Kriterien für die Anerkennung nationaler Minderheiten - Ausarbeitung - © 2009 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 -067/09 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasserin: Kriterien für die Anerkennung nationaler Minderheiten Ausarbeitung WD 3 - 3000 -067/09 Abschluss der Arbeit: 24. März 2009 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. - 3 - 1. Kriterien für die Anerkennung nationaler Minderheiten Die Bundesregierung sieht Gruppen der Bevölkerung als nationale Minderheiten an, die folgenden 5 Kriterien entsprechen1: Ihre Angehörigen sind deutsche Staatsangehörige, sie unterscheiden sich vom Mehrheitsvolk durch eigene Sprache, Kultur und Geschichte , also eigene Identität, sie wollen diese Identität bewahren, sie sind traditionell in Deutschland heimisch, sie leben hier in angestammten Siedlungsgebieten. Diese Kriterien werden von der dänischen Minderheit, die im Landesteil Schleswig des Landes Schleswig-Holstein lebt, erfüllt. Sie werden ebenso erfüllt vom sorbischen Volk, das im Nordosten des Freistaats Sachsen und im Südosten des Landes Brandenburg heimisch ist. Die Friesen im Nordwesten der Länder Schleswig-Holstein und in Niedersachsen leben ebenso wie die Dänen und Sorben in angestammten Siedlungsgebieten. Die Mehrheit der Friesen betrachtet sich nicht als nationale Minderheit, sondern als Volksgruppe im deutschen Volk mit besonderer Sprache, Herkunft und Kultur. Die deutschen Sinti und Roma sind ebenso eine Volksgruppe, die traditionell in Deutschland heimisch ist. Sie leben aber nicht in einem oder mehreren angestammten Siedlungsgebieten , sondern nahezu in ganz Deutschland, meist in kleinerer Zahl. Wie die Dänen und die Sorben wollen auch diese Volksgruppen ihre eigene Identität erhalten. Sie erwarten und erhalten hierfür staatlichen Schutz und staatliche Förderung.2 Die Landesverfassung von Schleswig-Holstein schütz in Art. 5 das freie Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit. Auf der Internetseite des Landtages von Schleswig- Holstein heißt es: „Eine Minderheit oder Volksgruppe ist eine gegenüber der Mehrheitsbevölkerung eines Staates zahlenmäßig unterlegene Gruppe von Menschen, die ebenfalls Bürger und Bürgerin dieses Staates sind, jedoch keine dominante Stellung einnehmen. Sie weisen in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht Merkmale auf, die sie von der übrigen Bevölkerung unterscheiden. Minderheiten bewahren innerhalb der Mehrheit die eigene Kultur, Tradition, Religion oder Sprache und damit ihre Identität .3 1 Entwurf eines Gesetzes zu dem Rahmenübereinkommen des Europarats vom 1.2.1995 zum Schutz nationaler Minderheiten, BT-Drucksache 13/6912 vom 11.2.1997, S. 21. 2 Erklärung der Bundesrepublik Deutschland bei der Zeichnung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten am 11.5.1995 (Anlage zum Gesetz zu dem Rahmenübereinkommen des Europarats vom 1.2.1995 zum Schutz nationaler Minderheiten v. 22.7.1997 ). 3 www.landtag.ltsh.de/parlament/minderheitenpolitik, aufgerufen am 23. März 2009. - 4 - 2. Überprüfung der Kriterien Das Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit ist frei und wird von keiner Stelle in Frage gestellt oder überprüft. Das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten4 bestimmt in Art. 3 Absatz 1: „Jede Person, die einer nationalen Minderheit angehört, hat das Recht, frei zu entscheiden , ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht, aus dieser Entscheidung oder der Ausübung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechte dürfen ihr keine Nachteile erwachsen.“ Es werden keine Zahlen auf ethnischer Basis zur Größenordnung nationaler Minderheiten erhoben. Die Angaben zur Zahl der Angehörigen der nationalen Minderheit beruhen auf Schätzungen. Die dänische Minderheit wird auf etwa 50.000, die Sorben auf etwa 60.000, die in Deutschland lebenden Friesen auf etwa 50.000 bis 60.000, die Zahl der in Deutschland lebenden Sinti und Roma auf ca. 70.000 Personen geschätzt.5 Der Beratende Ausschuss des Europarates für das Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten hat in seiner Stellungnahme zu Deutschland betont, dass nach Art. 3 des Übereinkommens jede Person, die einer nationalen Minderheit angehört, das Recht hat, frei zu entscheiden, ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht.6 Des Weiteren wird vertreten, dass die Einbeziehung von Angehörigen anderer Gruppen , sowohl von Staatsbürgern als auch von Ausländern, in die Anwendung des Rahmenübereinkommens in Erwägung gezogen werden könnte. Die deutschen Behörden sollten diese Frage im Einvernehmen mit den Betroffenen zu gegebener Zeit in Zukunft prüfen.7 Der Ausschuss stellt fest, dass die deutschen Bundesländer die Erwähnung ethnischer Merkmale in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren grundsätzlich eingestellt haben. 3. Anerkennung als Partei einer nationalen Minderheit Für die Anerkennung als Partei einer nationalen Minderheit müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein.8 Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) ist bislang die einzig anerkannte Partei einer nationalen Minderheit auf die die Sondervorschriften des Bun- 4 BGBL. II 1997, S. 1406. 5 Nationale Minderheiten, in: www.bmi.bund.de, aufgerufen am 23. März 2009. 6 Dokumente des Ministerkomitees des Europarates, CM (2002)43; Stellungnahme zu Deutschland, verabschiedet am 1. März 2002, Rn. 18. In: www.bmi.de, aufgerufen am 18. März 2009. 7 Dokumente des Ministerkomitees des Europarates, CM (2002)43; Stellungnahme zu Deutschland, verabschiedet am 1. März 2002, Rn. 18. In: www:bmi.de. 8 Vgl. Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste vom 19. Februar 2009, 51/91 „Ausnahmeregelungen für Parteien nationaler Minderheiten“. - 5 - deswahlgesetzes Anwendung finden.9 So käme beispielsweise einer Partei, die Türken mit deutscher Staatsangehörigkeit vertreten würde das Minderheitenprivileg nicht zugute , da dieser Personenkreis nicht als in Deutschland traditionell heimisch und hier in angestammten Siedlungsgebieten lebend angesehen wird.10 In einem Rechtsgutachten für den Landtag von Schleswig-Holstein hat Bodo Pieroth in Bezug auf die Partei der dänischen Minderheit zur Frage Stellung genommen, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um als Partei den Minderheitenstatus nach dem Landeswahlrecht von Schleswig-Holstein zu bekommen. 11 Danach zeichne sich die nationale Minderheit der Dänen dadurch aus, dass ihre Angehörigen in einem anderen Staat, nämlich Dänemark, die staatstragende Nation darstellen. Im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Volkszugehörigen nach Art. 116 GG müssen sich Angehörige einer nationalen Minderheit durch eine fremde, hier also dänische, Volkszugehörigkeit auszeichnen . Angehörige der dänischen Minderheit müssen sich von der übrigen Bevölkerung unterscheiden, etwa durch Abstammung, Sprache und Kultur. Hinzukommen muss in subjektiver Hinsicht ein Bewusstsein und ein Bekenntnis, zur dänischen Minderheit zu gehören. Nach Pieroth ist das entscheidende Kriterium das Bekenntnis zum dänischen Volkstum. Vorrangig hänge die Zugehörigkeit von dem entsprechenden Willen einer Person ab, objektive Kriterien können allenfalls als Korrektiv eingesetzt werden.12 Aus der Entstehungsgeschichte könne abgeleitet werden, dass das Kriterium der Abstammung nicht maßgeblich sein sollte.13 4. Parteien nationaler Minderheiten Was unter dem Begriff „Parteien nationaler Minderheiten“ zu verstehen ist, ist in Rechtsprechung und Literatur weitgehend ungeklärt. Von der Ausnahmeregelung des § 6 Abs. 6 Satz 2 BWahlG seien nur die originären Minderheitenparteien erfasst, nicht aber solche Parteien, die sich die Vertretung mehrerer etwa vorhandener Minderheiten zum Ziel gesetzt haben.14 Es genügt nicht, dass sich die betreffende Partei für die Interessen und Ziele einer Minderheit einsetzt, sie müsse vielmehr aus der Minderheit 9 Koch, Thorsten, in: Ipsen, Parteiengesetz, Kommentar, München 2008, § 18 PartG, Rn. 27. 10 Schreiber, Wolfgang, Handbuch des Wahlrecht zum Deutschen Bundestag, 7. Auflage 2002, § 6 Rn. 23. 11 „Der Begriff der Partei der dänischen Minderheit und die Verfassungsmäßigkeit ihrer Privilegien im Schleswig-Holsteinischen Landeswahlrecht“, Rechtsgutachten von Bode Pieroth vom 23.12.2000, Schleswig-Holstein-Landtag Umdruck 15/0634. 12 Gutachten Pieroth, S. 11. 13 Nach 1945 hatte es in Südschleswig eine „neudänische“ Bewegung gegeben, in der sich aus wirtschaftlichen Gründen Menschen, die keinerlei Bindung zu Dänemark, seiner Kultur und Sprache hatten, zum dänischen Volkstum bekannt. Dadurch erhielten auch politische Vereinigungen der dänischen Minderheit großen Zulauf. Gutachten Pieroth S. 11. 14 Seifert, Karl-Heinz, Bundeswahlrecht 1976, § 6 BWG, Rn. 28. - 6 - hervorgegangen sein und sie auch vertreten.15 Entscheidender Leitgedanke bei der Auslegung sollte nach Pieroth sein, dass sich eine Partei einer nationalen Minderheit strukturell deutlich von anderen Parteien unterscheidet. Da es sich um Ausnahmebestimmungen handelt, könne es nicht allein auf das Selbstverständnis einer Partei ankommen. Maßgeblich sei das Gesamtbild einer Partei, wie es sich bei objektiver Betrachtungsweise aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände darstellt. Daher müssten weitere 5 Kriterien von einer Minderheitenpartei erfüllt sein: 1. Vertretung von Zielen und Interessen der Minderheit 2. Historische Verwurzelung in der entsprechenden Minderheit 3. Mehrheit der Parteimitglieder und Mitglieder des Vorstandes in ihrer Mehrheit sind Angehörige der entsprechenden Minderheit 4. Bekenntnis zur entsprechenden Minderheit 5. Organisatorische Verankerung in der entsprechenden Minderheit. Pieroth sieht die Identität einer Minderheitenpartei nicht dadurch gefährdet, dass die Partei erheblichen Zuspruch von Wählern bekommt, die keinerlei Bezug zur entsprechenden Minderheit haben. Die Frage, ob es sich um eine Partei einer nationalen Minderheit handelt, beantworte sich durch Kriterien, die dem Wahlvorgang voraus lägen und ihren Grund im Selbstverständnis und Auftreten der Partei selbst hätten. Das Bundesverfassungsgericht hat zur Rechtfertigung des Minderheitenprivilegs im Bundeswahlrecht auf die Bedeutung einer Minderheitenpartei abgestellt, die außerhalb des Wahlvorgangs liegt.16 So ist die Lage einer nationalen Minderheit innerstaatlich insofern außergewöhnlich, als dass Völkerrecht und unter Umständen der fremde Staat, zu dessen Volkstum die Minderheit gehört, Interesse an ihrem Status haben. Diese rechtlich wie politisch besonderen Umstände rechtfertigen die wahlrechtliche Sonderstellung .17 Selbst wenn die Minderheitenpartei zu allgemeinpolitischen Themen Stellung nehme, sieht Pieroth damit noch nicht ihre Privilegierung in Gefahr, solange sie die verbleibenden Minderheiteninteressen vertrete und sich nach wie vor zur Minderheit bekenne. Pieroth stellt jedoch die Identität einer Minderheitenpartei dann in Frage, wenn sich die nicht der entsprechenden Minderheit angehörigen Wähler aktiv in der Minderheitenpartei engagieren und sich die Minderheitenpartei für Mitglieder öffnet, 15 Kühn, Angelika, „Die Privilegierung nationaler Minderheiten im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland und Schleswig-Holsteins, 1990. 16 BVerfGE 6, 84 (98). 17 Schreiber, Wolfgang, Handbuch des Wahlrecht zum Deutschen Bundestag, 7. Auflage 2002, § 6 Rn. 24. - 7 - die außerhalb der entsprechenden Minderheit stehen. 18 Eine Partei einer nationalen Minderheit müsse, um ihren Sonderstatus nicht zu verlieren, mehrheitlich von Angehörigen der Minderheit gebildet und bestimmt werden. 5. Nachweis der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit Das Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit ist frei und wird von keiner Stelle in Frage gestellt oder überprüft. Bereits die 1949 verabschiedete schleswig-Holsteinische Landessatzung enthielt das Prinzip der Bekenntnisfreiheit. Dieses Prinzip fand auch Eingang in die „Bonn-Kopenhagen-Erklärungen von 1955“, die bis heute Basis für die Arbeit der Minderheiten in beiden Ländern ist.19 18 Gutachten Pieroth, S. 27. 19 www.landtag.ltsh.de/parlament/minderheitenpolitik.