© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 064/21 Errichtung des Unabhängigen Kontrollrates auf Grundlage von Art. 45d GG? Ergänzung zum Sachstand WD 3 - 3000 - 043/21 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Das im April 2021 geänderte Gesetz über den Bundesnachrichtendienst (BNDG)1 sieht in den §§ 40 ff. die Bildung eines Unabhängigen Kontrollrats vor, der für die Kontrolle der „Rechtmäßigkeit der technischen Aufklärung und damit einhergehender Übermittlungen und Kooperationen des Bundesnachrichtendienstes “ (§ 40 Abs. 1 BNDG) zuständig sein soll. Die Gesetzesänderungen treten zum Teil erst mit Wirkung vom 1. Januar 2022 in Kraft. Gefragt wurde, ob der Unabhängige Kontrollrat neben dem Parlamentarischen Kontrollgremium ebenfalls auf Art. 45d GG gestützt werden könne. Es handelt sich hierbei um eine Nachfrage zum Sachstand vom 23. März 20212, der die unterschiedlichen Geheimdienstgremien behandelt. Hintergrund der Gesetzesänderung ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Ausland- Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes, welches weite Teile des BNDG für verfassungswidrig erklärte.3 Im Urteil macht das Gericht detaillierte Vorgaben für die gebotene Schaffung eines Kontrollsystems für den Bereich der strategischen Telekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst.4 Hierfür fordert das Bundesverfassungsgericht eine mit abschließenden Entscheidungsbefugnissen verbundene gerichtsähnliche Kontrolle, der die wesentlichen Verfahrensschritte der strategischen Fernmeldeaufklärung unterliegen, sowie eine administrative Kontrolle, die stichprobenmäßig den gesamten Prozess der strategischen Fernmeldeaufklärung auf seine Rechtmäßigkeit prüfen kann.5 Bei der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages am 22. Februar 2021 wurde zum Teil das Verhältnis des Parlamentarischen Kontrollgremiums zum Unabhängigen Kontrollrat problematisiert.6 Den Sachverständigen Gärditz und Meinel zufolge ergebe sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass der Unabhängige Kontrollrat nicht einer (einzelfallbezogenen) Kontrolle durch das Parlamentarische Kontrollgremium unterworfen werden dürfe. Zugleich fordere Art. 45d GG eine effektive parlamentarische Kontrolle 1 Gesetz über den Bundesnachrichtendienst (BND-Gesetz - BNDG) vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2979), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 19. April 2021 (BGBl. I S. 771). 2 Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zu den Kontrollgremien für die Tätigkeit der Nachrichtendienste, WD 3 - 3000 - 043/21, vom 23. März 2021, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/842614/e603a69bd1e7f48fde6acbed95d9f308/WD-3-043-21-pdf-data.pdf. 3 BVerfG, Urteil vom 19. Mai 2020, 1 BvR 2835/17, NJW 2020, 2235. 4 BVerfG NJW 2020, 2235 (2263, Rn. 272 ff.; 2264, Rn. 281 ff.). 5 BVerfG NJW 2020, 2235 (2263, Rn. 272 ff.). 6 Wortprotokoll der 120. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages, Nr. 19/120, S. 17, 20, 21 f., 31, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/829802/3d8b833e9dd3eefadbc920bdce987094/Protokoll-22-02-2021-10-00-data.pdf (Stand: 28. Mai 2021). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 064/21 Seite 4 der nachrichtendienstlichen Tätigkeit. Der Sachverständige Meinel sah eine „gedankliche Möglichkeit , die verfassungsrechtlichen Zweifel an dieser Konstruktion im Hinblick auf den Vorrang der parlamentarischen Kontrolle zu beseitigen, indem man nämlich den Artikel 45d so interpretiert, dass er es auch ermöglicht, dass der Bundestag sozusagen nicht nur ein Gremium, sondern mehrere einführt, in denen er die Kontrolle der Nachrichtendienste aufspaltet.“7 Dieser Vorschlag zur Auslegung des Grundgesetzes soll wohl dazu dienen, das Fehlen einer umfassenden parlamentseigenen Aufsicht über den Unabhängigen Kontrollrat durch dessen verfassungsrechtliche Verankerung unter derselben Norm, auf der die Kontrolle durch das Parlamentarische Kontrollgremium beruht, zu kompensieren. Damit sollen wohl zugleich Forderungen einer umfassenden Aufsicht des Parlamentarischen Kontrollgremiums über den Unabhängigen Kontrollrat abgewehrt werden können. Die Bundesregierung geht in der Begründung ihres Gesetzentwurfes nicht davon aus, dass der Unabhängige Kontrollrat auf Art. 45d GG beruhe: Der Unabhängige Kontrollrat sei ein vom Parlament bestelltes Organ oder Hilfsorgan im Sinne von Art. 10 Abs. 2 GG.8 2. Bewertung Es erscheint sehr zweifelhaft, dass die Errichtung des Unabhängigen Kontrollrates auf Art. 45d GG gestützt werden kann. Zum einen wird in der Literatur bisher von keiner Seite vertreten, dass auf der Grundlage von Art. 45d GG mehrere Gremien errichtet werden können. Dem scheint auch bereits der Wortlaut von Art. 45d Abs. 1 GG entgegenzustehen. Danach bestellt der Bundestag ein Gremium zur Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes. Indiziell bestätigt dies auch die amtliche Überschrift9 von Art. 45d GG, die (nur) auf ein „Parlamentarisches Kontrollgremium“ Bezug nimmt. Dagegen sprechen auch die unterschiedlichen Anforderungen an die Besetzung der Gremien. So fordert etwa die überwiegende Literaturauffassung, dass das Gremium nach Art. 45d Abs. 1 GG ausschließlich oder jedenfalls mehrheitlich mit Mitgliedern des Bundestages besetzt werden müsse.10 Zur Begründung wird auf den Zweck des Gremiums als parlamentarische Kontrollinstanz über die Regierung verwiesen.11 Für die Besetzung der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Kontroll- 7 Wortprotokoll (Fn. 6), S. 31. 8 BT-Drs. 19/26103, S. 107, 114 f. 9 45d GG ist die einzige Norm des Grundgesetzes, die eine amtliche Überschrift hat, siehe Uerpmann-Wittzack/ Edenharter, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Auflage 2021, Art. 45d Rn. 1. 10 So Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2015, Art. 45d Rn. 35, Fn. 137; Uerpmann-Wittzack/Edenharter, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Auflage 2021, Art. 45d Rn. 5; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 14. Auflage 2018, Art. 45d Rn. 18; für eine zumindest mehrheitliche Besetzung mit Abgeordneten Wolff, in: Kahl/Waldhoff /Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, 158. Aktualisierung Nov. 2012, Art. 45d Rn. 85; anders aber Unger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 45d Rn. 13, Fn. 31, der eine Besetzung mit Nicht-Parlamentariern für zulässig hält. 11 Uerpmann-Wittzack/Edenharter, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Auflage 2021, Art. 45d Rn. 5; Kluth, in: Schmidt- Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 14. Auflage 2018, Art. 45d Rn. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 064/21 Seite 5 instanz über die strategische Telekommunikationsüberwachung durch den BND hat das Gericht hingegen betont, es müsse sichergestellt werden, dass „der richterlichen Perspektive ein maßgebliches Gewicht zukommt, die für eine maßgebliche Zahl der Mitglieder durch langjährige richterliche Erfahrung belegt sein muss. Das schließt nicht aus, Erfahrung in anderen juristischen Berufen zu berücksichtigen.“12 Nichtjuristen mit technischem Sachverstand könnten ergänzend herangezogen werden, wenn dieser Sachverstand benötigt werde. Ein maßgeblicher Teil des gerichtsähnlichen Kontrollorgans muss somit mit (ehemaligen) Richtern besetzt sein. Im BNDG wurde dieses Erfordernis so gelöst, dass nach § 43 Abs. 1 BNDG das Organ mit Mitgliedern besetzt wird, die bis zu ihrer Ernennung Richter am Bundesgerichtshof oder Bundesverwaltungsgericht waren und in dieser Tätigkeit über langjährige Erfahrung verfügen. Die Mitglieder werden durch das parlamentarische Kontrollgremium gewählt. Die vom Bundesverfassungsgericht ebenfalls geforderte administrative Kontrolle ist auf die Tätigkeit durch eine Behörde ausgerichtet. Das Gericht sieht es etwa für zulässig an, dass die Kontrolle durch den Bundesdatenschutzbeauftragten ausgeübt wird.13 Die Mitarbeiter des administrativen Kontrollorgans sind somit Beamte bzw. Angestellte des öffentlichen Dienstes. In § 50 BNDG wurde festgelegt, dass der Leiter des administrativen Kontrollorgans in einem Beamtenverhältnis zum Bund steht oder ihm ein Amt der Besoldungsgruppe B 6 übertragen wird. Sowohl für das gerichtsähnliche als auch das administrative Kontrollorgan hat das Bundesverfassungsgericht zudem vorgegeben, dass die Mitglieder hauptamtlich dort tätig sein müssen.14 Eine Besetzung des Unabhängigen Kontrollrates mit Parlamentariern sieht das Bundesverfassungsgericht somit nicht vor. Vielmehr dürften Abgeordnete aufgrund der Vorgaben des Gerichts für die Besetzung grundsätzlich ausscheiden. Damit übereinstimmend spricht auch der Zweck des Unabhängigen Kontrollrates gegen eine Verortung unter Art. 45d GG. Zweck der Gremiums nach Art. 45d GG ist insbesondere die politische Kontrolle der Regierung.15 Das Bundesverfassungsgericht hat in einem früheren Urteil festgestellt, die parlamentarische Kontrolle sei „politische Kontrolle, nicht administrative Überkontrolle“.16 Im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle ist zwar auch die Einzelfallprüfung möglich; sie bezieht sich aber nicht darauf, die Recht- und Zweckmäßigkeit von Einzelentscheidungen flächendeckend sicherzustellen, sondern ist darauf gerichtet, was dem Parlament wichtig erscheint.17 Bei der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Kontrolle über die strategische Telekommunikationsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst handelt es sich hingegen um eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der jeweiligen Einzelmaßnahmen. Ziel ist die Wahrung der Grundrechte der 12 BVerfG NJW 2020, 2235 (2264 Rn. 286). 13 BVerfG NJW 2020, 2235 (2264 Rn. 282). 14 BVerfG NJW 2020, 2235 (2264 Rn. 287). 15 Vgl. Uerpmann-Wittzack/Edenharter, in: v. Münch/Kunig, GG, 7. Auflage 2021, Art. 45d Rn. 6; Dietrich, Reform der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste als rechtsstaatliches Gebot und sicherheitspolitische Notwendigkeit, in: ZRP 2014, 205 (206). 16 BVerfGE 67, 100 (140). Hervorhebung nur hier. 17 Wolff, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum GG, 158. Aktualisierung Nov. 2012, Art. 45d Rn. 37. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 064/21 Seite 6 von den Maßnahmen Betroffenen.18 Mit der Kontrolle soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass die üblichen rechtsstaatlichen Sicherungen wegen der Geheimhaltungsbedürftigkeit der Überwachungsmaßnahmen weitgehend entfallen und individueller Rechtsschutz daher kaum wirksam zu erlangen ist.19 Der Unabhängige Kontrollrat hat damit eine ähnliche Aufgabe wie die G-10-Kommission , die auf die Spezialvorschrift des Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG gestützt wird. Das Bundesverfassungsgericht geht dementsprechend davon aus, dass sich die Kontrolle durch das von ihm geforderte Gremium von der parlamentarischen Kontrolle des Gremiums nach Art. 45d GG unterscheidet. Es betont, dass der Informationsfluss des geforderten Kontrollgremiums in den parlamentarischen Raum (und damit auch zum Parlamentarischen Kontrollgremium) aus Geheimhaltungsgründen grundsätzlich begrenzt werden könne.20 Der Gesetzgeber dürfe „insoweit berücksichtigen , dass die parlamentarische Kontrolle einen anderen Charakter aufweist [...] als eine Kontrolle , die allein auf die Beachtung des objektiven Rechts ausgerichtet ist, und dass Geheimhaltung im parlamentarisch-politischen Umfeld faktischen Grenzen unterliegt“.21 Die Kontrolle durch das Parlamentarische Kontrollgremium habe „eine eigene, nicht speziell auf die Rechts- und Grundrechtskontrolle begrenzte Funktion und [sei] Ausdruck der allgemeinen parlamentarischen Verantwortung für die sachgerechte und politisch angemessene Aufgabenwahrnehmung der Exekutive “.22 Allerdings müsse das parlamentarische Kontrollgremium nach Art. 45d GG in einer Form, die den Belangen des Geheimschutzes Rechnung trägt, regelmäßig unterrichtet werden. Zudem müsse es den Kontrollinstanzen möglich sein, „in abstrakter, die Geheimhaltung gewährleistender Weise ihre Beanstandungen und Kritik letztlich auch an das Parlament und damit an die Öffentlichkeit heranzutragen“.23 In § 55 BNDG ist dementsprechend eine Pflicht zur Berichterstattung des Unabhängigen Kontrollrats an das Parlamentarische Kontrollgremium vorgesehen. *** 18 BVerfG NJW 2020, 2235 (2264 Rn. 272). 19 BVerfG NJW 2020, 2235 (2264 Rn. 272). 20 BVerfG NJW 2020, 2235 (2266 Rn. 298). 21 BVerfG NJW 2020, 2235 (2266 Rn. 298). 22 BVerfG NJW 2020, 2235 (2266 Rn. 300). 23 BVerfG NJW 2020, 2235 (2266 Rn. 298).