© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 066/19 Staatliche Mittel im Wahlkampf Aktualisierung der Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 010/09 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 066/19 Seite 2 Staatliche Mittel im Wahlkampf Aktualisierung der Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 010/09 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 066/19 Abschluss der Arbeit: 20. März 2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 066/19 Seite 3 1. Einleitung Die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Staatliche Mittel im Wahlkampf. Politisches Mäßigungsgebot für Beamte, WD 3 - 3000 - 010/09, befasst sich mit der Frage, ob und inwiefern staatliche Mittel im Wahlkampf verwendet werden dürfen sowie mit dem politischen Mäßigungsgebot für Beamte. Die folgende Ausarbeitung beschränkt sich auf die Aktualisierung der Ausführungen zur Verwendung staatlicher Mittel im Wahlkampf (Punkt 1. der Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 010/09). Diese wurden um Fundstellennachweise und einige weiterführende Hinweise sowie den Punkt 3. zum Thema „Äußerungen von Regierungsmitgliedern im politischen Meinungskampf“ ergänzt. Zudem wurden unter Punkt 4. zum Thema „Äußerungen des Bundespräsidenten im politischen Meinungskampf “ entsprechende Teile der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Politische Äußerungen von Hoheitsträgern, WD 3 - 3000 - 074/18 übernommen. Im Übrigen sind die Ausführungen unverändert. 2. Staatliche Mittel im Wahlkampf Zulässigkeit, Umfang und Grenzen des Einsatzes staatlicher Mittel im Wahlkampf richten sich nach den Grundsätzen der Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1977.1 In diesem Urteil hat das Gericht allgemeine Grundsätze für die Abgrenzung zulässiger Öffentlichkeitsarbeit von parteiergreifendem Einwirken von Staatsorganen auf Wahlkämpfe entwickelt. 2.1. Verbot der Wahlwerbung durch Regierungen Die Wahlwerbung ist der Regierung in Deutschland untersagt. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dürfen jedoch Regierung und gesetzgebende Körperschaften die für die Bürger erforderlichen Informationen durch Öffentlichkeitsarbeit in gewissem Umfang vermitteln.2 So bleibt es Regierungen auf Bundes- oder Landesebene unbenommen, Vorhaben und die durchgeführten Maßnahmen gegenüber der Öffentlichkeit unter Einsatz staatlicher Mittel darzustellen, soweit es sich hierbei um „sachgerechte, objektiv gehaltene Information“3 handelt. 2.2. Pflicht zur parteipolitischen Neutralität Art. 20 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG) besagt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Dementsprechend findet die politische Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen statt.4 Hieraus folgt für die Regierung die Pflicht zur parteipolitischen Neutralität. Es ist der Regierung verwehrt , in amtlicher Funktion durch besondere Maßnahmen auf die Willensbildung des Volkes 1 BVerfGE 44, 125. 2 Vgl. BVerfGE 44, 125 (147). 3 BVerfGE 44, 125 (148), Hervorhebungen nur hier. 4 Vgl. BVerfGE 44, 125 (140). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 066/19 Seite 4 bei Wahlen einzuwirken.5 Die Öffentlichkeitsarbeit darf nicht durch den Einsatz öffentlicher Mittel den Mehrheitsparteien zu Hilfe kommen oder die Oppositionsparteien bekämpfen.6 Die Staatsorgane haben als solche allen zu dienen und sich im Wahlkampf neutral zu verhalten, um nicht durch Werbung die Entscheidung des Wählers zu beeinflussen und hierdurch die Innehabung von Macht zu perpetuieren.7 Wenn der Staat zugunsten oder zu Lasten bestimmter politischer Parteien oder von Wahlbewerbern Partei ergreift, ist das verfassungsmäßige Recht der davon nachteilig Betroffenen auf Chancengleichheit bei Wahlen verletzt.8 Das Recht auf Chancengleichheit gegenüber der öffentlichen Gewalt gilt nicht nur beim Wahlvorgang selbst, sondern auch schon für die Wahlvorbereitung und die dazu gehörige Wahlwerbung.9 2.3. Abgrenzung zulässiger Öffentlichkeitsarbeit von unzulässiger Wahlwerbung Für die Abgrenzung zulässiger Öffentlichkeitsarbeit von einer parteiergreifenden Einwirkung auf den Wahlkampf gilt zunächst, dass sich die Öffentlichkeitsarbeit im jeweiligen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich halten muss.10 Darüber hinaus „muss sie sich stets der offenen oder versteckten Werbung für einzelne der miteinander konkurrierenden politischen Parteien oder sonstigen an der politischen Meinungsbildung beteiligten Gruppen enthalten.“11 „All dies gilt besonders für Maßnahmen, die – gewollt oder ungewollt – geeignet sind, der Wahlwerbung zu dienen oder den Wahlkampf zu beeinflussen.“12 Die zulässige Öffentlichkeitsarbeit „findet dort ihre Grenze, wo die Wahlwerbung beginnt.“13 Die Wahlwerbung ist der Regierung in jedem Fall untersagt. Anzeichen dafür, dass die Grenze von der erlaubten Öffentlichkeitsarbeit zur verfassungswidrigen, parteiergreifenden Einwirkung auf den Wahlkampf überschritten ist, können sich unter anderem aus dem Inhalt sowie aus der Form und Aufmachung von Anzeigen und Druckschriften ergeben, zum Beispiel dann, wenn der informative Gehalt einer Druckschrift oder Anzeige eindeutig hinter die reklamehafte Aufmachung zurücktritt oder wenn sich im Vorfeld der Wahl regierungsamtliche Anzeigen und Druckschriften häufen, ohne einem von der Sache her gerechtfertigten Informationsbedürfnis des Bürgers zu dienen.14 5 Vgl. BVerfGE 44, 125 Leitsatz 1. 6 Vgl. BVerfGE 44, 125 Leitsatz 1. 7 Vgl. BVerfGE 44, 125 Leitsatz 1. 8 Vgl. BVerfGE 44, 125 Leitsatz 3. 9 Vgl. BVerfGE 44, 125 (146). 10 Vgl. BVerfGE 44, 125 (149). 11 BVerfGE 44, 125 (149). 12 BVerfGE 44, 125 (150). 13 BVerfGE 44, 125 Leitsatz 4, Hervorhebungen nur hier. 14 Vgl. BVerfGE 44, 125 (150 ff., Leitsatz 6 und 7). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 066/19 Seite 5 2.4. Das Gebot äußerster Zurückhaltung der Regierung in zeitlicher Nähe zum Wahltag Jedoch kann im nahen Vorfeld der Wahl auch eine weder ihrem Inhalt nach noch durch ihre Aufmachung sich als Werbemaßnahme darstellende regierungsamtliche sachliche Information über Leistungen und Erfolge dann unzulässig sein, wenn insbesondere Arbeits-, Leistungs- und Erfolgsberichte mit beträchtlichem Aufwand und in erheblicher Menge veröffentlicht werden.15 Aus der Verpflichtung der Regierung, sich jeder parteiergreifenden Einwirkung auf die Wahl zu enthalten, folgt das Gebot äußerster Zurückhaltung und das Verbot jeglicher Öffentlichkeitsarbeit in der eigentlichen Vorwahlzeit.16 Maßgeblich für die rechtliche Betrachtung ist daher, zu welchem Zeitpunkt die Vorwahlzeit beginnt.17 Das Bundesverfassungsgericht will zwar keinen genauen Stichtag festlegen, nennt als Orientierungspunkt für die Bundestagswahl aber den Zeitpunkt, zu dem der Bundespräsident den Wahltag bestimmt.18 „Von diesen Beschränkungen der Öffentlichkeitsarbeit unberührt bleiben dagegen auch im Vorfeld der Wahl [lediglich] informierende, wettbewerbsneutrale Veröffentlichungen, die aus akutem Anlass“19 gerade zu diesem Zeitpunkt geboten sind. 3. Äußerungen von Regierungsmitgliedern zum politischen Meinungskampf Zwar muss nicht nur die Bundesregierung als Ganzes, sondern auch jedes einzelne Regierungsmitglied 20 grundsätzlich sowohl in Wahlkampfzeiten als auch außerhalb davon das Gebot der staatlichen Neutralität beachten.21 Die Beschränkungen staatlicher Mittel im Wahlkampf schließen es jedoch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht gänzlich aus, dass Mitglieder der Regierung in den politischen Meinungskampf und insbesondere in den Wahlkampf eingreifen: „Im Parteienstaat des Grundgesetzes entspricht es der Ratio von Art. 21 GG, dass die Inhaber eines Regierungsamtes einer Partei angehören und in dieser auch Führungsverantwortung wahrnehmen. […] Würde die Übernahme eines Regierungsamtes dazu führen, dass der Amtsinhaber durch die Bindung an das Neutralitätsgebot gehindert wäre, am politischen Wettbewerb teilzunehmen, würde dies zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung der die Regierung tragenden Parteien führen. Parteien, die als Sieger aus einer Wahlauseinandersetzung hervorgegangen sind, würden durch die fehlende Möglichkeit, auf die Mitarbeit der mit Regierungsämtern betrauten Parteimitglieder zurückzugreifen, in ihrem Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb beschränkt. […] 15 Vgl. BVerfGE 44, 125 (152). 16 Vgl. BVerfGE 44, 125 Leitsatz 8. 17 Vgl. BVerfGE 44, 125 (153). 18 Vgl. BVerfGE 44, 125 (153). 19 BVerfGE 44, 125 (153), Hervorhebungen nur hier. 20 BVerfG, NVwZ 2015, 209 (211 Rz. 49) – „Fall Schwesig“. 21 BVerfG, NJW 2018, 928 (Leitsatz 1 und Rz. 46) – „Fall Wanka“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 066/19 Seite 6 Soweit der Inhaber eines Regierungsamtes am politischen Meinungskampf teilnimmt, muss aber sichergestellt sein, dass ein Rückgriff auf die mit dem Regierungsamt verbundenen Mittel und Möglichkeiten unterbleibt. Nimmt das Regierungsmitglied für sein Handeln die Autorität des Amtes oder die damit verbundenen Ressourcen in spezifischer Weise in Anspruch, ist es dem Neutralitätsgebot unterworfen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass beim Handeln des Inhabers eines Ministeramtes eine strikte Trennung der Sphären des ‚Bundesministers‘, des ‚Parteipolitikers‘ und der politisch handelnden ‚Privatperson‘ nicht möglich ist […]. Auch aus Sicht der Bürger wird der Inhaber eines Regierungsamtes regelmäßig in seiner Doppelrolle als Bundesminister und Parteipolitiker wahrgenommen[…]. Eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb findet nur statt, wenn der Inhaber eines Regierungsamtes Möglichkeiten nutzt, die ihm auf Grund seines Regierungsamtes zur Verfügung stehen, während sie den politischen Wettbewerbern verschlossen sind. Dies ist insbesondere gegeben, wenn die Äußerung unter Rückgriff auf die einem Regierungsmitglied zur Verfügung stehenden Ressourcen erfolgt oder eine erkennbare Bezugnahme auf das Regierungsamt vorliegt und damit die Äußerung mit einer aus der Autorität des Amtes fließenden besonderen Gewichtung versehen wird. Ist dies der Fall, unterliegt das Regierungsmitglied der Bindung an das Neutralitätsgebot. Ansonsten ist seine Äußerung dem allgemeinen politischen Wettbewerb zuzurechnen. Ob die Äußerung eines Mitglieds der Bundesregierung unter spezifischer Inanspruchnahme der Autorität des Regierungsamtes oder der mit ihm verbundenen Ressourcen stattgefunden hat, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu bestimmen […].“22 Als Indizien für einen Inanspruchnahme der Autorität des Regierungsamtes oder der mit ihm verbundenen Ressourcen durch eine Äußerung eines Regierungsmitgliedes, sprechen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts insbesondere folgende Umstände: – ausdrückliche Bezugnahme des Regierungsmitglieds auf das ausgeübte Amt; – Gegenstand der Äußerung sind ausschließlich Maßnahmen oder Vorhaben des vom Regierungsmitglied geführten Ministeriums; – amtliche Form der Äußerung des Regierungsmitglieds, etwa in offiziellen Publikationen, Pressemitteilungen23 oder auf Internetseiten24 seines Geschäftsbereichs; 22 BVerfG, NVwZ 2015, 209 (213 Rz. 51 bis 56) – „Fall Schwesig“, Hervorhebungen nur hier. 23 Vgl. dazu BVerfG, NJW 2018, 928 Rz. 66 ff. – „Fall Wanka“: Verletzung des Neutralitätsgebots durch in einer Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter Verwendung des Ministeriumslogos und des Bundesadlers wiedergegebenen Äußerung der damaligen Bundesministerin Johanna Wanka, die sich gegen eine von der AfD veranstaltete Veranstaltung richtete („rote Karte für die AfD“). 24 Offengelassen im Beschluss BVerfG, NVwZ-RR 2019, 89 – „Fall Seehofer“ über einen bereits unzulässigen Antrag der AfD auf vorbeugenden Rechtsschutz gegen Bezeichnung des Agierens der AfD als „staatszersetzend“ durch Horst Seehofer (Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat) in einem als Video auf der Webseite des BMI veröffentlichten Interview; für Verletzung des Neutralitätsgebotes ausdrücklich Hillgruber, JA 2019, 235 (236). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 066/19 Seite 7 – äußere Form der Äußerung, insbesondere Nutzung von Staatssymbolen, Hoheitszeichen oder Amtsräumen; – Nutzung sonstiger sachlicher oder finanzieller Ressourcen für die Äußerung, die Regierungsmitgliedern zur Verfügung stehen und Nicht-Amtsträgern verschlossen sind. Konkret könne bei Äußerungen im Rahmen oder am Rande von Veranstaltungen wie folgt differenziert werden: Das Neutralitätsgebot gelte für Äußerungen im Rahmen einer Veranstaltung, die von der Bundesregierung ausschließlich oder teilweise verantwortet wird oder wenn die Teilnahme eines Bundesministers an einer Veranstaltung ausschließlich auf Grund seines Regierungsamtes erfolgt.25 Jedoch führe der bloße örtliche und zeitliche Zusammenhang mit einer solchen Veranstaltung nicht automatisch dazu, dass das Handeln in amtlicher Funktion bei der Veranstaltung auf ein am Rande geführtes Interview ausstrahle. Vielmehr sei getrennt davon zu beurteilen, ob das Regierungsmitglied im Rahmen der Äußerung selbst sein Amt in spezifischer Weise in Anspruch nimmt.26 Hingegen werde bei schlichter Beteiligung am politischen Wettbewerb im parteipolitischen Kontext etwa im Rahmen von Parteitagen oder vergleichbaren Parteiveranstaltungen auch ein Regierungsmitglied primär als Parteipolitiker wahrgenommen.27 Im Rahmen von Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses (Talkrunden, Diskussionsforen , Interviews) können Regierungsmitglieder sowohl als Amtsträger als auch als Parteipolitiker oder als Privatperson auftreten.28 Dass dabei ein Regierungsmitglied auch seine Amtsbezeichnung verwende, sei noch kein Indiz für die Inanspruchnahme von Amtsautorität, weil staatliche Funktionsträger ihre Amtsbezeichnung auch in außerdienstlichen Zusammenhängen führen dürfen.29 Sofern eine Veranstaltung insbesondere unter Beteiligung einer Mehrzahl von Personen dem themenbezogenen Austausch politischer Argumente und Positionen diene, sei sie vorrangig dem politischen Meinungskampf zuzuordnen.30 Maßgeblich sei, ob das Regierungsmitglied „seine Aussagen in spezifischer Weise mit der Autorität des Regierungsamtes unterlegt. Dies kann im 25 Vgl. BVerfG, NVwZ 2015, 209 (213 Rz. 57) – „Fall Schwesig“. 26 Vgl. BVerfG, NVwZ 2015, 209 (213 Rz. 71) – „Fall Schwesig“: Keine Geltung des Neutralitätsgebots für Äußerungen der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Manuela Schwesig, in einem Interview am Rande der Verleihung des Thüringer Demokratiepreises („[…] Ziel Nummer 1 muss sein, dass die NPD nicht in den Landtag kommt.“). 27 Vgl. BVerfG, NVwZ 2015, 209 (213 Rz. 58) – „Fall Schwesig“. 28 Vgl. BVerfG, NVwZ 2015, 209 (213 Rz. 59) – „Fall Schwesig“. 29 Vgl. BVerfG, NVwZ 2015, 209 (213 Rz. 59 m.w.N.) – „Fall Schwesig“. 30 Vgl. BVerfG, NVwZ 2015, 209 (213 Rz. 59) – „Fall Schwesig“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 066/19 Seite 8 Rahmen derselben Veranstaltung bei einer Mehrzahl von Aussagen in unterschiedlicher Weise der Fall sein.“31 4. Äußerungen des Bundespräsidenten im Wahlkampf Die für Regierungsmitglieder entwickelten Grundsätze seien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf Äußerungen des Bundespräsidenten in Bezug auf politische Parteien übertragbar.32 Bei der Erfüllung seiner Integrationsaufgabe werden ihm weitreichende Freiheiten eingeräumt. Die Gefahr eines unzulässigen Eingriffs in die freie Meinungs- und Willensbildung des Volkes sieht das Gericht hier nicht im gleichen Maß wie bei der Bundesregierung. Der Bundespräsident stehe weder im direkten Wettbewerb mit den politischen Parteien, noch stünden ihm die Mittel der Bundesregierung zur Verfügung. Das Gericht beschränkt daher seinen Prüfungsumfang : „Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, aber auch ausreichend, negative Äußerungen des Bundespräsidenten über eine Partei gerichtlich daraufhin zu überprüfen, ob er mit ihnen unter evidenter Vernachlässigung seiner Integrationsfunktion und damit willkürlich Partei ergriffen hat.“33 Das Urteil wird teilweise wegen des Verweises auf die Wunsiedel-Entscheidung für nicht verallgemeinerbar gehalten.34 Andere Stimmen sehen in den divergierenden Maßstäben die Gefahr einer Politisierung des Amtes des Bundespräsidenten und einer Entpolitisierung der Regierung.35 *** 31 Vgl. BVerfG, NVwZ 2015, 209 (213 Rz. 59) – „Fall Schwesig“. 32 Vgl. BVerfGE 136, 323 (334 ff.) – „Fall Gauck“ und im Umkehrschluss auch BVerfG, NVwZ 2015, 209 (Leitsatz 1) – „Fall Schwesig“. 33 BVerfGE 136, 323 (336) – „Fall Gauck“: zulässige Äußerung („Spinner“) des damaligen Bundespräsident Joachim Gauck in einer Gesprächsrunde mit Berufsschülern auf eine Frage nach einem NPD-Verbot. 34 Barczak, NVwZ 2015, 1014 (1020); vgl. auch Putzer, DÖV 2015, 417 (420 f.). 35 Tanneberger/Nemeczek, NVwZ 2015, 215 (216); vgl. auch Putzer, DÖV 2015, 417 (424); dagegen BVerfG, NJW 2018, 928 (932 Rz. 65) – „Fall Wanka“.