© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 075/20 Rechtsgrundlagen für Ausgangssperren Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 075/20 Seite 2 Rechtsgrundlagen für Ausgangssperren Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 075/20 Abschluss der Arbeit: 24.3.2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 075/20 Seite 3 Diese Ausarbeitung gibt die summarische Prüfung möglicher Rechtsgrundlagen für die Verhängung von Ausgangssperren wieder. 1. Infektionsschutzgesetz 1.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes – Verwaltungskompetenz der Länder Infektionsschutz und Seuchenbekämpfung gehören zur Gefahrenabwehr, die grundsätzlich Sache der Länder ist. Für Maßnahmen der Seuchenbekämpfung und des Infektionsschutzes besteht nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Grundgesetz (GG) die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes, die dieser mit dem Erlass des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) genutzt hat. Soweit der Bund die Gesetzgebungskompetenz in Anspruch genommen hat, haben die Länder keine weitere Regelungsbefugnis (Art. 72 Abs. 1 GG). Nach Art. 83 GG führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten aus, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt. Auch die Ausführung des IfSG ist Sache der Länder. Welche Behörde innerhalb eines Landes die Zuständigkeit nach dem Infektionsschutzgesetz hat, ist in den einzelnen Ländern durch Zuständigkeitsverordnungen geregelt. So ist etwa nach § 1 Abs. 6 der Verordnung des Sozialministeriums über die Zuständigkeiten nach dem IfSG (IfSGZust V) des Landes Baden-Württemberg die Ortspolizei zuständig, insofern also die Kommune. Auch in vielen anderen Bundesländern wurden die Zuständigkeiten an die Landkreise und Kommunen übertragen. 1.2. § 28 Abs. 1 IfSG als Ermächtigungsgrundlage für eine Ausgangssperre Für die mit einer Ausgangssperre verbundene Freiheitsbeschränkung bedarf es nach Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG einer Ermächtigungsgrundlage. § 28 Abs. 1 IfSG1 lautet: „Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen; sie kann auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind. Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden. Die Grundrechte der 1 Dazu auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, § 28 Infektionsschutzgesetz als Rechtsgrundlage für Schutzmaßnahmen bei übertragbaren Krankheiten, WD 9 - 3000 - 010/20 (3.3.2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 075/20 Seite 4 Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 Grundgesetz ) werden insoweit eingeschränkt.“2 § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG eröffnet der Behörde die Möglichkeit, Personen zu verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten. Allerdings wird diese Maßnahme unter die zeitliche Einschränkung gestellt, „bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind“. Daraus wird bislang abgeleitet, dass es sich um vorübergehende Beschränkungen handelt, für die Zeit der Beseitigung einer konkreten Gefahrenquelle .3 So wird in der Literatur das Beispiel einer Anordnung genannt, ein Flugzeug oder Schiff nicht zu verlassen, bis eine ansteckungsfähige Person isoliert werden konnte.4 § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG ermöglicht das Ergreifen von notwendigen Schutzmaßnahmen, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Bezüglich der Reichweite dieser Regelung werden wohl zwei unterschiedliche Ansichten vertreten. Nach der ersten Ansicht ist § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG nicht auf bestimmte Maßnahmen oder auch solche von einer bestimmten Eingriffsintensität beschränkt.5 Lediglich nach Satz 3 bestehe ein Verbot für die Anordnung von Heilbehandlungen. Daher seien auch Ausgangssperren möglich.6 Zudem unterlägen auch die weiteren in Satz 2 vorgesehenen Maßnahmen keiner zeitlichen Beschränkung (zum Beispiel das Schließen von Badeanstalten oder Schulen) und seien somit als Dauerverwaltungsakte möglich. Insofern sei die eben dargestellte zeitliche Beschränkung des Satz 2 nicht zu verallgemeinern und beeinflusse nicht mögliche Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG. Dass die Maßnahmen zeitlich beschränkt werden, könnte ggf. eine Frage der Erforderlichkeit sein. Die Feststellung, ob eine Ausgangssperre auch eine erforderliche, notwendige Schutzmaßnahme ist, stehe im Ermessen7 der zuständigen Behörde. Grundsätzlich können auch Nichtinfizierte Adressaten von Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 IfSG sein.8 Dem Einwand der fehlenden Bestimmtheit der Norm für den Erlass einer Ausgangssperre könne man das Argument 2 Hervorhebung nur hier. 3 Klafki, Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland?, JuWissBlog Nr. 27/2020 v. 18.3.2020, abrufbar unter https://www.juwiss.de/27-2020/ (zuletzt aufgerufen am 20.3.2020); Edenharter, Freiheitsrechte ade?, Verfassungsblog vom 19.3.2020, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/freiheitsrechte-ade/ (zuletzt aufgerufen am 20.3.2020); Kießling, Ausgangssperren wegen Corona nun auch in Deutschland (?), JuWissBlog Nr. 29/2020 v. 19.3.2020, abrufbar unter https://www.juwiss.de/29-2020/ (zuletzt aufgerufen am 20.3.2020);Thiele, Ausgangssperren wegen Corona, Im Katastrophenfall geht anders, LTO v. 20.3.2020, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ausgangssperren-wegen-corona-zulaessig-infektionsschutzgesetz-katastrophenfall -bayern/ (zuletzt aufgerufen am 20.3.2020). 4 Edenharter, (Fn. 3); Klafki, (Fn. 3); Thiele, (Fn. 3). 5 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 28, Rn. 8. 6 Kießling, (Fn. 3). 7 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 28, Rn. 34. 8 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 28, Rn. 17 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 075/20 Seite 5 der außergewöhnlichen Lage und das erstmalige Auftreten eines Virus von dieser Intensität entgegensetzen . Weil der Gesetzgeber eine Coronaepidemie nicht habe vorhersehen können, sei es vertretbar, Ländern und Kommunen über den Wortlaut der Norm hinaus weitreichende Befugnisse für Verbote zuzugestehen. „Denn Sinn und Zweck des Gesetzes sei es, die Ausbreitung von Infektionen zu unterbinden. Dazu seien gewisse Beschränkungen der Bewegungsfreiheit ausdrücklich erwähnt.“9 Gerade daher sei auch ein Tätigwerden auf Grundlage der Generalklausel möglich.10 Eine andere Ansicht stützt sich auf die Gesetzesbegründung zur Vorgängervorschrift in § 34 Bundesseuchengesetz , nach der Maßnahmen von der Intensität von Besuchsverboten von Nichtstörern bei Kranken Intention des Gesetzgebers waren,11 nicht jedoch mehrwöchige Ausgangssperren für alle Einwohner.12 Systematisch wird dies zudem damit begründet, dass andere erhebliche Maßnahmen wie Ansammlungsverbote konkret in § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG geregelt seien, die eingriffsintensivere Ausgangssperre sich dann aber auf die Generalklausel stützen müsste. Dies scheine insbesondere deshalb problematisch, weil es sich um erhebliche Grundrechtseingriffe handele.13 Je tiefer der Eingriff in die Grundrechte sei, desto präziser müsse er gesetzlich geregelt sein.14 § 28 Abs. 1 S. 4 IfSG artikuliert konkret, dass bestimmte Grundrechte, unter anderem die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und die Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), durch die Schutzmaßnahmen eingeschränkt werden können. Insofern ist darauf hinzuweisen, dass Maßnahmen nach § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG stets einer Grundrechtsprüfung zu unterziehen ist. Auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ist besonderer Wert zu legen. Insbesondere eine Befristung der Maßnahmen oder die Gewährung von Ausnahmen für besondere (Härte-)Fälle scheint dabei wesentlich . 1.3. Rechtsverordnung gemäß § 32 IfSG Nach § 32 IfSG kann die Landesregierung unter den Voraussetzungen der §§ 28 bis 31 IfSG entsprechende Ge- oder Verbote durch Rechtsverordnungen erlassen. Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob die Berufung auf eine „notwendige Schutzmaßnahme“ als Rechtsgrundlage verfassungsrechtlich ausreichen bestimmt ist (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG) für den Erlass einer Ausgangssperre als Rechtsverordnung ist. 9 Wieland, Süddeutsche Zeitung, 21./22.03.2020, S. 2. 10 Kießling, (Fn. 3). 11 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes , BT-Drs. 8/2468, S. 27. 12 Edenharter, (Fn. 3); Klafki, (Fn. 3). 13 Klafki, (Fn. 3). 14 Janisch, Süddeutsche Zeitung, 21./22.03.2020, S. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 075/20 Seite 6 1.4. Quarantäne gemäß § 30 IfSG Die Ausgangssperre als allgemeine Anordnung der Quarantäne (§ 30 IfSG) zu betrachten kommt nicht in Betracht, da diese nur gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern angeordnet werden kann, nicht jedoch gegenüber Nichtstörern.15 1.5. Zwischenergebnis Nur nach einer Ansicht könnten Land oder Kommunen Ausgangssperren nach § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG verhängen, soweit der damit verbundene Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen gerechtfertigt ist. Eine Klarstellung durch den Gesetzgeber würde hilfreich erscheinen. Der Bund hat nach dem IfSG in seiner jetzigen Fassung keine Möglichkeit Ausgangssperren zu verhängen. 2. Weitere mögliche Ermächtigungsgrundlagen 2.1. Landespolizeigesetze Die landesrechtlich geregelten Befugnisse zur Gefahrenabwehr, insbesondere die Generalklauseln in den Landespolizeigesetzen, ermächtigen die Behörden, grundsätzlich alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um eine Gefahr für die Allgemeinheit oder den Einzelnen abzuwehren, soweit diese die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht. Maßnahmen, die im IfSG spezieller geregelt sind, sind hiervon ausgenommen: Sowohl die Maßnahmen, als auch der Anlass (Infektionsschutz ) sind im IfSG abschließend geregelt.16 2.2. Katastrophenschutz Das Katastrophenschutzrecht ist ausschließlich Sache der Länder. Die Katastrophenschutzgesetze der Länder führen regelmäßig zu einer Zuständigkeitsverschiebung weg von den Kommunen und Landkreisen hin zu den Landesbehörden.17 Dies kann im Einzelfall auch für Fragen des Einsatzes von Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz relevant werden. Konkrete Ermächtigungsgrundlagen für die Anordnung einer Ausgangssperre sind dort nach stichprobenartiger Kontrolle jedoch nicht ersichtlich. Auch die Katastrophenschutzgesetze der Länder enthalten Generalklausen , die das Land nach Ausrufung des Katastrophenfalls zu dann näher zu konkretisierenden Maßnahmen ermächtigen. Ob die im Vergleich zum IfSG zusätzliche Voraussetzung des 15 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 30, Rn. 15; vgl. auch Klafki, Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland?, JuWissBlog Nr. 27/2020 v. 18.3.2020, abrufbar unter https://www.juwiss.de/27-2020/ (zuletzt aufgerufen am 20.3.2020); Kießling, Ausgangssperren wegen Corona nun auch in Deutschland (?), JuWissBlog Nr. 29/2020 v. 19.3.2020, abrufbar unter https://www.juwiss.de/29-2020/ (zuletzt aufgerufen am 20.3.2020); Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 30, Rn. 15. 16 Im Ergebnis auch Edenharter, (Fn. 3). 17 Thiele, (Fn. 3). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 075/20 Seite 7 ausgerufenen Katastrophenfalls die Anforderungen an die Bestimmtheit der einzelnen Norm reduziert ,18 scheint fraglich. 2.3. Amtshilfe Auf der Bundesebene sind im Grundgesetz für den Katastrophenfall besondere Möglichkeiten der Amtshilfe geregelt, Art. 35 Abs. 2 und Abs. 3 GG. Die zuständigen kommunalen bzw. Landbehörden können für die Durchführung von Maßnahmen auf Amtshilfegrundsätze zurückgreifen, soweit sie dazu Unterstützung benötigt und nicht spezielleres Landesrecht diesbezüglich greift. Insofern ist es auch möglich Amtshilfe durch Bundesbehörden zu erhalten, insbesondere von der Bundeswehr und der Bundespolizei. *** 18 So Thiele, (Fn. 3).