© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 068/20 Bürgerservicestellen im Bereich der Sozialversicherung Verfassungsrechtliche Anforderungen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 068/20 Seite 2 Bürgerservicestellen im Bereich der Sozialversicherung Verfassungsrechtliche Anforderungen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 068/20 Abschluss der Arbeit: 7. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 068/20 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wird, ob Bürgerservicestellen für den Bereich der Sozialversicherung, in denen der Bund und die Kommunen ähnlich der Jobcenter zusammenarbeiten, ohne Grundgesetzänderung per Bundesgesetz eingerichtet werden könnten. 2. Verfassungsrechtliche Anforderungen Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Angeboten der Verwaltung für Bürgerinnen und Bürger „aus einer Hand“ kann nicht pauschal beantwortet werden. Sie hängt maßgeblich davon ab, in welcher Form die Bündelung erfolgt, welche Verwaltungskompetenzen das Grundgesetz für die erfassten Aufgaben vorsieht und ob der Grundsatz der Verantwortungsklarheit gewahrt wird. 2.1. Kooperation von Bund, Ländern und Kommunen Einheitliche Servicestellen ähnlich der Jobcenter, die Verwaltungszuständigkeiten des Bundes und der Länder im Bereich der Sozialversicherung gemeinsam im Wege der Mischverwaltung oder in Form einer Organleihe wahrnehmen, unterliegen strengen verfassungsrechtlichen Vorgaben . 1 Das Grundgesetz enthält zwar kein ausdrückliches Verbot von Mischverwaltung und definiert diesen Begriff auch nicht. Dies gilt ebenso für die Organleihe, bei der Verwaltungsaufgaben von eigentlich unzuständigen Stellen nicht nur im Einzelfall als „Organe“ für andere Stellen wahrgenommen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt es auf die – im Einzelnen sehr unklare2 – Klassifikation als Mischverwaltung und Organleihe auch nicht an.3 Maßgeblich sei die Kompetenzordnung des Grundgesetzes für die Verwaltungszuständigkeit des Bundes und der Länder:4 Die Verwaltungszuständigkeiten von Bund und Ländern seien in den Art. 83 ff. GG erschöpfend und verbindlich geregelt; das Grundgesetz gehe dabei grundsätzlich von der Unterscheidung zwischen Bundes- und Landesverwaltung aus. Verschiebungen von Kompetenzen zwischen Bund und Ländern seien auch mit Zustimmung der Beteiligten nicht zulässig. Auch organisatorische Regelungen können nicht abbedungen werden. Der Bund hat für den Bereich der Sozialversicherung von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Gebrauch gemacht. Die Länder führen die Bundesgesetze 1 Eine detaillierte Übersicht über weitere Arten von Kooperationsmodellen (insb. Einheitliche Ansprechpartner ohne Sachentscheidungsbefugnisse und öffentlich-rechtliche Anstalten) gibt Schulz, Kooperationsmodelle zur Umsetzung des Einheitlichen Ansprechpartners als unzulässige Mischverwaltung?, DÖV 2008, 1028, 1032 ff. 2 Eingehend BVerfGE 63, 1, 37 ff.; 3 Näher dazu Trapp, Die Kontinuität der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur sog. Mischverwaltung, DÖV 2008, S. 277. 4 BVerfGE 63, 1, 39 ff.; 119, 331, 337 und 370 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 068/20 Seite 4 gemäß Art. 83 GG grundsätzlich als eigene Angelegenheiten aus, soweit das GG nichts anderes bestimmt oder zulässt. Im Rahmen der Landeseigenverwaltung liegt die Organisationsgewalt umfassend bei den Ländern (Art. 84 Abs. 1 GG): Diese können sowohl die Einrichtung der Behörden (einschließlich der Verwaltungsstufe) als auch das Verwaltungsverfahren bestimmen (S. 1). Der Bund kann nur in den engen Grenzen der S. 2 bis 7 Bestimmungen erlassen; insbesondere kann er den Gemeinden und Gemeindeverbänden keine Aufgaben durch Gesetz übertragen (S. 7). Grund ist die durch Art. 28 Abs. 2 GG verbürgte Selbstverwaltungsgarantie der Kommunen.5 Der Gesetzgeber darf nicht nur den Kernbereich der Selbstverwaltung nicht antasten, sondern muss den verfassungsgewollten prinzipiellen Vorrang einer dezentralen, also gemeindlichen, vor einer zentral und damit staatlich determinierten Aufgabenwahrnehmung berücksichtigen. „Inhaltliche Vorgaben bedürfen damit eines gemeinwohlorientierten rechtfertigenden Grundes, insbesondere etwa durch das Ziel, eine ordnungsgemäße Aufgabenwahrnehmung sicherzustellen. Sie sind zu beschränken auf dasjenige, was der Gesetzgeber zur Wahrung des jeweiligen Gemeinwohlbelangs für erforderlich halten kann, wobei er angesichts der unterschiedlichen Ausdehnung, Einwohnerzahl und Struktur der Gemeinden typisieren darf und auch im Übrigen einen grundsätzlich weiten Einschätzungsund Beurteilungsspielraum hat […].“6 Diejenigen sozialen Versicherungsträger, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt, werden als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts geführt (Art. 87 Abs. 2 S. 1 GG). Allerdings dürfen soziale Versicherungsträger, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes, aber nicht über mehr als drei Länder hinaus erstreckt, als landesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes geführt werden, wenn das aufsichtsführende Land durch die beteiligten Länder bestimmt ist (Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG). Art. 91e GG sieht seit 2010 eine gemeinschaftliche Aufgabenerfüllung von Bund und Ländern für die Grundsicherung für Arbeitssuchende vor. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, Art. 91e Abs. 3 GG. Die Art. 83 ff. und 91a ff. GG regeln auch weitere Formen des Zusammenwirkens von Bund und Ländern bei der Verwaltung. Es gibt daher nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz, wonach Verwaltungsaufgaben ausschließlich vom Bund oder von den Ländern wahrzunehmen sind, sofern nicht ausdrückliche verfassungsrechtliche Regeln etwas anderes zulassen. Insofern bedürfe ein Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern nicht in jedem Fall einer besonderen verfassungsrechtlichen Ermächtigung.7 Im Rahmen der Kompetenzordnung der Art. 83 ff. GG gilt allerdings der Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung, nach dem Verwaltungsträger die ihnen zugewiesenen Aufgaben durch eigene Verwaltungseinrichtungen mit eigenen personellen und sachlichen Mitteln wahrnehmen müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Zuhilfenahme landesbehördlicher Einrichtungen für Zwecke einer verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Bundesverwaltung (Art. 87 GG) daher nur in Ausnahmefällen für eine eng umgrenzte Verwaltungsmaterie als zulässig 5 Zur Diskussion bzgl. der Wahrung der Selbstverwaltungsgarantie bei der Mischverwaltung im Rahmen der Jobcenter vor Einführung des Art. 91e GG vgl. die Nachweise bei Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2018, Art. 91e Rn. 13. 6 BVerfGE 119, 331, 363. 7 BVerfGE 63, 1, 39 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 068/20 Seite 5 angesehen, wenn die nach dem GG zugewiesenen Kompetenzen weder verschoben noch umgangen werden und ein besonderer sachlicher Grund vorliegt.8 Werden in weitem Umfang Mitverwaltungs- und Mitentscheidungsbefugnisse des Bundes im Aufgabenbereich der Länder vorgesehen, widerspreche dies der Kompetenzverteilung des GG.9 Aus diesem Grund konnte die Mischverwaltung von Gemeindeverbänden und der Bundesagentur für Arbeit in den „Arbeitsgemeinschaften“ nur auf Grundlage einer Verfassungsänderung (Art. 91e GG) fortgeführt werden. Das Anliegen, Leistungen „aus einer Hand“ zu gewähren, bildet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allein keinen hinreichenden sachlichen Grund, wenn dieses auch unter Wahrung der Kompetenzordnung erreicht werden kann, etwa indem die Bundeseigenverwaltung nach Art. 87 GG gewählt wird oder der Gesamtvollzug nach der Grundregel des Art. 83 GG insgesamt den Ländern als eigene Angelegenheit überlassen wird.10 Die Frage, ob die Regelung von ausnahmsweise zulässigen Mischverwaltungsformen zwischen Bund und Ländern einer gesetzlichen Grundlage bedarf, hat das Bundesverfassungsgericht zwar als plausibel bezeichnet, letztlich aber offengelassen.11 Die herrschende Meinung in der Literatur fordert dies jedenfalls für die Organleihe.12 Darüber hinaus muss das aus dem Demokratieprinzip und den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und Widerspruchsfreiheit folgende Gebot der Verantwortungsklarheit gewahrt werden.13 2.2. Kooperation zwischen den Ländern Eine Kooperation der Länder untereinander ist nicht generell durch die Art. 83 ff. GG ausgeschlossen oder beschränkt. Art. 87 Abs. 2 S. 2 GG sieht für den Bereich der Sozialversicherung eine gemeinsame Aufgabenwahrnehmung für bis zu drei Bundesländer ohne Beteiligung des Bundes sogar ausdrücklich als Möglichkeit vor. Der Grundsatz der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung gilt auch für die den Bundesländern durch das GG zugewiesenen Aufgaben. Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss zudem gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip wahren, aus denen der Grundsatz der Verantwortungsklarheit abgeleitet wird. Dies könnte für eine Übertragung der unter 2.1. erläuterten Maßstäbe sprechen, 8 BVerfGE 63, 1, 39, 41; 119, 331, 367. 9 BVerfGE 119, 331, 370. 10 BVerfGE 119, 331, 371. 11 BVerfGE 63, 1, 27 f. 12 Gröpl, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, GG Art. 89 Rn. 116; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2018, GG Art. 89 Rn. 28; Sachs, in: ders., GG, 8. Auflage 2018, GG Art. 89 Rn. 40; Umbach/Clemens, in: dies., GG, Bd. 2; 1. Auflage 2002, Art. 83 Rn. 27. 13 BVerfGE 119, 331, 378. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 068/20 Seite 6 sodass eine länderübergreifende gemeinsame Aufgabenwahrnehmung nur ausnahmsweise auch ohne Verfassungsänderung14 durch Gesetz zugelassen werden könnte, wenn diese eine eng begrenzte Verwaltungsmaterie betrifft und ein besonderer sachlicher Grund dies rechtfertigt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage bislang nicht entschieden. Die Verfassungsgerichte der Bundesländer und die Literatur bewerten die Frage, ob eine Verletzung des Demokratieprinzips vorliegt, unterschiedlich, vgl. dazu die Ausführungen in der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste zu „Fragen zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Glücksspielwesen und zur Verletzung des Demokratieprinzips durch das Glücksspielkollegium“, WD 3 - 3000 - 239/19 (S. 8 ff.).15 Insbesondere wird vertreten, dass die Einführung einer „dritten Ebene“ durch eine Kooperation aller Bundesländer in einem gemeinschaftlichen Organ der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes widerspreche.16 Die Befugnis des Bundesgesetzgebers zur Regelung solcher Zusammenarbeitsformen zwischen den Bundesländern ist verfassungsrechtlich durch Art. 84 Abs. 1 GG begrenzt: Die Organisationsgewalt obliegt eigenständig den Ländern (S. 1). Sofern Bundesgesetze die Einrichtung von Behörden und das Verwaltungsverfahren bestimmen, können die Länder davon abweichende Regelungen treffen (S. 2). Diese gehen dem abweichenden Bundesrecht vor (S. 4 i.V.m. Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG). Der Bund kann in Ausnahmefällen wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung nur das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder regeln (S. 5 und 6); nicht aber die Einrichtung von (gemeinsamen) Behörden (mehrerer Bundesländer). 2.3. Kooperation von Kommunen und Landesverwaltung Im Bereich der landeseigenen Verwaltung könnte eine gemeinsame Aufgabenwahrnehmung von Kommunen und Landesverwaltung (ohne Beteiligung der Bundesverwaltung) durch Bundesgesetz 17 ebenfalls nur unter den Voraussetzungen des Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG etabliert werden. Voraussetzung wäre die Wahrung der Selbstverwaltungsgarantie18 des Art. 28 Abs. 2 GG und des Grundsatzes der Verantwortungsklarheit19. *** 14 Strittig ist, ob die Regelung im Grundgesetz erfolgen könnte oder den Landesverfassungen vorbehalten wäre, vgl. Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2018, Art. 83 Rn. 53. 15 Abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/678424/fd036c165c3ce64518544a430f4d1d20/WD-3- 239-19-pdf-data.pdf. 16 VGH Kassel Beschluss vom 16. Oktober 2015 – 8 B 1028/15, NVwZ 2016, 171 ff. (172 Rn. 36). 17 BVerfGE 119, 331, 363; siehe zu den Einzelheiten Punkt 2.1., S. 4. 18 Schulz (Fn. 1), 1033; Ritgen, Selbstverwaltungsgarantie und Mischverwaltungsverbot als Schranken der Organisationsgewalt des Bundes, NdsVBl 2008, 185, 187 f. 19 Schliesky, Von der organischen Verwaltung Lorenz von Steins zur Netzwerkverwaltung im Europäischen Verwaltungsverbund, DÖV 2009, 641, 645.