© 2014 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 067/14 Der Übergang der Krim von der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik im Jahr 1954 Bedeutung für das Staatsgebiet der Ukraine Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 067/14 Seite 2 Sowjetrepublik im Jahr 1954 Bedeutung für das Staatsgebiet der Ukraine Verfasserin: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 067/14 Abschluss der Arbeit: 2. April 2014 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 067/14 Seite 3 1. Einleitung Am 16. März 2014 haben die Bewohner der Krim in einem Referendum über den Anschluss der Krim an die Russische Föderation entschieden. Das Referendum wird von vielen Staaten nicht anerkannt, da es nicht mit der Verfassung der Ukraine im Einklang stehe und völkerrechtswidrig sei.1 Am 18. März 2014 erkannte die Russische Föderation die sogenannte Unabhängigkeit der Krim an und schloss einen Vertrag zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation, der zum 21. März vollzogen wurde. Der Präsident der Russischen Föderation, Vladimir Putin, erklärte in einer Ansprache vor beiden Häusern des russischen Parlaments, die Entscheidung unter Nikita Chruschtschow, die Krim 1954 der damaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (Ukrainische SSR) zuzuschlagen, sei verfassungswidrig gewesen.2 Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) und die Ukrainische SSR waren Gliedstaaten der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Sowjetunion – UdSSR) mit jeweils eigenen Verfassungen. Die Ukraine und die Russische Föderation sind nach dem Staatenzerfall der UdSSR Rechtsnachfolger der Ukrainischen SSR und der RSFSR. Sowohl in der UdSSR als auch in ihren Gliedstaaten war jeweils der Oberste Sowjet das oberste gesetzgebende Staatsorgan, das ein Präsidium wählte. Im Folgenden soll die Frage geprüft werden, in welcher Weise die Krim auf die Ukrainische SSR übertragen wurde und ob ein möglicher damaliger Rechtsverstoß Auswirkungen auf die Gültigkeit der Grenzen der Ukraine im Jahr 2014 hätte. Der Ausarbeitung werden der Text der Verfassung der UdSSR sowie öffentlich zugängliche Quellen zugrundegelegt. Die Verfassung der Ukrainischen SSR von 1937 war nicht zugänglich. Innerhalb der letztlich vorentscheidenden Parteistrukturen wie dem Zentralkomitee der KPdSU wurde über die Frage der Gebietsübertragung wohl nicht diskutiert.3 Für die politischen Hintergründe der Gebietsübertragung auf die Ukraine – vielfach als „Geschenk“ Chruschtschows bezeichnet – kann auf umfängliche Literatur verwiesen werden.4 Die politischen Beweggründe der Handelnden berühren jedoch nicht die formelle Verfassungsmäßigkeit der Gebietsübertragung, sondern stellen allenfalls deren Legitimität in Frage. Aufgrund der schwierigen Quellenlage und der Kürze der zur Bearbeitung zur Verfügung stehenden Zeit kann es sich nur um eine vorläufige Einschätzung der Rechtslage handeln. 1 Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen A/68 L 39, am 27. März 2014 mit 100 gegen 11 Stimmen bei 58 Enthaltungen angenommen, im Internet abrufbar unter: http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/ N14/273/44/PDF/N1427344.pdf?OpenElement. http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/ Aktuelle_Artikel/Ukraine/140321_Kiew-Donezk.html?nn=338460; für Deutschland die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Merkel am 20. März 2014, Pl.Pr. 18/23, S. 1755 B. 2 FAZ vom 19. März 2014, S. 2. 3 Hierzu Sasse, The Crimea Question, 2007, S. 107. 4 S. Sasse, Die Krim – regionale Autonomie in der Ukraine, Berichte des BIOST 31-1998, S. 8 f.; dies. (Fn. 3), S. 107 - 114; Maurach, Handbuch der Sowjetverfassung, 1955, Erl. 3 zu Art. 23; Solchanyk, Ukraine and Russia: The Post- Soviet Transition, 2001, 165. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 067/14 Seite 4 2. Übergang der Krim von der RSFSR auf die Ukrainische SSR im Jahr 1954 Am 19. Februar 1954 beriet das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR über die Übertragung des Gebiets der Krim (Krim Oblast‘) von der RSFSR an die Ukrainische SSR.5 Die Beratungen beruhten auf einer gemeinsamen Vorlage des Obersten Sowjets der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) und der Ukrainischen SSR. Das Präsidium des Obersten Sowjets der RSFSR hatte am 5. Februar 1954 unter Beteiligung des Exekutivausschusses des Krim Oblast‘ und des Sowjets der Deputierten der Werktätigen der Stadt Sewastopol auf Vorschlag des Rates der Volkskommissare der RSFSR die Übertragung der Krim an die Ukrainische SSR beschlossen. Dies erfolgte im Einvernehmen mit dem Präsidium des Obersten Sowjets der Ukrainischen SSR. Zur Wirksamkeit der Gebietsübertragung sollte die Zustimmung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR eingeholt werden. Dieser stimmte nach kurzer Diskussion einstimmig zu. Das diesen Beschluss nachvollziehende verfassungsändernde Gesetz wurde am 26. April 1954 verabschiedet.6 Am 19. Februar 1954 galt die Verfassung der UdSSR vom 5. Dezember 1936 (Verf SU 1936)7. Die zahlreichen Änderungen der Verfassung seit ihrem Inkrafttreten bis zum Februar 1954 betreffen nicht die hier zu prüfende Frage. Artikel 18 Verf SU 1936 stellte klar, dass das Gebiet der Unionsrepubliken nicht ohne deren Zustimmung geändert werden konnte. Voraussetzung ist daher zunächst die Zustimmung der betroffenen Unionsrepubliken. Gemäß Art. 16 der Verfassung der RSFSR von 19378 durfte das Staatsgebiet der RSFSR nur mit ihrer Zustimmung geändert werden. Eine explizite Regelung zur Gebietsänderung sieht die Verfassung der RSFSR nicht vor. Zur Kompetenz der Obersten Staatsorgane der RSFSR gehörten gemäß Art. 19 lit. c mit Bestätigung des Obersten Sowjets der UdSSR die Bestätigung neuer Gebiete und Regionen sowie neuer autonomer Republiken und autonomer Gebiete der RSFSR sowie die Festsetzung der Grenzen des Territoriums der jeweiligen Untergliederungen (Art. 19 lit. d und e Verf RSFSR). Zwar regelt diese Bestimmung nicht ausdrücklich die Ausgliederung von Gebieten und Eingliederung in andere Sowjetrepubliken; wenn aber bereits die Aufnahme neuer Gebiete der Zustimmung des Obersten Sowjets bedurfte, könnte diese Bestimmung erst recht auf deren Ausgliederung Anwendung finden (a fortiori-Schluss). Wie auch auf Unionsebene war der Oberste Sowjet das oberste Staatsorgan (Art. 23), das Präsidium des Obersten Sowjets konnte allerdings ebenfalls Ukase mit materieller Gesetzeskraft erlassen (Art. 33 lit. b). Entspre- 5 Protokoll der Sitzung mit Beschluss GARF. F.7523. Op.57. D.963, L1-10, veröffentlicht in "Istoricheskii arkhiv", issue 1, vol. 1 (1992), auf englisch im Internet abrufbar unter: http://digitalarchive.wilsoncenter.org/document/119638 (letzter Abruf für alle Internet-Seiten: 1. April 2014). 6 Zakon SSSR „О peredatsche Krimskoij oblasti is sostawa RSFSR w sostaw Ukrainskoij SSR“, russische Fundstelle unter: http://constitution.garant.ru/history/ussr-rsfsr/1936/zakony/3946680/. 7 Izvestija CIK SSSR i VCIK 1936, S. 283; Deutsch in der Fassung von 1941 in Dennnewitz und Meißner, die Verfassungen der modernen Staaten, 1947, S. 191 - 214; in der Fassung vom Februar 1955 (in denen die einschlägigen Artikel nicht geändert wurden) in Maurach, Handbuch der Sowjetverfassung, 1955. Im Internet mit der Änderungshistorie abrufbar unter: http://www.verfassungen.net/su/udssr36-index.htm. 8 Mit Änderungshistorie auf Deutsch im Internet abrufbar unter: http://www.verfassungen.net/rus/verf37-i.htm. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 067/14 Seite 5 chend wäre wohl ein Beschluss des Obersten Sowjets der RSFSR auf Ausgliederung eines Gebietsteils zunächst formell rechtmäßig zustande gekommen. Die Verfassung der Ukrainischen SSR von 1937 ist nicht zugänglich. Allerdings forderte Art. 16 Verf SU 1936 die volle Übereinstimmung der Verfassungen der Republiken mit der Bundesverfassung .9 Dementsprechend können die Ausführungen zur Rechtslage nach der Verfassung der RSFSR auch auf die Rechtslage in der Ukrainischen SSR übertragen werden, so dass der Beschluss des Obersten Sowjets der Ukrainischen SSR formell wohl verfassungsgemäß zustande gekommen wäre. Nach Art. 14 Ziff. 5 Verf SU 1936 oblag der Union die Bestätigung der Änderung der Grenzen zwischen den Unionsrepubliken. Für die Art und Weise der Zustimmung des Bundes gab es keine ausdrückliche Regelung. Zwar wurde nach der Verfassung die gesetzgebende Gewalt ausschließlich durch den nur unregelmäßig tagenden Obersten Sowjet ausgeübt (Art. 32 Verf SU 1936); dieses Gesetzgebungsmonopol hatte jedoch nur formale und keine materielle Bedeutung.10 So konnte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR gemäß Art. 49 Nr. 2 Verf SU 1936 Erlasse (Ukazy) annehmen, die sowohl Rechtsverordnungen, die inhaltlich als vollwertige Gesetze anzusehen waren, als auch individuelle Verfügungen sein konnten.11 Bei dem veröffentlichten Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets handelt es sich wohl um eine individuelle Verfügung, die sich im Rahmen der Verfassung hielt. Es wird eingewandt, dass die Verfassung der RSFSR in Art. 19 die Zustimmung des Obersten Sowjets der UdSSR vorsieht, die im Fall der Krim nicht erteilt worden sei.12 So hat das russische Parlament am 21. Mai 1992 eine Resolution verabschiedet, in der die Übergabe der Krim an die Ukraine 1954 als nicht im Einklang mit der Verfassung der RSFSR und der ordnungsgemäßen Gesetzgebung stehend bezeichnet wurde.13 Allerdings wurde die Verfassung der UdSSR mit dem Gesetz vom 25. April 1954 geändert; die Änderung der Verfassung bedurfte gemäß Art. 146 Verf SU 1936 der Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder jeder Kammer des Obersten Sowjets. Entsprechend hätte der Oberste Sowjet der UdSSR spätestens mit Annahme des verfassungsändernden Gesetzes die notwenige Zustimmung erteilt. Nach den vorliegenden Quellen scheint die Übertragung des Gebietes der Krim an die Ukrainische SSR formell verfassungsgemäß erfolgt zu sein. 9 S. hierzu Maurach (Fn. 7), Erl. zu Art. 16. 10 Maurach (Fn. 7), Erl. 2 zu Art. 32. 11 Maurach (Fn. 7), Erl. zu Ziff. 2, Art. 49. 12 So der Vorsitzende des Komitees für internationale Angelegenheiten des Obersten Sowjets Russlands, Ambarzumow, 1992, zitiert nach Malek, Die Krim im russisch-ukrainischen Spannungsfeld, osteuropa 1993, 551 (557); Wyschnijakow, Pressekonferenz am 5. Juni 1995, abgedruckt in: Brzezinski/Sullivan, Russia and the Commonwealth of Independent States: Documents, Data and Analysis, 1997, S. 282 ff.; Sasse (Fn. 3), S. 112. 13 Zitiert nach Malek (Fn. 12), S. 557. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 067/14 Seite 6 3. Auswirkungen eines möglichen Rechtsverstoßes bei der Übertragung der Krim auf die Ukrainische SSR im Jahr 1954 auf den Bestand des Staatsgebietes der Ukraine im Jahr 2014 Wenn die Krim nicht gemäß den verfassungsrechtlichen Bestimmungen von der RSFSR auf die Ukrainische SSR übertragen worden wäre, stellt sich die Frage nach den Auswirkungen auf die Grenzen des Staatsgebietes der Ukraine im Jahr 2014. Mit der Erklärung von Alma-Ata vom 21. Dezember 1991 und der Bestätigung der Auflösung der UdSSR durch den Republikenrat des Obersten Sowjets der UdSSR am 26. Dezember 199114 löste sich die UdSSR auf. Zuvor hatte sich die RSFSR am 12. Juni 1990 innerhalb der UdSSR für souverän erklärt, die Ukrainische SSR am 16. Juli 1990. Bereits am 19. November 1990 schlossen beide Parteien einen Vertrag, in dessen Artikel 6 sie die territoriale Souveränität der Republiken in den damaligen Grenzen der UdSSR anerkannten.15 Dieser Vertrag wurde mit dem Vertrag von Dagomys – einem Abkommen zwischen den nunmehr unabhängigen Staaten Ukraine und Russische Föderation über die Weiterentwicklung der zwischenstaatlichen rechtlichen Beziehungen – vom 23. Juni 1992 bestätigt.16 Vorausgegangen war ein Konflikt um den Status der Krim, in dessen Verlauf das Parlament der RSFSR die Rechtmäßigkeit der Übertragung der Krim auf die Ukrainische SSR im Jahr 1954 in Frage stellte, das Parlament der Krim deren Unabhängigkeit von der Ukraine zumindest erwog und auch die Jurisdiktion über die Schwarzmeerflotte zwischen der RSFSR und der Ukraine strittig wurde.17 In Artikel 1 des Budapest Memorandum „On Security Assurances in Connection with Ukraine’s Accession to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons” vom 5. Dezember 199418 verpflichtete sich unter anderem die Russische Föderation, die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine und ihre bestehenden Grenzen anzuerkennen. Die bestehenden Grenzen wurden ferner in Artikel 2 des Freundschaftsvertrages beider Staaten vom 31.Mai 1997 als unverrückbar bestätigt.19 14 Dokumente auf Deutsch abgedruckt in Frenzke, Rechtliche Dokumente zum Moskauer Putsch und zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, OER 1992, S. 96 - 125. 15 UNTS Vol. 1641, 1-28208, (englische Übersetzung auf S. 228). 16 UNTS Vol. 2382, 1-42950. 17 Im Einzelnen Malek, Die Krim im russisch-ukrainischen Spannungsfeld, osteuropa 1993, 551 ff. 18 Generalversammlung der VN und Sicherheitsrat – Dokument A/49/765. 19 Englischer Text abrufbar unter: http://archive.org/stream/russianukrainian00stew#page/69/mode/1up. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 067/14 Seite 7 Diese völkerrechtlichen Verträge bestätigten den wohl auch als Völkergewohnheitsrecht anerkannten Grundsatz des uti possidetis20, dem zufolge zumindest bei Dekolonialisierungsprozessen die entstehenden Staaten in den Grenzen der Kolonialgebiets- und Verwaltungsgrenzen folgten. Selbst wenn man von der formellen Rechtswidrigkeit der Übertragung der Krim von der RSFSR auf die Ukrainische SSR im Jahre 1954 ausgeht, hätte die RSFSR und ihr Rechtsnachfolger Russische Föderation durch völkerrechtliche Verträge die daraus hervorgegangenen Grenzen der Ukraine, die das Gebiet der Krim umschlossen, anerkannt. Ob dieses Vorgehen völkerrechtlich als Ersitzung oder als Zession anzusehen wäre,21 kann dahingestellt bleiben. Die Krim gehörte im März 2014 demnach zum Staatsgebiet der Ukraine. 20 Schweisfurth, Völkerrecht, 2006, 9. Kapitel Rn. 21 f. m.w.N. 21 Zu diesen Gebietserwerbstiteln s. Schweisfurth (Fn. 20), 9. Kapitel Rn. 40 f.; 47 ff.