Deutscher Bundestag Frage zur Auflösung einer Versammlung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 - 065/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 065/11 Seite 2 Frage zur Auflösung einer Versammlung Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 - 065/11 Abschluss der Arbeit: 01. März 2011 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 065/11 Seite 3 1. Einleitung Das Grundrecht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln (Versammlungsfreiheit), ist in Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geregelt. Die Versammlungsfreiheit unterliegt dem einschränkenden Gesetzesvorbehalt nach Art. 8 Abs. 2 i. V. m. Art. 19 Abs. 1 GG. Daraus folgt, dass die Versammlungsgesetze abschließende Regelungen für unmittelbar versammlungsbezogene Eingriffe enthalten, so dass ein Rückgriff auf das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht der Länder nicht möglich ist (Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts)1. Seit der Föderalismusreform I fällt das Versammlungsrecht in die Gesetzgebungskompetenz der Länder, Art. 70 Abs. 1 GG. Solange aber in einem Land ein Versammlungsgesetz nicht erlassen wird, gilt nach der Übergangsregelung des Art. 125a Abs. 1 GG weiter das Verssammlungsgesetz des Bundes (VersG). Die Länder Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt haben eigene Versammlungsgesetze erlassen (Bayerisches Versammlungsgesetz2, Sächsisches Versammlungsgesetz3 und das Versammlungsgesetz des Landes Sachsen-Anhalt4). Da die genannten Landesversammlungsgesetze im Grundsatz die gleichen Voraussetzungen für polizeiliche Maßnahmen zur Unterbindung bzw. zur Auflösung einer Versammlung wie das Versammlungsgesetz des Bundes aufweisen , wird nachfolgend anhand des Bundesgesetzes geprüft. Konkret geht es um die Frage, welche Möglichkeit Polizei und Versammlungsbehörde haben, eine Versammlung zu unterbinden bzw. aufzulösen, wenn Gegendemonstranten rufen „Nazis raus“ und die NPD darauf antwortet mit: „Nationaler Sozialismus – Jetzt!“? 2. Ermächtigungsgrundlage nach dem Versammlungsgesetz des Bundes Für Eingriffe in öffentliche Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel ist § 15 VersG die spezielle und abschließende Ermächtigungsgrundlage. Dies gilt auch für versammlungsbezogene Eingriffe gegen unfriedliches Verhalten von Versammlungsteilnehmern, mit dem sie sich außerhalb der Gewährleistung der Versammlungsfreiheit bewegen.5 1 Dietel, Alfred/Gintzel, Kurt/Kniesel, Michael, Versammlungsgesetz, 16. Auflage, Senden/Bonn 2011, § 1 Rn. 193. 2 Bayerisches Versammlungsgesetz vom 22. 06. 2008 (GVBl S. 421), geändert durch § 1 des Gesetzes vom 22. 04. 2010 (GVBl S. 190) aufgrund der Erklärung des Bundesverfassungsgerichts für teilweise verfassungswidrig (BVerfG, einstweilige Anordnung vom 17.2.2009, Az. 1 BvR 2492/08, BVerf GE 122, 342 ff.) 3 Gesetz über Versammlungen und Aufzüge im Freistaat Sachsen vom 20. 01. 2010 (SächsGVBl 2010, S.2). 4 Gesetz des Landes Sachsen-Anhalt über Versammlungen und Aufzüge vom 03. 12. 2009 (GVBl LSA 2009, S. 558) 5 Dietel, Alfred/Gintzel, Kurt/Kniesel, Michael, Versammlungsgesetz, 16. Auflage, Senden/Bonn 2011, § 15 Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 065/11 Seite 4 Die zuständige Versammlungsbehörde kann eine laufende öffentliche Versammlung unter freiem Himmel faktisch beenden, indem sie die Versammlung unter den Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 VersG auflöst. Die Auflösungsgründe des § 15 Abs. 3 VersG sind die Nichtanmeldung (1. Alt.), das Abweichen von den Angaben der Anmeldung (2. Alt.), die Missachtung von Auflagen (3. Alt.) und das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Verbot im Vorfeld der Versammlung nach § 15 Abs. 1, 1. Alt. VersG (4. Alt.). Der oben geschilderten Fallkonstellation sind Anhaltpunkte für eine Auflösung unter den Voraussetzungen für ein Verbot nach § 15 Abs. 3, 4. Alt. i.V.m. Abs. 1, 1. Alt. VersG zu entnehmen. 3. Auflösung der NPD-Versammlung nach § 15 Abs. 3, 4. Alt. i.V.m. Abs. 1, 1. Alt. VersG Es sind also die Voraussetzungen für ein Versammlungsverbot nach § 15 Abs. 1, 1. Alt. VersG inzident zu prüfen. Hiernach ist ein Verbot auszusprechen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. 3.1. Unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit Die öffentliche Sicherheit beinhaltet die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger der Hoheitsgewalt.6 Folglich ist bei einem Verstoß gegen ein Strafgesetz eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit anzunehmen. Hinweise auf ein gewalttätiges Aufeinandertreffen von Demonstranten und Gegendemonstranten mit Folge der Verwirklichung von Straftaten in Gestalt von Körperverletzungsdelikten und Sachbeschädigungen sind nicht ersichtlich. Die Verwendung von nationalsozialistischen Zeichen, Formeln und Organisationsnamen wird vom Gesetzgeber auch unter Strafe gestellt. Die in Frage kommenden Straftaten sind: das Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen nach § 86 des Strafgesetzbuches (StGB) und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen nach § 86a StGB.7 Hier kommt die Volksverhetzung nach § 130 Abs. 4 StGB in Betracht. Fraglich ist, ob die NPD- Demonstranten, durch die Verwendung der Wortfolge „Nationaler Sozialismus – Jetzt“, eine Bezugnahme auf die Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus erreichen und hiermit eine Billigung , Verherrlichung und Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft i.S.v. § 130 Abs. 4 StGB ausdrücken wollen. 6 Siehe etwa die Legaldefinition in § 2 Nr. 2 Bremer Polizeigesetz; BVerfG, einstweilige Anordnung vom 07.04.2001, Az. 1 BvQ 17/01, 1 BvQ 18/01, DVBl 2001, 1054-1056. 7 Kühl, Kristian in: Lackner, Karl/Kühl, Kristian, Strafgesetzbuch, 27. Auflage, München 2011, § 86 Rn. 1, § 86a Rn. 1, § 130 Rn. 8b. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 065/11 Seite 5 Dies ist in der Rechtsprechung umstritten: Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Sachsen-Anhalt8 hielt zwar eine Verwandtschaft der Begriffe „nationaler Sozialismus“ und „Nationalsozialismus“ für möglich, lehnte aber eine Wesensgleichheit mit dem historischen Begriff des „Nationalsozialismus“ ab. Das OVG Lüneburg9 bestätigte dagegen die Rechtmäßigkeit der behördlichen Verbotsverfügung zu einem geplanten Aufzug unter dem Motto: „Schluss mit Verarmung, Überfremdung und Meinungsdiktatur – Nationaler Sozialismus jetzt“. In diesem Beschluss wurde aber eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit nach § 15 Abs. 1 VersG aus dem Grunde angenommen, dass aufgrund konkreter polizeilicher Erkenntnisse und Indizien davon auszugehen war, dass eine nicht unerhebliche Zahl gewaltbereiter rechtsextremer Demonstranten zu der angemeldeten Versammlung anreisen würde . In einer Entscheidung des VG München10 wurde die Gleichsetzung vom „nationalen Sozialismus “ mit dem „Nationalsozialismus“ festgestellt, jedoch in Verbindung mit der positiven Akzentuierung von SA und SS, der massenhaften Verwendung von Fahnen und Fackeln und dem Absingen von in der NS-Zeit verwendeten Liedguts wie dem SS-Treuelied, sowie durch Einsatz des Trommelschlags durch Landsknechtstrommeln. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zeigt, dass eine Zuordnung des Begriffs „nationaler Sozialismus“ zum strafrechtlich relevanten Bereich mit der Folge einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sehr vom Einzelfall abhängt. Allerdings tendieren die Gerichte zu einer Gleichstellung mit dem historischen „Nationalsozialismus“, wenn weitere Umstände hinzutreten, die einen solchen Bezug andeuten bzw. wenn ein solcher Bezug von den Versammlungsteilnehmern erkennbar nach Außen zum Ausdruck gebracht wurde11. Dabei ist maßgebliches Kriterium die Art und Weise des öffentlichen Auftretens der Versammlungsteilnehmer. Das Reagieren auf den Ruf der Gegendemonstranten „Nazis raus“ dürfte wohl in diesem Sinne nicht ausreichen. 8 OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 07.08.2006, Az. 2 M 268/06, BeckRS 2008, 32754; vgl. auch VG Berlin, Beschluss vom 30.04.2010, Az. 1 L 112.10, BeckRS 2010, 49535, das sich mit der Strafbarkeit der Verwendung des Begriffspaares „nationaler Sozialismus“ bei einem Aufzug gar nicht auseinandersetzt . 9 OVG Lüneburg, Beschluss vom 27.04.2009, Az. 11 ME 225/09, Rn. 18 (Leitsatz), BeckRS 2009, 33317. 10 VG München, Beschluss vom 12.11.2008, Az. M 7 S 08.5531, Rn. 20, zu finden bei http://www.juris.de . 11 VG München (Fn. 10); OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.03.2004, Az. 5 B 392/04 (Verbot einer unter dem Motto "Stoppt den Synagogenbau - 4 Millionen fürs Volk!" angemeldeten NPD- Demonstration), LSK 2004, 310500; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.01.2001, Az. 5 B 115/01 (Verbot eines für den 26.1.2001 angemeldeten NPD-Fackelaufzuges wegen des geplanten Mitführens Schwarz-Weiß-Roter Fahnen, Fahnenstangen, Trommeln und Fackeln und wegen des Zusammenhangs mit der Machtergreifung Adolf Hitlers am 30.1.1933), DVBl 2001, 584-585. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 065/11 Seite 6 3.2. Unmittelbare Gefahr für die öffentliche Ordnung Fraglich ist, ob die NPD-Versammlung auch dann aufzulösen wäre, wenn die Versammlungsteilnehmer sich unterhalb der Schwelle des strafrechtlichen Handelns bewegen. Dies könnte bei unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu bejahen sein. Die öffentliche Ordnung umfasst die Gesamtheit der ungeschriebenen Wertvorstellungen, deren Befolgung nach der Vorstellung der Bevölkerungsmehrheit unerlässlich ist zur Erhaltung des „inneren Friedens“12. In dem so genannten „Brokdorf-Beschluss“13 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung „im Allgemeinen“ nicht ausreicht, um ein Versammlungsverbnot oder eine Versammlungsauflösung zu rechtfertigen. Danach sei unter Beachtung der grundlegenden Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit für den Willensbildungsprozess im freiheitlich demokratischen Staat eine grundrechtsfreundliche Auslegung und Anwendung der versammlungsgesetzlichen Bestimmungen geboten. Ungeschriebene Wertvorstellungen der Allgemeinheit können, auch wegen der Natur der Versammlungsfreiheit als Minderheitenrecht 14, kein Versammlungsverbot rechtfertigen15. Möglich seien grundsätzlich nur „Auflagen “, wie zum Beispiel örtliche Verlegung, zeitliche Verschiebung oder das Verbot eines bestimmten Verhaltens. Aber auch in den Fällen unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Ordnung sind die Modalitäten der Versammlung maßgeblich16. Wegen dieser engen Voraussetzungen dürfte eine Versammlungsauflösung in dem vorliegenden Fall wohl auch nicht auf die unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung gestützt werden können. 12 BVerfG (Fn. 6). 13 BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985, Az. 1 BvR 341/81, Rn. 1 (Leitsatz), BVerfGE 69, 315-372. 14 BVerfG, Beschluss vom 23.06.2004, Az. 1 BvQ 19/04, BVerfGE 111, 147-160, DVBl 2004, 1230-1233; Schulze-Fielitz, Helmuth in: Dreier, Horst, Grundgesetz Kommentar Band I, 2. Auflage, Tübingen 2004, Art. 8 Rn. 94 f. 15 Schulze-Fielitz (Fn. 13). 16 BVerfG, einstweilige Anordnung vom 26.01.2001, Az. 1 BvQ 9/01, DVBl 2001, 558-559 (Aufzug am 27. Januar 2001, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945)); VG Würzburg, Beschluss vom 26.04.2010, Az. W 5 S 10.330, zu finden bei http://www.juris.de (Verbot des Mitführens der schwarz-weiß-roten Fahne; Begrenzung der Anzahl der schwarzen Fahnen auf zehn Stück) ; VGH München, Beschluss vom 06.05.2005, Az. 24 CS 05.1160, BeckRS 2010, 53468 (Zeitliche und örtliche Verlegung einer angemeldeten rechtsextremistischen Versammlung an der Mahnwache auf dem Münchner Marienplatz am 8. Mai). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 065/11 Seite 7 4. Ergebnis Die zuständige Versammlungsbehörde kann die NPD-Versammlung nur dann auflösen (§ 15 Abs. 3, 4. Alt. i.V.m. Abs. 1, 1. Alt. VersG) , wenn außer der skandierten Wortfolge „Nationaler Sozialismus – Jetzt!“ noch weitere Umstände hinzutreten, wie zum Beispiel Ort, Zeitpunkt der Versammlung , Art und Weise der Provokation oder der Vorgehensweise. Der Ruf allein als Antwort auf die Äußerung der Gegendemonstranten „Nazis raus“ dürfte danach wohl nicht ausreichend sein.