Deutscher Bundestag Reichweite des Parlamentsvorbehalts gemäß § 4 Absatz 2 des Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 075/13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 075/13 Seite 2 Reichweite des Parlamentsvorbehalts gemäß § 4 Absatz 2 des Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 075/13 Abschluss der Arbeit: 18. April 2013 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 075/13 Seite 3 1. Anwendungsbereich der Bestimmung § 4 des Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMFinG)1 bestimmt, dass in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), die die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages betreffen, das Plenum des Deutschen Bundestages entscheidet. Die hiermit bestimmte Mitwirkung des Bundestages an wesentlichen Leitentscheidungen und Beschlüssen der Organe des ESM wird auf das größtmögliche Maß festgelegt, indem die parlamentarische Zustimmung des gesamten Bundestages zur Voraussetzung für das positive Votum des deutschen Vertreters in diesen Organen wird. Die Bestimmung nimmt direkten Bezug auf die Vorgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 2012.2 Darin unterstreicht das Gericht die besondere Stellung der Gesamtheit des Deutschen Bundestages für die Wahrnehmung seiner Repräsentationsfunktion3 und überträgt die Grundsätze der Wahrnehmung des Budgetrechts durch das Parlament auf das System intergouvernementalen Regierens,4 dem der ESM als völkerrechtliche Konstruktion zuzuordnen ist. Das Bundesverfassungsgericht betont, gerade haushaltspolitischen Entscheidungen von erheblicher Tragweite habe grundsätzlich ein Verfahren vorauszugehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit biete, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und das die Volksvertretung dazu anhalte, Notwendigkeit und Umfang der zu beschließenden Maßnahmen in öffentlicher Debatte zu klären.5 § 4 ESMFinG nimmt die einfachgesetzliche Konkretisierung dieses die Befassung des Plenums gebietenden Grundsatzes der Budgetöffentlichkeit vor.6 1.1. Entscheidungen im Rahmen des ESM In einer nicht abschließenden Liste wesentlicher Entscheidungen im Rahmen des ESM werden in § 4 Abs. 1 S. 2 Ziff. 1 bis 3 ESMFinG Beispiele genannt, die regelmäßig die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages betreffen. Dabei handelt es sich um Entscheidungen des Gouverneursrats7 des ESM über die Gewährung einer Finanzhilfefazilität gemäß Art. 13 Abs. 2 des Vertrages zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV),8 über die Annahme einer Vereinbarung über die Finanzhilfefazilität gemäß Art. 13 Abs. 3 S. 3 ESMV und über die Zustimmung zu einem sog. Memorandum of Understanding gemäß Art. 13 Abs. 4 ESMV sowie Beschlüsse des Gouverneursrats zur Veränderung des Stammkapitals und der Darlehensobergrenze gemäß Art. 10 Abs. 1 ESMV. 1 Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz - ESM- FinG) vom 13. September 2012 (BGBl. I S. 1918). 2 BVerfG, 2 BvE 8/11 3 BVerfG, 2 BvE 8/11, Rn. 102ff. 4 BVerfG, 2 BvE 8/11, Rn. 109ff. 5 BVerfG, 2 BvE 8/11, Rn. 108, 144. 6 Bericht des Haushaltsausschusses zum Entwurf des ESMFinG, BT-Drs. 17/10172, S. 11. 7 Art. 5 ESMV. Sollten Aufgaben des Gouverneursrats gemäß Art. 5 Abs. 6 lit. m ESMV auf das Direktorium des ESM übertragen werden, gilt § 4 Abs. 1 ESMFinG entsprechend für dessen Entscheidungen (§ 4 Abs. 3 ESMFinG). 8 Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus, abrufbar unter: http://www.european-council.europa.eu/media/582866/02-tesm2.de12.pdf (zul. abgerufen am 17.04.2013). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 075/13 Seite 4 Maßstab für die Bestimmung der Wesentlichkeit von Entscheidungen der Organe des ESM, die somit die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages betreffen, sind die Grundsätze der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 28. Februar 2012. Danach muss der Bundestag im unionalen Bereich - unbeschadet einer Mitwirkung nach Art. 23 Abs. 2 GG - jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im Einzelnen bewilligen und, soweit überstaatliche Vereinbarungen (wie im Rahmen des ESM - d.A.) getroffen werden, die aufgrund ihrer Größenordnung für das Budgetrecht von struktureller Bedeutung sein können, sicherstellen, dass weiterhin hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht. Um das Parlament nicht in die Rolle des bloßen Nachvollzuges zu drängen und die Wahrnehmung seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung zu vereiteln, muss der Bundestag über wesentliche haushaltspolitische Fragen der Einnahmen und Ausgaben wie auch über überstaatlich zu begründende Rechtspflichten konstitutiv entscheiden.9 1.2. Der Parlamentsvorbehalt Der Vorbehalt parlamentarischer Zustimmung zu den Entscheidungen der Organe des ESM im Sinne von § 4 Abs. 1 ESMFinG bindet gemäß § 4 Abs. 2 ESMFinG den deutschen Vertreter in den Organen des ESM an die Plenumsentscheidung. Solang das Plenum des Bundestages seine Zustimmung zu einem Beschlussvorschlag im Rahmen des ESM nicht erteilt hat, darf der von der Bundesregierung in die Organe des ESM entsandte Vertreter weder zustimmen noch sich enthalten . § 4 Abs. 2 S. 2 ESMFinG kodifiziert ein effektives Vetorecht10 des Deutschen Bundestages, da der deutsche Vertreter zur Ablehnung eines Beschlussvorschlages verpflichtet ist, wenn ein zustimmender Beschluss des Plenums nicht vorliegt. 2. Die Euro-Gruppe Die Euro-Gruppe ist ein informelles Gremium, in dem die Finanzminister der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) zusammentreten, deren Währung der Euro ist. Sie geht zurück auf eine Übereinkunft des Europäischen Rates vom 12. und 13. Dezember 1997, nach der sich die Finanzminister der Euro-Mitgliedstaaten im Vorfeld der Tagungen des Rates für Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN) informell treffen. Die erste Tagung des Gremiums fand am 4. Juni 1998 in Luxemburg statt. Seitdem tritt die Euro-Gruppe vor jeder Tagung des ECOFIN-Rates zusammen. Die Einrichtung der Euro-Gruppe trägt dem erhöhten Abstimmungsbedarf der Euro-Mitgliedstaaten Rechnung, der durch die vollständige Übertragung ihrer währungspolitischen Kompetenzen auf die Europäische Union entstanden ist. Der Euro-Gruppe kommen jedoch keine Entscheidungskompetenzen zu. Diese sind vollständig beim ECOFIN-Rat angesiedelt, an dessen Position als maßgeblichem Entscheidungsgremium in der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) sich durch die Etablierung der Euro-Gruppe nichts verändert hat.11 9 BVerfG, 2 BvE 8/11, Rn. 109. 10 Bericht des Haushaltsausschusses zum Entwurf des ESMFinG, BT-Drs. 17/10172, S. 12. 11 U. Palm in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 49. EL 2012, Art. 137 AEUV Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 075/13 Seite 5 Ebenso unverändert ist auch seine Zusammensetzung gemäß Art. 16 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV), wonach jeder Mitgliedstaat durch einen Minister vertreten wird. Für die Entscheidungen in Angelegenheiten der Währungsunion ruht das Stimmrecht der Mitgliedstaaten , die nicht an der dritten Stufe der WWU teilnehmen (vgl. Art. 136 Abs. 2 Satz 1, Art. 139 Abs. 4 AEUV). Folglich fallen diese Entscheidungen durch die Stimmen derjenigen Ratsmitglieder, die auch die Euro-Gruppe bilden. Durch den Vertrag von Lissabon wurde die Euro-Gruppe in Art. 137 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und im Protokoll Nr. 14 betreffend die Euro- Gruppe12 primärrechtlich verankert. Das Protokoll definiert das Ziel der Euro-Gruppe, den Rahmen für einen verstärkten Dialog zwischen den Euro-Mitgliedstaaten für die Förderung einer immer engeren Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Euro-Währungsgebiet zu schaffen. Die Bestimmungen des Protokolls betreffen die Zusammensetzung der Euro-Gruppe, ihre Tagungen sowie die Teilnahme von Vertretern der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank (Art. 1). Art. 2 bestimmt die Wahl des Präsidenten der Euro-Gruppe für einen Turnus von zweieinhalb Jahren. Wenngleich die Euro-Gruppe nicht über eigenständige Kompetenzen verfügt, wird sie als Gremium politischer Macht mit nicht zu unterschätzender Bedeutung bewertet.13 Wie oben ausgeführt, fasst der ECOFIN-Rat seine Beschlüsse in Angelegenheiten der Währungsunion in einer Formation , bei der ausschließlich seine der Euro-Gruppe angehörenden Mitglieder stimmberechtigt sind. Folglich wird ein in der Euro-Gruppe konsentiertes Vorgehen im ECOFIN-Rat schwerlich seine formale Bestätigung verfehlen.14 Eine in der Literatur insbesondere aus legitimatorischer Perspektive kritisch betrachtete15 Weiterentwicklung der politisch machtvollen Stellung der Euro- Gruppe vollzieht sich im Zuge der Bewältigung der aktuellen Staatsschuldenkrise, die im wesentlichen in einem System intergouvernementalen Regierens betrieben wird: So sollen die Entscheidungen der Euro-Mitgliedstaaten über die Sicherungsgeber und die Fazilität gemäß Art. 10 Abs. 8 des Rahmenvertrags über die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) auf den Tagungen der Euro-Gruppe getroffen werden. Der Gouverneursrat des ESM setzt sich nach Art. 5 Abs. 1 ESMV aus den Finanzministern der ESM-Mitglieder und damit den Mitgliedern der Euro- Gruppe zusammen. Neben dem Kommissionsmitglied für Wirtschaft und Währung und dem EZB-Präsidenten kann der Präsident der Euro-Gruppe als Beobachter an den Sitzungen des Gouverneursrats teilnehmen (Art. 5 Abs. 3 ESMV). Der Vorsitz im Gouverneursrat kann an den Präsidenten der Euro-Gruppe übertragen werden (Art. 5 Abs. 2 ESMV). 12 ABl. EU 2012/C 326 vom 26.10.2012, S. 283. 13 U. Palm in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 49. EL 2012, Art. 137 AEUV Rn. 2. 14 Vgl hierzu die Hinweise im Mission Letter des Präsidenten der Euro-Gruppe vom 15. Januar 2010, S.6: „… In future, we will be much more visible as the Eurogroup, while more of our outputs will be directly translated into Council acts voted on only by the euro area. …“, abrufbar unter: http://www.gouvernement.lu/salle_presse/actualite/2010/01-janvier/18-eurogroupe-ecofin/eurogroupe.pdf (zul. abgerufen am 17.04.2013). 15 U. Palm in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 49. EL 2012, Art. 137 AEUV Rn. 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 075/13 Seite 6 Dieser politische Machtzuwachs ändert jedoch nichts am informellen Charakter der Euro- Gruppe und an der fehlenden rechtlichen Bindungswirkung der in ihrem Rahmen gefundenen Schlussfolgerungen. Diese wird erst durch die Entscheidung der Gremien hergestellt, die mit den entsprechenden Kompetenzen ausgestattet sind. Für den Bereich der WWU ist dies der ECOFIN- Rat, für die Krisenbewältigungsmechanismen sind dies die jeweils in den entsprechenden Verträgen normierten Entscheidungsgremien. Der Einfluss der nationalen Parlamente auf die dort zu treffenden Entscheidungen ergibt sich im Unionsrecht aus den verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Regelungen zur Mitwirkung des Deutschen Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union.16 Im intergouvernemental geprägten Bereich der Krisenbewältigung greifen – wie bei Einzelmaßnahmen im Rahmen des ESM – speziell kodifizierte Parlamentsvorbehalte. Beide Instrumente sehen Maßnahmen zur Bindung des deutschen Vertreter vor, entfalten ihre Wirkung jedoch nur hinsichtlich seines Abstimmungsverhaltens in den jeweiligen Entscheidungsgremien, zu denen die Euro- Gruppe nicht gehört. Der Parlamentsvorbehalt aus § 4 Abs. 2 ESMFinG ist deshalb nur auf die Abstimmungen in den Organen des ESM bezogen. 16 Art. 23 Grundgesetz sowie Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUZBBG) und Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (IntVG).