7 Abs. 1 StrVG) vor. Dabei ist die Überwachung der Radioaktivität im Bundesgebiet Aufgabe des Bundes (§ 2 StrVG),17 die Überwachung der Radioaktivität z.B. in Lebens- und Futtermitteln sowie im Trinkwasser obliegt den Ländern (§ 3 StrVG), die insoweit im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung handeln (§ 10 Abs. 1 S. 1 StrVG, Art. 85, 87c GG). Nach § 4 StrVG betreibt das Bundesamt für Strahlenschutz, eine Bundesoberbehörde (vgl. § 1 des Gesetzes über die Errichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz), das integrierte Mess- und Informationssystem (IMIS) für die Überwachung der Umweltradioaktivität, in dem die Bundes- und Länderdaten zusammengeführt werden. 4.2.2. (Atom-) Katastrophenschutzrecht Das hier zugrunde zu legende Szenario eines Atomunfalls vom Ausmaß des Atomunfalls in Fukushima ist kein Fall der „normalen“ Gefahrenabwehr, sondern löst die Anwendbarkeit des Katastrophenschutzrechts aus. Da das Katastrophenschutzrecht in die Gesetzgebungszuständigkeit 15 Vgl. dazu auch den insoweit umgesetzten Art. 6 der Richtlinie 89/618/Euratom. 16 In Brandenburg beispielsweise sind für die Unterrichtung nach § 51 Abs. 2 StrlSchV das Ministerium für Umwelt , Gesundheit und Verbraucherschutz, das Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie sowie das Ministerium des Innern zuständig, vgl. § 1 Abs. 2 StrlZV Bbg. 17 Zu den im Einzelnen zuständigen Bundesbehörden vgl. § 11 StrVG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 9 der Länder fällt,18 kann man weder auf ein einheitliches Katastrophenschutzrecht noch auf eine einheitliche Begrifflichkeit zurückgreifen.19 Allerdings können die Grundzüge der landesrechtlichen Zuständigkeiten im Bereich des Katastrophenschutzes sowie die Aufgaben des Bundes im Hinblick auf die Bund-Länder- sowie die grenzüberschreitende Kooperation dargestellt werden. 4.2.2.1. Länderebene Der Rechtsbegriff der Katastrophe zeichnet sich – unabhängig von landesgesetzlichen Unterschieden im Detail – dadurch aus, dass außergewöhnliche Gefährdungssituationen vorliegen, „deren Bewältigung sich nicht mehr in den gewöhnlichen Zuständigkeitsbanen vollziehen kann, sondern eine Bündelung der Kräfte unter einheitlicher Leitung erfordert, um die Katastrophenfolgen wirksam bekämpfen und wieder geordnete Zustände herstellen zu können“.20 Die konkreten Maßnahmen zur Katastrophenbekämpfung richten sich nach den Katastrophenschutzgesetzen der Länder und den auf dieser Grundlage ausgearbeiteten Katastrophenschutzplänen.21 Um eine einheitliche Vorgehensweise beim Katastrophenschutz bei Atomunfällen zu ermöglichen, hat das Bundesumweltministerium einen Katalog von Maßnahmen z.B. zu Alarmstufen, zur Evakuierung und zur ärztlichen Versorgung aufgestellt,22 der allerdings nur empfehlenden Charakter hat, so dass die Katastrophenschutzmaßnahmen in den jeweiligen Bundesländern unterschiedlich ausfallen können. Für die Durchführung der landesrechtlichen Katastrophenschutzgesetze sind die Länder zuständig. Dabei regeln die Katastrophenschutzgesetze die jeweilige Zuständigkeit der Katastrophenschutzbehörden auf Landes-, regionaler und lokaler Ebene (Verwaltungszuständigkeit). Die Katastrophenbekämpfung vor Ort unterliegt in der Regel einer regionalen Katastrophenschutzbehörde (untere Katastrophenschutzbehörde), die den Einsatz leitet, ggf. die Hilfe anderer Behörden anfordert und den Einsatz durch Weisungsbefugnisse gegenüber allen Beteiligten (z.B. auch privaten Hilfsorganisationen ) koordiniert.23 Übergeordnete Katastrophenschutzbehörden der Länder (z.B. obere oder oberste Katastrophenschutzbehörden) können den untergeordneten Katastrophenschutzbehörden 18 Zur Bundeszuständigkeit beim Zivilschutz siehe oben Fn. 5. 19 Insbesondere fehlt es auch an einem entsprechenden Musterentwurf, zur Heterogenität der Katastrophenschutzgesetze vgl. Köck, Katastrophenschutzrecht, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht – Bd. 3 (3. Aufl. 2013), § 71 Rn. 8. 20 Vgl. Köck (Fn. 19), § 71 Rn. 1. Zu den Legaldefinitionen in den Katastrophenschutzgesetzen der Länder ebda., § 71 Rn. 14, Fn. 46. 21 Vgl. dazu Köck (Fn. 19), § 71 Rn. 22. Zur atomrechtlichen Vorgabe, sog. gesamtstaatliche oder örtliche Interventionspläne auszuarbeiten vgl. Art. 50 Abs. 2 Richtlinie 96/29/Euratom. 22 Siehe dazu die Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen, GMBl. 2008, Nr. 62/63, 1278. 23 Vgl. Köck (Fn. 19), § 71 Rn. 18 f., 27 ff. Beispielhaft sei auf das Landeskatastrophenschutzgesetz Mecklenburg- Vorpommern (LKatSG MV) verwiesen, das die Zuständigkeit der unteren Katastrophenschutzbehörde (Landräte und Oberbürgermeister, § 3 Abs. 1 Nr. 3 LKatSG) für die „Lenkung der Abwehrmaßnahmen“ vorsieht, vgl. § 16 Abs. 1 LKatSG MV: „Der unteren Katastrophenschutzbehörde obliegt die einheitliche Lenkung der Abwehrmaßnahmen , einschließlich des Einsatzes der im Katastrophenschutz mitwirkenden Einheiten und Einrichtungen.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 10 ggf. Weisungen erteilen oder die Katastrophenbekämpfung an sich ziehen.24 Eine Abstimmung mit den fachlich betroffenen Ministerien – hier mit den atomrechtlichen Aufsichtsbehörden – kann dabei durch die übergeordneten (obersten) Katastrophenschutzbehörden erfolgen.25 4.2.2.2. Länderkooperation und Bund-Länder-Kooperation Die Behörden des Bundes und der Länder leisten sich nach Art. 35 Abs. 1 GG gegenseitig Amtshilfe . Bei einem Atomunfall liegt zudem ein besonders schwerer Unglücksfall vor,26 der die Länder nach Art. 35 Abs. 2 S. 2 GG dazu berechtigt, Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie der Bundespolizei und der Streitkräfte anzufordern. Von besonderer Bedeutung für die Bund-Länder-Kooperation sind die Kooperationsmöglichkeiten nach dem Gesetz über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe des Bundes (ZSKG). Nach § 12 ZSKG stehen den Ländern die Vorhaltungen und Einrichtungen des Bundes für den Zivilschutz auch für ihre Aufgaben im Bereich des Katastrophenschutzes zur Verfügung (z.B. Bundesanstalt Technisches Hilfswerk). Im Rahmen eines Amtshilfeersuchens nach Art. 35 Abs. 1 GG können auch die Einrichtungen und Vorhaltungen des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) angefordert werden, einschließlich ihrer Koordinierungsinstrumente, § 16 ZSKG. Insoweit können das gemeinsame Melde- und Lagezentrum (GMLZ) sowie das deutsche Notfallund Informationssystem (deNIS) genutzt werden.27 Die Nutzung der Bundesressourcen ändert an der Zuständigkeit der Landesbehörden allerdings nichts. Vielmehr sieht § 13 ZSKG ausdrücklich vor, dass die Leitung und Koordination der Hilfsmaßnahmen bei der für den Katastrophenschutz zuständigen Behörde verbleibt bzw. dass bei der Übertragung von Koordinationsaufgaben auf das BBK die Zuständigkeit für das operative Krisenmanagement bei den Ländern verbleibt, § 16 Abs. 3 ZSKG. Neben den Kooperationsformen auf Anforderung der Länder kann die Bundesregierung bei länderübergreifenden Gefahren ausnahmsweise, und zwar nur, wenn es zur wirksamen Katastrophenbekämpfung erforderlich ist, eingreifen (Bundesintervention, Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG). Im Fall der Bundesintervention kann die Bundesregierung Landesregierungen die Weisung erteilen, anderen Bundesländern Polizeikräfte zur Verfügung zu stellen (Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG). Darüber hinaus kann die Bundesregierung selbst Einheiten der Bundespolizei sowie der Bundeswehr in dem 24 Vgl. Köck (Fn. 19), § 71 Rn. 19 und - beispielhaft - § 16 Abs. 2 S. 1 LKatSG MV: „Wirkt die Katastrophe über den Zuständigkeitsbereich der unteren Katastrophenschutzbehörde hinaus, so kann die oberste Katastrophenschutzbehörde die einheitliche Lenkung der Abwehrmaßnahmen, einschließlich des Einsatzes der im Katastrophenschutz mitwirkenden Einheiten und Einrichtungen, ganz oder teilweise an sich ziehen oder eine der örtlich zuständigen unteren Katastrophenschutzbehörden zur zuständigen Katastrophenschutzbehörde erklären.“ 25 Vgl. dazu z.B. § 16 Abs. 3 LKatSG MV: Die oberste Katastrophenschutzbehörde stimmt ihre Maßnahmen insbesondere mit den Ministerien ab, deren Geschäftsbereiche durch die Katastrophe betroffen sind.“ 26 Siehe Epping, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck`scher Online Kommentar GG, Rn. 20 zu Art. 35. 27 Zum GMLZ siehe die Erläuterungen des BBK, abrufbar unter: http://www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung /Krisenmanagement/GMLZ/GMLZ_node.html; zum deNIS informiert das BBK unter: http://www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung/Krisenmanagement/deNIS/denis_node.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 11 betroffenen Bundesland/in den betroffenen Bundesländern zur Unterstützung einsetzen (Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG). Ob die eingesetzten Einheiten der Bundespolizei und der Bundeswehr dabei dem Weisungsrecht der Bundesregierung oder dem Weisungsrecht der zuständigen Landesbehörden unterstehen, ist umstritten.28 Maßnahmen der Bundesregierung nach Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG sind aber jederzeit auf Verlangen des Bundesrates, im Übrigen unverzüglich nach Beseitigung der Gefahr aufzuheben, Art. 35 Abs. 3 S. 2 GG. 4.2.2.3. Grenzüberschreitende Kooperation Grenzüberschreitende Kooperation gibt es auf europäischer und internationaler Ebene.29 Im Bereich des Atomrechts verpflichten Regelungen der Europäischen Atomgemeinschaft sowie völkerrechtliche Vereinbarungen u.a. zur Benachrichtigung bei Atomunfällen.30 Auf dem Gebiet der Katastrophenhilfe sehen ferner sowohl europäische Regelungen als auch völkerrechtliche Verträge Hilfeleistungspflichten oder Hilfeleistungsmöglichkeiten in Katastrophenfällen vor.31 Diese Formen der grenzüberschreitenden Kooperation verändern die innerstaatliche Zuständigkeitsverteilung für anlagenexterne Notfallschutzmaßnahmen allerdings nicht. Weder tritt an die Stelle der nationalen Zuständigkeit eine europäische bzw. unionsrechtliche Zuständigkeit für den Katastrophenschutz32 noch führt die Anforderung grenzüberschreitender Hilfeleistung durch den Bund zu einer innerstaatlichen Kompetenzverlagerung zugunsten des Bundes. Soweit der Bund im Verhältnis zu Drittstaaten oder zu supra- und internationalen Organisationen tätig wird, 28 Vgl. dazu Epping (Fn. 26), Rn. 30 f. zu Art. 35 m.w.N. zum Streitstand. 29 Siehe dazu die umfangreiche Auflistung der einschlägigen europa- und völkerrechtlichen Rechtsgrundlagen durch das Bundesamt für Strahlenschutz, abrufbar unter: http://www.bfs.de/de/bfs/recht/rsh/rechtsvorschriften _D.html. 30 Vgl. dazu auf europäischer Ebene Art. 51 Abs. 5 der Richtlinie 96/29/Euratom (Grundnormrichtlinie) bzw. Art. 99 Abs. 2 Richtlinie 2013/29/Euratom (neue Grundnormrichtlinie) sowie die Entscheidung des Rates 87/600/Euratom zum beschleunigten Informationsaustausch bei einer radiologischen Notstandssituation (Informationssystem ECURIE). Auf (multilateraler) völkerrechtlicher Ebene ist eine allgemeine Benachrichtigungspflicht im sog. Benachrichtigungsabkommen enthalten, vgl. Übereinkommen über die frühzeitige Benachrichtigung bei nuklearen Unfällen, BGBl. 1989 II, 434, 435. Darüber hinaus gibt es bilaterale Benachrichtigungsabkommen, vgl. dazu z.B. das Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs Schweden über die frühzeitige Benachrichtigung bei nuklearen Unfällen sowie über den Informations- und Erfahrungsaustausch bezüglich kerntechnischer Sicherheit und Strahlenschutz, BGBl. II 1991, 421. 31 Vgl. dazu auf europäischer Ebene das Katastrophenschutzverfahren der Europäischen Union, Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates 1313/2013/EU; auf völkerrechtlicher (multilateraler) Ebene verpflichtet das Übereinkommen über Hilfeleistung bei nuklearen Unfällen oder radiologischen Notfällen, BGBl. 1989 II, 434, 441 zur Zusammenarbeit, allerdings ohne konkrete Hilfeleistungspflichten zu begründen. Hilfeleistungspflichten können aber in bilateralen völkerrechtlichen Verträgen geregelt sein, so z.B. in Art. 1 Abs. 1 des Katastrophenschutzabkommens mit Frankreich, BGBl. II 1980, 34. 32 Vgl. Köck (Fn. 19) § 71 Rn. 40 m.w.N.; vgl. ferner Art. 1 Abs. 3 des Beschlusses 1313/2013/EU zum Katastrophenschutzverfahren der Europäischen Union, der ausdrücklich darauf verweist, dass des Katastrophenschutzverfahren die primäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für den Katastrophenschutz nicht berührt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 12 werden wesentliche Aufgaben vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz wahrgenommen, das insoweit als nationale Kontaktstelle fungiert.33 5. Notfallschutz in den Nachbarstaaten 5.1. EZPWD-Anfrage Die Parlamente Belgiens, Frankreichs, der Niederlande, Tschechiens und der Schweiz wurden über das Europäische Zentrum für Parlamentarische Wissenschaft und Dokumentation (EZPWD) um die Beantwortung der folgenden Fragen gebeten: 1. Ist der Betreiber eines Atomkraftwerks für den Fall, dass in einem Atomkraftwerk ein Atomunfall eintritt, der mindestens die Schwere eines „ernsten Unfalls“ im Sinne der internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse aufweist (INES 5), gesetzlich verpflichtet a) anlageninterne Notfallschutzmaßnahmen vorzunehmen? b) anlagenexterne Notfallschutzmaßnahmen vorzunehmen? 2. Welche gesetzlichen Pflichten und Befugnisse hat der Staat bei einem Atomunfall, der mindestens die Schwere eines „ernsten Unfalls“ aufweist a) im Hinblick auf anlageninterne Notfallschutzmaßnahmen (ggf. auch an Stelle des Betreibers, wenn dieser seine Pflichten nicht erfüllt)? b) im Hinblick auf anlagenexterne Notfallschutzmaßnahmen? 3. Welche staatliche/n Behörde/n auf welcher staatlichen Ebene (staatliche, regionale oder lokale Ebene) sind bei einem „ernsten Unfall“ zuständig a) für die Durchführung von anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen? b) für die Durchführung von anlagenexternen Notfallschutzmaßnahmen? Die Originalantworten der angefragten Parlamente sind als Anlagen 1-5 beigefügt. Die Antworten in französischer und englischer Sprache wurden im Wege einer Arbeitsübersetzung zusammengefasst. Insgesamt beschränkt sich die folgende Darstellung der Antworten auf die ergiebigen Angaben. 5.2. Rechtslage in Belgien Belgien hat für nukleare Notfallsituationen mit Königlicher Verordnung vom 17. Oktober 2003 einen „Nuklearen und Radiologischen Notfallplan für das belgische Hoheitsgebiet“ erlassen. Ziel dieses Notfallplans ist es, die Koordination von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und der Umwelt im Falle einer radiologischen/nuklearen Notfallsituation, die direkt oder indirekt das belgische Hoheitsgebiet bedroht, zu garantieren. Der Notfallplan legt die Aufgaben und Zuständigkeiten der Beteiligten fest und regelt ihre Zusammenarbeit. Die Zuständigkeit für die Lagebeurteilung sowie für die Entscheidung über die Vornahme von Schutzmaßnahmen zugunsten der Bevölkerung und der Umwelt, einschließlich der Information der Bevölkerung, liegt auf 33 Vgl. die entsprechende Pressemeldung der BBK, abrufbar unter: http://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads /BBK/DE/Presse/Pressemeldung_2010/GMLZ_als-Nationale-Kontaktstelle_pdf.pdf?__blob=publicationFile. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 13 nationaler (Bundes-)Ebene. Für die Koordinierung der durchzuführenden und von der Bundesregierung festgelegten Schutzmaßnahmen ist der Provinzgouverneur, zusammen mit den beteiligten Gemeinden zuständig. Die Verantwortlichkeit für die Durchführung der anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen liegt beim Betreiber. Zu 1. a) und b): Der Betreiber ist nach § 3 des nuklearen und radiologischen Notfallplans gesetzlich verpflichtet, anlageninterne Notfallschutzmaßnahmen durchzuführen. Diese rechtlich verbindliche Verpflichtung ist weder direkt noch indirekt mit einem INES-Level verbunden, sondern besteht bei jedem denkbaren Vorfall (sowohl bei alltäglichen Arbeitsabläufen, als auch bei Störungen, Ernstfällen oder auslegungsüberschreitenden Störfällen usw.). Die Durchführung der anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen unterliegt aber nach § 3 des nuklearen und radiologischen Notfallplans der staatlichen Aufsicht durch den Innenminister und erlaubt Maßnahmen zur Kontrolle des anlageninternen Notfallschutzes. Für anlagenexterne Notfallschutzmaßnahmen ist der Betreiber nicht zuständig. Zu 2. a) und b): Die anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen liegen im Verantwortungsbereich des Betreibers. Wenn die Schutzmaßnahmen des Betreibers nicht ausreichen, kann der Staat jedoch die Vornahme anderer Maßnahmen auferlegen (s.o. zu 1.). Im Hinblick auf anlagenexterne Notfallschutzmaßnahem ist der Staat verantwortlich für den Schutz der Bevölkerung, der Einsatzkräfte und der Umwelt, und zwar durch die Vornahme von Gegen- und Abhilfemaßnahmen. Zu 3. a) und b): Für die staatliche Aufsicht der anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen des Betreibers bzw. für die Anordnung bestimmter Maßnahmen gegenüber dem Betreiber ist der Bund zuständig, und zwar konkret der Innenminister. Die Entscheidungskompetenz zur Vornahme von anlagenexternen Notfallschutzmaßnahmen liegt beim Bund bzw. bei der Bundesregierung, die Umsetzung der Maßnahmen obliegt den regionalen und lokalen Behörden. Die Originalantwort des belgischen Parlaments ist als Anlage 1 beigefügt. 5.3. Rechtslage in Frankreich Zu 1. a) und b): Im Falle eines schweren Atomunfalls hängt die nationale Sicherheit von einer engen Zusammenarbeit des Staates und des Anlagenbetreibers ab. In diesem Zusammenhang wurden zwei Notfallpläne entwickelt: - Der interne Notfallplan („le plan d’urgence interne – PUI“): Dieser wird vom Betreiber mit dem Ziel entwickelt, die Anlage so zu gestalten, dass die Sicherheit des Staates gewährleistet ist und die Konsequenzen im Falle eines Unfalls minimiert werden. Die Organisation und die geeigneten Möglichkeiten für den betreffenden Standort werden konkretisiert. Zudem finden sich Bestimmungen, wie die staatlichen Einrichtungen schnellstmöglich zu informieren sind.34 34 Eine gesetzliche Regelung, wonach der Betreiber für die Vornahme von anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen verantwortlich wäre, wird allerdings nicht genannt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 14 - Der spezielle Interventionsplan („le plan particulier d’intervention – PPI“): Dieser wird von der zuständigen Behörde gemeinsam mit dem Anlagenbetreiber entwickelt und umfasst den Schutz der Bevölkerung im Falle eines Atomunfalls. Darin werden die Aufgaben der unterschiedlichen Einrichtungen konkretisiert und die schnellstmögliche Verbreitung des Alarmsignals und von sachlicher und personeller Hilfe geregelt. Nach Art. 591-5 des französischen Umweltgesetzbuches hat sich der Anlagenbetreiber (oder die verantwortliche Transportperson) im Falle eines Unfalls, der Konsequenzen für die Sicherheit der Anlage (oder des Nukleartransports) haben könnte und bei dem zu erwarten ist, dass signifikante ionisierende Strahlungen auf Personen, Sachgüter oder die Umwelt wirken, unverzüglich gegenüber der Behörde für nukleare Sicherheit und der zuständigen Verwaltungsbehörde zu erklären. Zu 2. a) und b): Die Zuständigkeit für den Notfallschutz bei Atomunfällen liegt maßgeblich bei einer unabhängigen Verwaltungsstelle, der Behörde für Nuklearsicherheit („l’Autorité de sûreté nucléaire – ASN“). Sie hat zur Aufgabe, für die Nuklearsicherheit und den Schutz vor radioaktiver Strahlung zu sorgen und übernimmt zudem die Bürgerinformation. In einer Notsituation kommen der ASN, vier Aufgaben zu, die diese für den Staat ausführt. Diese Aufgaben sind in Art. 592-32 des französischen Umweltgesetzbuches („le code de l’environnement“) festgelegt: - Kontrolle der Vorkehrungen, die vom Anlagenbetreiber getroffen werden; - Unterbreitung von Ratschlägen, Hinweisen und Informationen an die Regierungen auf nationaler und lokaler Ebene und insbesondere an die Präfekte der Départements, die für die zivile Sicherheit zuständig sind – dabei sind die Techniken und Vorgaben der Art. 741-1 bis Art. 741-6 des inneren Sicherheitsrechts („du code de la sécurité intérieure“) zu beachten; - Sicherstellung, dass die zuständigen Stellen die internationalen Konventionen und deren Vorgaben zu schnellstmöglicher Information und Unterstützung beachten; - Information der Bevölkerung über die mögliche Freisetzung von Schadstoffen und die damit verbundenen Risiken für die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung. Zu 3. a) und b): Die zuständigen staatlichen Stellen im Falle eines Atomunfalles sind: - Der Innenminister bzw. die Behörde, die für die Gewährleistung der zivilen Sicherheit zuständig ist, gibt Anweisungen an das Zentrum für Krisenmanagement. Das Zentrum für Krisenmanagement stellt Personen und Sachmittel zur Verfügung, um Menschen und Eigentum zu retten. Es ist auf nationaler Ebene die zentrale Anlaufstelle für solche Maßnahmen, die zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit zu ergreifen sind. Zudem werden in dem Zentrum, gemeinsam mit dem jeweiligen Anlagenbetreiber die sogenannten besonderen Sicherheitspläne für den Fall eines Nuklearunfalls („les plans particuliers d’intervention – PPI“) erarbeitet und aktualisiert. - Der zuständige Industrieminister koordiniert die Kommunikation nach den Vorgaben des nationalen Plans im Falle eines Atomunfalls. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 15 - Der zuständige Gesundheitsminister koordiniert in Zusammenarbeit mit den betroffenen Akteuren den Informationsfluss über die gesundheitlichen Folgen und die Schutzmaßnahmen sowie die medizinische und psychologische Hilfe. Die Organisation der Hilfe entspricht dabei jener im Falle einer Epidemie. - Das Generalsekretariat für Verteidigung und innere Sicherheit, welches das Sekretariat des Ministerausschusses bei einer nuklearen Krise unterstützt, soll die interministeriellen Planungsmaßnahmen harmonisieren und deren Umsetzung organisieren sowie evaluieren. Die Originalantwort des französischen Parlaments ist als Anlage 2 beigefügt. 5.4. Rechtslage in den Niederlanden Zu 1. a) und b): Der Betreiber eines Atomkraftwerkes ist verantwortlich für die Vornahme anlageninterner Notfallschutzmaßnahmen. Für die Vornahme anlagenexterner Notfallschutzmaßnahmen ist der Betreiber nicht verantwortlich. Zu 2. a) und b): Der Bürgermeister der betroffenen Gemeinde, der Vorsitzende der Sicherheitsregion, der Wirtschaftsminister sowie die Aufsichtsbehörde für Umwelt und Transport sind für die Koordination des Krisenmanagements zuständig. Zu 3. a) und b): Für die Durchführung von anlageninternen und anlagenexternen Notfallschutzmaßnahmen ist die Aufsichtsbehörde für Umwelt und Transport zuständig. Die Originalantwort des niederländischen Parlaments ist als Anlage 3 beigefügt. 5.5. Rechtslage in der Schweiz Die Antwort zur Frage 1 enthält Ausführungen zur Notfallvorsorge, aber nicht zu den Betreiberpflichten bei einem eingetretenen Atomunfall. Die Fragen 2 und 3 wurden lediglich mit Verweisen auf Internetquellen beantwortet. Ohne weitere Erläuterungen (z.B. zur Rechtsqualität der genannten Normen oder zur grundsätzlichen Zuständigkeitsverteilung) lassen sich aus diesen allerdings keine belastbaren Angaben zu den vorliegenden Fragen herleiten. Die Originalantwort des Schweizer Parlaments ist als Anlage 4 beigefügt. 5.6. Rechtslage in der Tschechischen Republik Zu 1. a): Nach dem tschechischen Atomgesetz (Gesetz Nr. 18/1997) ist der Betreiber dafür verantwortlich , sich auf Notfälle (bzw. auf den anlageninternen Notfallschutz) vorzubereiten. Zu 1. b): Für den anlagenexternen Notfallschutz ist der Betreiber nicht verantwortlich. Je nach Schwere des Ereignisses sind regionale oder nationale Behörden für anlagenexterne Notfallschutzmaßnahmen zuständig. Zu 2. a): Nach dem tschechischen Atomgesetz ist der Betreiber für anlageninterne Notfallschutzmaßnahmen verantwortlich. Die Erfüllung der gesetzlichen Betreiberpflichten untersteht der staatlichen Aufsicht. Die Rechte und Pflichten der Kontrolleure sind in § 39 des Atomgesetzes Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 16 geregelt. Nach § 40 des Atomgesetzes kann der Kontrolleur vom Betreiber die Vornahme von Abhilfemaßnahmen verlangen. Zu 2. b): In Tschechien wurde ein Krisenmanagementsystem entwickelt, das staatliche Maßnahmen auf nationaler und regionaler Ebene vorsieht. Auf nationaler (zentraler) Ebene handelt die Regierung auf der Basis von Dokumenten/Erkenntnissen des zentralen Krisenstabes. Auf regionaler Ebene handelt der Leiter der Region auf der Basis von Dokumenten/Erkenntnissen des regionalen Krisenstabes. Zu 3. a) und b): Für die Durchführung von anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen ist der Betreiber zuständig. Für die Durchführung von anlagenexternen Notfallschutzmaßnahmen sind – je nach Schwere des Ereignisses – regionale oder nationale Behörden zuständig. Die Originalantwort des tschechischen Parlaments ist als Anlage 5 beigefügt. 5.7. Auswertung Aus den obigen Antworten lassen sich allenfalls ganz allgemeine Schlussfolgerungen ziehen. So scheint die Verantwortlichkeit des Betreibers für die Sicherheit der Anlage (anlageninterner Notfallschutz) in Belgien, der Tschechischen Republik und in den Niederlanden klar geregelt zu sein. In Frankreich kann man wohl angesichts der angegebenen Pflicht des Betreibers zur Erstellung eines internen Notfallplans („le plan d’urgence interne – PUI“) davon ausgehen, dass der Betreiber für die Ergreifung der anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen verantwortlich ist. Die staatliche Überwachung der Einhaltung der Betreiberpflichten wurde vom belgischen sowie vom tschechischen Parlament ausdrücklich erwähnt, allerdings ohne nähere Ausführungen dazu, ob die staatliche Anordnung bestimmter Maßnahmen gegenüber dem Betreiber ggf. auch zwangsweise durchgesetzt werden kann. Weitere staatliche Pflichten/Befugnisse im Hinblick auf anlageninterne und anlagenexterne Notfallschutzmaßnahmen werden nur vereinzelt erwähnt. So verweist das französische Parlament einerseits auf die Aufgaben der Behörde für Nuklearsicherheit (ASN), die den Strahlenschutz betreffen (z.B. Information der Bevölkerung über die Strahlenbelastung, Beratung der für den Zivilschutz zuständigen Behörden) und andererseits auf die Aufgaben des Bevölkerungsschutzes. Letztere werden allerdings nicht weiter konkretisiert (z.B. im Hinblick auf konkrete Katastrophenbekämpfungsmaßnahmen , Evakuierung etc.). Die insoweit angegebenen zuständigen Stellen (Innenminister , Industrieminister etc.) nehmen Koordinierungsfunktionen wahr, Angaben über die konkret zuständigen Stellen für die Durchführung des Katastrophenschutzes fehlen. Die Tschechische Republik, Belgien und die Niederlande machen ebenfalls keine näheren Angaben zu den konkret zu ergreifenden anlagenexternen Notfallschutzmaßnahmen (Katastrophenschutz), sondern verweisen diesbezüglich auf ein bestehendes Krisenmanagementsystem bzw. auf Notfallpläne, die Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung und die Umwelt vorsehen. Insgesamt lässt die Abfrage keine Bewertung dahingehend zu, ob in den Nachbarländern Deutschlands, in denen Atomkraftwerke betrieben werden, die Aufgaben und Zuständigkeiten klar(er) geregelt sind. Vielmehr drängt sich die Vermutung auf, dass es sich im Rahmen des Atomnotfallschutzes auch in den Nachbarländern um eine komplexe und schwer zugängliche Materie handelt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 078/15 Seite 17 6. Ausblick Anlass für eine Überprüfung der Zuständigkeitsverteilung beim Atomnotfallschutz könnte die anstehende Umsetzung der neuen Grundnormrichtlinie (RL 2013/59/Euratom35) sein. Diese sieht in Art. 97 Abs. 1 vor, dass die Mitgliedstaaten ein Notfallmanagementsystem einrichten. Nach Anlage XI A. zur RL 2013/59/Euratom muss dieses Notfallmanagementsystem u.a. die „klare Festlegung der Verantwortlichkeiten von Personen und Organisationen, die an der Notfallvorsorge und -reaktion beteiligt sind, (…)“ sowie „eine zuverlässige Kommunikation und effiziente, wirksame Vorkehrungen für Zusammenarbeit und Koordinierung innerhalb der Einrichtungen sowie auf der jeweils geeigneten nationalen und internationalen Ebene, (…)“ berücksichtigen. Darüber hinaus hat sich die Innenministerkonferenz bzw. ihr Arbeitskreis V (Feuerwehrangelegenheiten , Rettungswesen, Katastrophenschutz und zivile Verteidigung) intensiv mit den aus dem Atomunfall in Fukushima zu ziehenden Lehren befasst und geprüft, ob „die bestehenden Planungen und Vorhaltungen der Länder und des Bundes auf der Grundlage der Erkenntnisse aus den Ereignissen in Japan weiterentwickelt werden müssen“.36 Als Fazit wurde u.a. festgehalten, dass bei der Notfallplanung Atomunfälle mit einem größeren Ausmaß und insbesondere mit einer länger andauernden Freisetzung von Radioaktivität berücksichtigt werden müssten, was auch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Ländern und mit dem Bund erfordere. Dazu heißt es im Abschlussbericht des Arbeitskreises: „Insbesondere wenn ein kerntechnischer Unfall in einem Kernkraftwerk mit schweren Katastrophenfällen, dem Ausfall kritischer Infrastrukturen und einer länger andauernden Freisetzung von Radioaktivität einhergeht, erfordert dessen Bewältigung ein gesamtstaatliches Zusammenwirken. Hierbei entsteht ein erheblicher Koordinierungs- und Abstimmungsaufwand . Die Erkenntnisse aus Japan haben gezeigt, dass die länderübergreifende Zusammenarbeit genau abgestimmt werden sollte, um Missverständnisse und Kompetenzkonflikte zu vermeiden. Dabei ist von erheblichen Unterstützungsleistungen zwischen den Ländern auszugehen. Aus diesem Grund sollen bereits in der Planungsphase die Einsatzkonzepte abgestimmt werden.“37 35 S.o. Fn. 8. 36 Siehe dazu den Abschlussbericht der länderoffenen Arbeitsgruppe Fukushima“ (2014), 1, abrufbar unter: http://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/14-12-11_12/anlage1zu34.pdf? __blob=publicationFile&v=2. 37 Vgl. Abschlussbericht (Fn. 37), 30.