© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 065/21 Einzelfragen zum Diskriminierungsmerkmal „soziale Herkunft“ Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Weiterhin wurde nach Einzelheiten bezüglich der von den Gerichten bzw. der Antidiskriminierungsstelle verwendeten Definition von „soziale Herkunft“ gefragt und ob in diesen Fällen auch weitere Diskriminierungsgründe geltend gemacht wurden. 2. Nationale Rechtsvorschriften 2.1. Verfassung Art. 3 Abs. 3 S. 1 Grundgesetz (GG)1 bestimmt, dass „niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf.“ Unter „Herkunft“ wird hierbei die „ständisch-soziale Abstammung und Verwurzelung“, insbesondere die soziale Stellung der Eltern, nicht aber „die in den eigenen Lebensumständen begründete Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht“ verstanden.2 Das Diskriminierungsverbot wegen der Herkunft dient der sozialen Durchlässigkeit und der Chancengleichheit.3 2.2. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Im § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)4 sind die Diskriminierungsmerkmale der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Identität aufgeführt. Unter dem Merkmal „ethnische Herkunft“ wird eine Benachteiligung auf Grund der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, des nationalen Ursprungs oder des Volkstums (im Sinne des ethnischen Ursprungs) verstanden.5 Das Diskriminierungsmerkmal „soziale Herkunft“ gehört nicht zu den durch das AGG geschützten Diskriminierungsmerkmalen.6 Ein großer Teil der Anfragenden bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gab neben den im AGG erfassten Diskriminierungsgründen auch andere Gründe für 1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in englischer Sprache abrufbar unter: https://www.gesetzeim -internet.de/englisch_gg/index.html. 2 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Auflage 2020, Art. 3 Rn. 143; Nussberger, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 295. 3 Heun, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 3 Rn. 132; Baer/Markard, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 502. 4 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, in englischer Sprache abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet .de/englisch_agg/index.html. 5 BT-Drs. 16/1780, S. 31. 6 Dritter Gemeinsamer Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages, Stand: Juni 2017, S. 65 (abrufbar unter: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/BT_Bericht/gemeinsamer _bericht_dritter_2017.html). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 065/21 Seite 4 die Diskriminierung an, z.B. die Gesundheit, die Herkunft, den Familienstand oder die „soziale Herkunft“.7 Derzeit werden die in § 1 AGG aufgeführten Merkmale als abschließend angesehen.8 3. Rechtsprechung Es gibt vor allem drei höchstrichterliche Entscheidungen, die sich mit der Bedeutung des Herkunftsbegriffs aus Art. 3 Abs. 3 GG befassen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 25.05.1956 - 1 BvR 83/56 geurteilt, dass es keine Benachteiligung wegen der Heimat oder Herkunft i.S.d. Art. 3 Abs. 3 GG darstellt, wenn ein Deutscher, der nach den in der sowjetischen Besatzungszone geltenden Bestimmungen schon mit 18 Jahren volljährig geworden ist, diesen Status nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik behält.9 Der 18-jährige Beschwerdeführer hat beantragt, die gegen ihn durchgeführte Zwangsvollstreckung aus einem Vollstreckungsbefehl über 740 DM für unzulässig zu erklären, weil eine wirksame Zustellung an ihn aufgrund seiner Minderjährigkeit nicht habe erfolgen können. Nach damaligem Recht war eine Person erst mit der Vollendung des 21. Lebensjahres voll geschäftsfähig. Im Zeitpunkt seines 18. Geburtstags befand sich der Beschwerdeführer in der sowjetischen Besatzungszone und war nach dem dort geltenden Recht volljährig geworden. Nach der Auffassung der Instanzgerichte galt der Beschwerdeführer nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik weiterhin als volljährig und damit als voll geschäftsfähig. Das Bundesverfassungsgericht sah eine Benachteiligung wegen seiner Herkunft i.S.d. Art. 3 Abs. 3 GG gegenüber gleichaltrigen Deutschen in der Bundesrepublik als nicht gegeben an, da die Differenzierungsmerkmale Heimat und Herkunft aus Art. 3 Abs. 3 GG für die Entscheidung der Instanzgerichte nicht maßgeblich war. „Heimat“ beziehe sich auf die örtliche Herkunft nach Geburt oder Ansässigkeit, der Begriff „Herkunft“ darüber hinaus auf die ständisch-soziale Abstammung und Verwurzelung. Im vorliegenden Fall hingegen wurde daran angeknüpft, dass der Beschwerdeführer an seinem 18. Geburtstag einer anderen Rechtsordnung als der Bundesrepublik unterworfen war und dass er nach dieser Rechtsordnung volljährig geworden ist. Das Bundesverfassungsgericht befasste sich in seiner Entscheidung vom 22.01.1959 - 1 BvR 154/55 mit der Frage, ob der Ausschluss der Anwaltsbeiordnung für mittellose Personen vor den Landessozialgerichten eine ungerechtfertigte Benachteiligung von Personen darstellt, die kein Geld für einen Anwalt aufbringen können.10 Dabei wurde festgestellt, dass der vorliegende Fall nicht als Benachteiligung wegen der Herkunft i.S.d. Art. 3 Abs. 3 GG einzustufen sei. Unter Herkunft sei die von den Vorfahren hergeleitete soziale Verwurzelung zu verstehen, nicht die in den eigenen Lebensumständen begründete Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht. Herkunft im Sinne sozialer Abstammung könne zwar einer der Faktoren sein, welche die gegenwärtige Vermögens- und Einkommenslage 7 Fn. 6, S. 122. 8 Horcher, in: BeckOK, BGB, 57. Edition Stand: 01.02.2021, AGG § 1 Rn. 21. 9 BVerfGE 5, 17. 10 BVerfGE 9, 124. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 065/21 Seite 5 beeinflussen; das aber reiche nicht aus, um die finanzielle Fähigkeit oder Unfähigkeit einer Partei, ihrem Anwalt aus eigenen Mitteln zu honorieren, unter den Begriff Herkunft zu bringen. Zum Herkunftsbegriff hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung Folgendes ausgeführt : „Der Begriff ‚Herkunft‘ ist als soziale Herkunft zu verstehen. Die – in Art. 3 Abs. 3 GG verwendeten – Begriffe ‚Abstammung‘, ‚Heimat‘ und ‚Herkunft‘ überschneiden und ergänzen einander nach dem üblichen Sprachgebrauch wechselseitig, wobei jedoch ‚Abstammung‘ vornehmlich die natürliche biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren, ‚Heimat‘ die örtliche Beziehung zur Umwelt und ‚Herkunft‘ die sozial-standesmäßige Verwurzelung bezeichnet […]. Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes bestätigt, daß ‚Herkunft‘ auch hier in diesem Sinne gebraucht ist: Die vom Ausschuß für Grundsatzfragen in erster Lesung angenommene Fassung der Grundrechtsartikel enthielt im damaligen Artikel 19 Absatz 3 lediglich ein Differenzierungsverbot wegen der Abstammung, der Rasse, des Glaubens sowie der religiösen und politischen Anschauungen eines Menschen. In einem dem Parlamentarischen Rat erstatteten Gutachten schlug Professor Dr. Thoma vor, auch die Bevorrechtigung oder Benachteiligung eines Menschen wegen ‚seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse‘ zu verbieten. Der Abgeordnete Dr. Dehler hat später im Grundsatzausschuß berichtet, daß die Worte ‚Heimat und Herkunft‘ in Anlehnung an diese Anregung von Thoma durch den Allgemeinen Redaktionsausschuß - dem Dehler selbst angehörte - eingefügt worden seien, wobei man ‚an die soziale Herkunft und besonders an die Vertriebenen gedacht‘ habe. Die vom Redaktionsausschuß beschlossene Fassung ist dann sachlich unverändert in das Grundgesetz übernommen worden […].“11 Weiter liege kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vor. Das geltende Verfahren vor den Landessozialgerichten sei in ihrer Gesamtkonstruktion dazu geeignet , mittellosen Personen in ausreichender Weise Zugang zum Gericht und einen sachgemäßen Vortrag ihrer Anliegen zu ermöglichen. Daher erzeuge der Ausschluss der Anwaltsbeiordnung keine so bedeutsame Ungleichheit, dass ihre Beachtung bei einer gesetzlichen Regelung nach einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise geboten erscheint. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 03.03.1998 - 9 C 3/97 (Münster) bezüglich des § 4 Abs. 2 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) in seiner seit dem 01.01.1993 geltenden Fassung entschieden, dass die Vorschrift weder gegen das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG noch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstößt.12 Nach § 4 Abs. 2 BVFG ist ein Spätaussiedler auch ein deutscher Volkszugehöriger aus den Aussiedlungsgebieten des § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG außer den in Absatz 1 genannten Staaten, der die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt und glaubhaft macht, dass er am 31.12.1992 oder danach Benachteiligungen oder Nachwirkungen früherer Benachteiligungen auf Grund deutscher Volkszugehörigkeit unterlag. Diese Glaubhaftmachung ist nach § 4 Abs. 1 BVFG für Volksdeutsche aus der früheren Sowjetunion hingegen nicht notwendig. 11 BVerfGE 9, 124 (128 f.), Hervorhebungen nur hier. 12 BVerwGE 106, 191. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 065/21 Seite 6 Nach dem Bundesverwaltungsgericht sei die unterschiedliche Regelung in § 4 Abs. 1 und 2 BVFG nicht wegen der Heimat oder Herkunft der betroffenen Personengruppen i.S.d. Art. 3 Abs. 3 GG getroffen worden, sondern mit Rücksicht auf die Lebensverhältnisse der Volksdeutschen in der früheren Sowjetunion einerseits und diejenigen in den übrigen Ostvertreibungsgebieten andererseits . Diese habe der Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt eines Fortwirkens der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen sowie der Zumutbarkeit eines Verbleibens im Aussiedlungsgebiet unterschiedlich bewertet. Daher liege keine Verletzung des Benachteiligungsverbots wegen der Heimat oder Herkunft aus Art. 3 Abs. 3 GG vor. Auch sei kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gegeben. Die Wertung des Gesetzgebers in § 4 Abs. 1 BVFG, dass sich die kollektiven Maßnahmen gegen die deutschen Volkszugehörigen in der früheren Sowjetunion generell auch heute noch auswirken, beruhen auf der für sie besonders belastenden Situation in der früheren Sowjetunion in Verbindung mit der Art der Vertreibungsmaßnahmen und ihren Folgen. Daher sei ein sachlicher Grund von hinreichendem Gewicht gegeben, der eine Ungleichbehandlung der verschiedenen Personengruppen in § 4 Abs. 1 und 2 BVFG rechtfertige. ***