© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 068/21 Reichweite der Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Infektionsschutzrecht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 068/21 Seite 2 Reichweite der Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Infektionsschutzrecht Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 068/21 Abschluss der Arbeit: 29. März 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 068/21 Seite 3 1. Ergebnis Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz für das Infektionsschutzrecht. Sie umfasst auch Maßnahmen zum Infektionsschutz in Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen. Es ist zulässig, dass der Bundesgesetzgeber detailreiche und strikte Regelungen trifft, die weitgehend auf unbestimmte Rechtsbegriffe verzichten und so wenig wie möglich Ermessen einräumen. Beim Gesetzesvollzug durch die Länder bestünde in einem solchen Fall wenig Spielraum. 2. Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Infektionsschutzes 2.1. Krankheiten Der Bund hat gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zum Erlass von Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren sowie zur Regelung der Zulassung zu Heilberufen und zum Heilgewerbe. Danach steht ihm eine Gesetzgebungsbefugnis zu, die bei Inanspruchnahme eine Sperrwirkung für eine Landesgesetzgebung auslöst.1 Eine Krankheit ist gemeingefährlich, wenn sie zu schweren Gesundheitsschäden oder zum Tod führen kann und eine größere Zahl von Menschen oder Tieren betrifft.2 Sie ist entsprechend § 2 Nr. 3 Infektionsschutzgesetz (IfSG) übertragbar, wenn Krankheitserreger oder deren toxische Produkte die Krankheit durch unmittelbare oder mittelbare Übertragung verursachen.3 Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG erfasst alle Maßnahmen, die der Bekämpfung sowie der Vorbeugung der Krankheit dienen.4 Bei vorbeugenden Maßnahmen muss ein spezieller und unmittelbarer Bezug zur Krankheit vorhanden sein. Darunter fallen beispielsweise Meldepflichten, verpflichtende Tests, Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen. 1 Wittreck, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 72 Rn. 30. 2 Broemel, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 7. Auflage 2021, Art. 74 Rn. 70. 3 Ebenda. 4 Axer, in: Bonner Kommentar, 151. Aktualisierung 2011, Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Rn. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 068/21 Seite 4 Im Rahmen der COVID-19 Pandemie wurden unter diesen Kompetenztitel unter anderem Reisebeschränkungen 5, eine Erweiterung des zur Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten befugten Personenkreises 6 sowie die Ermächtigung des Bundesgesundheitsministeriums, gesundheitspolitische Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie nach § 5 Abs. 2 IfSG zu treffen7, gefasst. 2.2. Öffentliche Fürsorge Weiter steht dem Bund gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die öffentliche Fürsorge mit Ausnahme des Heimrechts zu. Unter der öffentlichen Fürsorge wird die staatliche Unterstützung von Personen in Situationen zumindest potentieller Bedürftigkeit verstanden. Es werden Maßnahmen umfasst, die finanziell oder auf sonstiger Weise die betroffenen Personen unterstützen sowie präventiv eine Bedarfssituation vorbeugen.8 2.3. Erstreckung auf Gemeinschaftseinrichtungen Es stellt sich die Frage, ob der Bund aufgrund dieser Gesetzgebungskompetenz auch infektionsschutzrechtliche Vorschriften für Einrichtungen der Länder, insbesondere für Schulen, normieren kann. Das Schulwesen liegt nach Art. 70 GG in der ausschließlichen Kompetenz der Länder. Es umfasst die Festlegung der Schulorganisation sowie der Erziehungsprinzipien und Unterrichtsgegenstände .9 Darunter fallen grundsätzlich auch Regelungen zur Schließung von Schulen sowie zur Art und Weise der Durchführung des Unterrichts. Allerdings könnte die Kompetenz der Länder in Bezug auf die Pandemiebekämpfung von der spezielleren Kompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG verdrängt sein. Für die Frage, welchem Kompetenzbereich eine Vorschrift angehört, kommt es insbesondere auf den Schwerpunkt der Regelung an.10 Übte der Bund seine Kompetenz auf dem Gebiet des Infektionsschutzes aus, indem er etwa Maßnahmen zur Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen normierte, so täte er dies nicht mit dem Ziel, das Schulwesen zu regeln. Vielmehr hätten die Regelungen das Ziel, Vorschriften in Bezug auf Gemeinschaftseinrichtungen zu treffen, die aufgrund der Zahl sich dort aufhaltenden Personen mit einer erhöhten Infektionsgefahr verbunden sind bzw. sein können. Der Schwerpunkt solcher Maßnahmen läge somit im Bereich des Infektionsschutzes. Es handelt sich um Infektionsschutz- nicht Schulrecht. 5 Broemel, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 7. Auflage 2021, Art. 74 Rn. 70. 6 Meßling, Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27.3.2020, NZS 2020, 321, S. 322 f. 7 Ebenda, S. 321 f. 8 Broemel, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 7. Auflage 2021, Art. 74 Rn. 26 f. 9 BVerfGE 53, 185 (196). 10 Degenhart, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 70 Rn. 62; Rozek, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 70 Rn. 55 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 068/21 Seite 5 Zudem muss es dem Bund möglich sein, seine Kompetenz auf dem Gebiet des Infektionsrechts umfassend auszuüben. Aufgrund des möglicherweise erhöhten Infektionsrisikos in Schulen wäre bei hoch ansteckenden Krankheiten der Infektionsschutz und somit der Zweck der Gesetzgebungskompetenz gefährdet, wenn der Bund keine Maßnahmen für Schulen erlassen könnte. Infektionsschutzrechtliche Regelungen, die auch Schulen betreffen, existieren im Bundesrecht bereits: Nach dem 2020 eingefügten § 20 Abs. 8 IfSG besteht in bestimmten Gemeinschaftseinrichtungen die Pflicht für Personen, die dort betreut werden oder tätig sind, eine Masernimpfung nachzuweisen. Zu diesen Einrichtungen gehören nach § 20 Abs. 8 i.V.m. § 33 Nr. 3 IfSG die Schulen. Bei fehlendem Nachweis soll die Person grundsätzlich nicht in der Schule tätig oder betreut werden, wobei für schulpflichtige Kinder nach § 20 Abs. 9 S. 9 IfSG eine Ausnahme gilt. 2.4. Möglichkeit zur umfänglichen Regelung Der Bund kann die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vollumfänglich gesetzlich regeln. So kann er etwa vorgeben, welche konkreten Maßnahmen im Falle der Überschreitung eines bestimmten Inzidenzwertes in einem Gebiet (etwa in einem Landkreis) ergriffen werden müssen. Die Verordnungsermächtigung an die Landesregierungen nach § 32 IfSG kann der Bundesgesetzgeber aufheben. Die Ausführung der gesetzlichen Vorschriften wäre nach Art. 30, 83 GG ausschließliche Angelegenheit der Länder. Bei einer detaillierten Regelung der zu ergreifenden Maßnahmen, die unbestimmte Rechtsbegriffe soweit wie möglich vermeidet und so wenig wie möglich Ermessen einräumt, bliebe den Ländern dabei allerdings kaum eigener Spielraum. 2.5. Verordnungsermächtigung Der Gesetzgeber muss alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen; er darf sie nicht an die Exekutive delegieren.11 „Wesentlich“ sind dabei insbesondere alle Regelungen, die in Grundrechte eingreifen.12 Da die Abwehrmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie mit teils weitreichenden Grundrechtseingriffen verbunden sind, müsste das Wesentliche des Maßnahmenregimes somit im Gesetz selbst geregelt werden. In Bezug auf Detailfragen ist es dem Gesetzgeber unbenommen , nach Art. 80 Abs. 1 GG die Exekutive zum Erlass von Verordnungen zu ermächtigen. Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung müssen dabei nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG im Gesetz bestimmt werden. Nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG können die Bundesregierung oder ein Bundesminister ermächtigt werden. Zusätzlich kann der Bundestag bestimmen, dass die Rechtsverordnung seiner Zustimmung bedarf. Eine Verordnungsermächtigung an die Länder muss ebenso präzise gefasst sein wie eine Verordnungsermächtigung an die Bundesregierung oder einen Bundesminister . *** 11 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, siehe nur BVerfGE 49, 89 (126 f.). 12 Vgl. Boehme-Neßler, Das Parlament in der Pandemie, in: DÖV 2021, 243 (245).