© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 074/20 Zur Verfassungsmäßigkeit von reinen Briefwahlen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 074/20 Seite 2 Zur Verfassungsmäßigkeit von reinen Briefwahlen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 074/20 Abschluss der Arbeit: 23. März 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 074/20 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wird, ob politische Wahlen als reine Briefwahlen durchgeführt werden können. 2. Einfachgesetzliche Regelungen zur Briefwahl Das Wahlrecht lässt die Briefwahl als Alternative zur Urnenwahl zu. Dies gilt für die Wahlen auf allen Ebenen: Europawahlen (§ 6 Abs. 5 lit. b, § 18 Abs. 1 S. 2 Europawahlgesetz), Bundestagswahlen (§ 14 Abs. 3 lit. b, § 36, § 38 Bundeswahlgesetz), Landtagswahlen (bspw. Art. 3 Abs. 3 Nr. 2, Art. 15 Landeswahlgesetz Bayern1), Kommunalwahlen (bspw. Art. 3 Abs. 3 Nr. 3, Art. 14, Art. 19 Abs. 2 und 3 Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz Bayern2). Das Briefwahlverfahren wurde auf Bundesebene im Jahr 2008 vereinfacht. Die Beantragung der Briefwahl bedarf seitdem keiner besonderen Begründung mehr.3 Wahlen ausschließlich in der Form der Briefwahl (reine Briefwahl) sind in den Bundesgesetzen nicht vorgesehen. 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben für politische Wahlen Hinsichtlich der Wahlen zum Bundestag hat der Verfassungsgeber in Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) vorgegeben, dass die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gilt nur für die Wahlen zum Bundestag und ist auf Landtags- und Kommunalwahlen nicht anwendbar. Für die Volksvertretungen in den Bundesländern, Kreisen und Gemeinden gilt Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, der ebenfalls allgemeine , unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen vorschreibt. Angesichts dieser identisch formulierten Wahlgrundsätze kommt der Auslegung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG durch das Bundesverfassungsgericht und in der Literatur auch für die Wahlen zu den Landtagen und den Kommunalvertretungen Bedeutung zu.4 Neben die geschriebenen Wahlrechtsgrundsätze tritt der ungeschriebene Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl, der seine Grundlagen in Art. 38 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG findet. Die Öffentlichkeit der Wahl sichert das für die Funktionsfähigkeit einer Demokratie und die Legitimation notwendige Vertrauen in den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl.5 Der Gesetzgeber hat diese fundamentalen Wahlgrundsätze für das gesamte Wahlverfahren zu beachten . Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bringt es die „Natur der Sache“ mit sich, 1 Landeswahlgesetz (LWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Juli 2002 (GVBl. S. 277, 620, BayRS 111- 1-I), zuletzt geändert durch § 1 des Gesetzes vom 24. Juli 2019 (GVBl. S. 342). 2 Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz (GLKrWG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. November 2006 (GVBl. S. 834, BayRS 2021-1/2-I), zuletzt geändert durch § 3 des Gesetzes vom 24. Juli 2019 (GVBl. S. 342). 3 Dazu Hahlen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, § 36 Rn. 5a. 4 Siehe dazu auch Strelen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, Einführung Rn. 15. 5 Morlok, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 38 Rn. 126. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 074/20 Seite 4 dass nicht jeder der Wahlgrundsätze stets in voller Reinheit verwirklicht werden kann.6 Dem Gesetzgeber steht ein gewisser Ermessensspielraum bei der Umsetzung und Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze zu.7 Differenzierungen bei der Gestaltung des konkreten Wahlrechts bedürfen zu ihrer Rechtfertigung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes.8 Bei der Ausgestaltung des Wahlrechts hat der Gesetzgeber dafür Sorge zu tragen hat, dass keiner der Wahlrechtsgrundsätze unverhältnismäßig eingeschränkt wird oder in erheblichem Umfang leer zu laufen droht.9 Das Bundesverfassungsgericht hatte mehrfach über die Zulässigkeit der Briefwahl zu entscheiden und hat festgestellt, dass die Briefwahl die Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit einschränkt.10 Die geltenden bundesrechtlichen Regelungen beurteilt das Bundesverfassungsgericht gleichwohl als verfassungskonform, da sie dem Ziel dienen, eine umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen und damit dem Grundsatz der Allgemeinheit Rechnung tragen.11 Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl stellt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls im Zusammenhang mit der Briefwahl eine zu den Grundsätzen der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit der Wahl gegenläufige verfassungsrechtliche Grundentscheidung dar, die grundsätzlich geeignet ist, Einschränkungen anderer Grundentscheidungen der Verfassung zu rechtfertigen. Das Gericht hat aber darauf hingewiesen, dass eine deutlich Zunahme der Briefwähler mit dem verfassungsrechtlichen Leitbild der Urnenwahl, die die repräsentative Demokratie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar mache, in Konflikt treten könne.12 Die Regelung einer reinen Briefwahl würde den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Vorgaben für die Umsetzung und Konkretisierung der Wahlgrundsätze nicht gerecht. In der Literatur wird auf die Schwachpunkte und Missbrauchsgefahren bei der Briefwahl hingewiesen : Briefwahlunterlagen seien nicht fälschungssicher und es sei nicht nachvollziehbar, ob der Wähler seine Stimme selbst abgegeben habe und ob er dabei unbeobachtet und unbeeinflusst gewesen sei.13 Verschiedentlich werden verfassungsrechtliche Bedenken sowohl gegen die Zulässigkeit der Briefwahl als auch gegen den zunehmenden Umfang ihrer Nutzung (28,6 % bei der Bundestagswahl am 24. September 2017) geäußert.14 Die Einschränkung der verfassungsrechtlichen Grundsätze der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit der Wahl wird in der Literatur 6 Strelen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 6 mit Rechtsprechungsnachweisen. 7 Strelen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 4. 8 Siehe nur BVerfGE 135, 259 (Rn. 53) mit weiteren Nachweisen. 9 BVerfGE 134, 25 (30 f. Rn. 13). 10 BVerfGE 59, 119 (125); 123, 39 (75). 11 BVerfGE 134, 25 (30). 12 BVerfGE 134, 25 (32 Rn. 16). 13 Ausfühlich dazu Hahlen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, § 36 Rn. 5c. 14 Vgl. Hahlen, in: Schreiber, Bundeswahlgesetz, 10. Auflage 2017, § 36 Rn. 5 mit weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 074/20 Seite 5 überwiegend insofern als tolerabel angesehen, soweit es sich bei der Briefwahl um einen Ausnahmefall und nicht um die Regel handelt.15 *** 15 Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 88. EL, August 2019, Art. 38 Rn. 112 (Fn 3) mit weiteren Nachweisen.