© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 063/21 Verfassungsmäßigkeit von Besuchsverboten nach § 28a Abs. 1 Nr. 15 Infektionsschutzgesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 063/21 Seite 2 Verfassungsmäßigkeit von Besuchsverboten nach § 28a Abs. 1 Nr. 15 Infektionsschutzgesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 063/21 Abschluss der Arbeit: 29. April 2021 (zugleich letzter Aufruf der Internetquellen) Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 063/21 Seite 3 1. Fragestellung Die Ausarbeitung befasst sich mit der Verfassungsmäßigkeit von Besuchsverboten und -beschränkungen in Einrichtungen des Gesundheits- oder Sozialwesens, die auf Grundlage des § 28a Abs. 1 Nr. 15 Infektionsschutzgesetz (IfSG) verhängt werden können. Die Ausführungen beziehen sich auf die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit solcher Maßnahmen. Die Verfassungsmäßigkeit im Einzelfall hängt – wie bei allen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie – insbesondere von tatsächlichen Gegebenheiten wie der aktuellen Infektionslage und dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ab. Insofern werden nachfolgend allgemeingültige Überlegungen angestellt. 2. Verfassungsrechtliche Einschätzung 2.1. Betroffene Grundrechte Besuchsbeschränkungen bzw. -verbote in Einrichtungen des Gesundheits- oder Sozialwesens können je nach Ausgestaltung in verschiedene Grundrechte eingreifen. In Rechtsprechung und Literatur wird insbesondere auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie das Recht auf Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG verwiesen.1 Abhängig von der konkreten Maßnahme können auch weitere Grundrechte wie beispielsweise das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (etwa durch eine Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit infolge der Beschränkung von Kontakten) oder die informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (etwa bei einer zwingenden Vorlage eines negativen Testergebnisses) betroffen sein. Fraglich ist, ob auch die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG berührt ist. Eingriffe in die Menschenwürde sind stets verfassungswidrig.2 Die Menschenwürde ist betroffen, wenn eine Person zum bloßen Objekt herabgewürdigt wird3 bzw. „wenn die Behandlung durch die öffentliche Gewalt die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt“4. Staatliche Maßnahmen, durch die eine Person völlig von sozialen Kontakten isoliert wird, werden nach diesem Maßstab als unzulässig angesehen.5 Dem wurde allerdings im IfSG dadurch Rechnung getragen, dass in § 28a Abs. 2 S. 2 IfSG bestimmt ist: „Schutzmaßnahmen nach Absatz 1 Nummer 1 Greve, Infektionsschutzrecht in der Pandemielage – Der neue § 28 a IfSG, in: NVwZ 2020, 1786, (1790); VG Hannover , Beschluss vom 16.4.2020, 15 B 2147/20, BeckRS 2020, 6036, Rn. 13; VG Hamburg, Beschluss vom 16.4.2020, 11 E 1630/20, BeckRS 2020, 5954, Rn. 9 ff. 2 Hufen, Die Menschenwürde, Art. 1 I GG, in: JuS 2010, 1 (2). 3 Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 1 Rn. 15. 4 BVerfGE 109, 279 (313), 5 Vgl. Hufen, Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen aus Anlass der COVID-19-Pandemie, S. 11 unter Verweis auf Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR zu Strafgefangenen, im Internet abrufbar unter https://www.bagso.de/publikationen/stellungnahme /rechtsgutachten-besuche-in-pflegheimen/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 063/21 Seite 4 15 dürfen nicht zur vollständigen Isolation von einzelnen Personen oder Gruppen führen; ein Mindestmaß an sozialen Kontakten muss gewährleistet bleiben.“ Die Menschenwürde dürfte aufgrund dieser Vorgabe durch Maßnahmen auf Grundlage des § 28a Abs. 1 Nr. 15 IfSG nicht berührt sein. 2.2. Rechtfertigung des Eingriffs Grundrechtseingriffe sind verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn sie auf einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage beruhen und verhältnismäßig sind. Die Verhältnismäßigkeit setzt voraus, dass die Maßnahmen ein legitimes Ziel in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgen.6 2.2.1. Ermächtigungsgrundlagen Ermächtigungsgrundlagen für Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sind § 28 Abs. 1 und § 28a Abs. 1 IfSG. Nach § 32 IfSG können die Maßnahmen auch im Wege der Rechtsverordnung erlassen werden. Der § 28a Abs. 1 IfSG sieht in seinen einzelnen Nummern Regelbeispiele für zulässige Maßnahmen vor. In § 28a Abs. 1 Nr. 15 IfSG ist die „Untersagung oder Beschränkung des Betretens oder des Besuchs von Einrichtungen des Gesundheits- oder Sozialwesens“ benannt. Bei den genannten Einrichtungen handelt es sich beispielsweise um Alten- und Pflegeheime, Behinderteneinrichtungen , Entbindungseinrichtungen oder Krankenhäuser.7 Die Norm umfasst sowohl Maßnahmen, die den Besuch nur unter bestimmten Voraussetzungen erlauben8 als auch Verbote des Besuchs, solange ein gewisses Mindestmaß an Kontakten erlaubt bleibt. Zu beachten ist, dass die Einführung des neuen § 28b IfSG9 ebenfalls Auswirkungen auf die Möglichkeit des Besuchs haben kann. Bei Überschreiten eines Inzidenzwertes von 100 in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen sind nach § 28b Abs. 1 Nr. 1 IfSG private Zusammenkünfte im privaten oder öffentlichen Raum eingeschränkt. § 28b IfSG ist nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung.10 6 Vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 314. 7 BT-Drs. 19/24334, S. 73. 8 So etwa die Beschränkung des Besuchs auf Personen mit negativem Corona-Test, vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 8.12.2020, 20 NE 20.2461, BeckRS 2020, 34549. 9 Die Norm wurde eingefügt durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22.4.2021 (BGBl. I S. 802). 10 Siehe zu einzelnen Aspekten der Norm die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages , Verfassungsrechtliche Bewertung der neuen Infektionsschutzgesetzgebung, WD 3 - 3000 - 083/21, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/835178/823674061cb1fcc753675daf5feb93ba/WD-3-083-21-pdfdata .pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 063/21 Seite 5 2.2.2. Bestimmtheit Das Bestimmtheitsgebot besagt, dass Rechtsnormen hinreichend konkret gefasst sein müssen.11 Es wird aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitet.12 Das Erfordernis der Rechtssicherheit verlangt hinreichend präzise Normformulierungen.13 Die lange Zeit geäußerte Kritik an der fehlenden Bestimmtheit der Corona-Maßnahmen bezog sich auf die Generalklausel des § 28 IfSG, der allgemein zum Ergreifen „notwendiger Schutzmaßnahmen“ ermächtigt. Durch Einführung des § 28a IfSG wurde die Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage erhöht.14 Die Norm enthält zwar nicht die vielfach geforderten Standardmaßnahmen,15 benennt aber zumindest anhand von Regelbeispielen hinreichend erkennbar, welche Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zulässig sind. Die Rechtsprechung sieht folglich den Bestimmtheitsgrundsatz bei § 28a IfSG gewahrt .16 2.2.3. Verhältnismäßigkeit 2.2.3.1. Legitimer Zweck Die einzelnen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sollen dem Schutz der Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung sowie der Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems dienen. Dabei handelt es sich um legitime Zwecke für Grundrechtseingriffe.17 11 Sachs, in: derselbe (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2021, Art. 20 Rn. 126. 12 Vgl. BVerfGE 45, 400 (420). 13 Schmidt-Aßmann, in: Handbuch des Staatsrechts, Band II, 2004, § 26 Rn. 85. 14 Siehe die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Aktuelle Änderungen des Infektionsschutzrechts, WD 3 - 3000 - 256/20, S. 4, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/806142/0f47f92924f54322da4220557077ad9f/WD-3-256-20-pdf-data.pdf. 15 Siehe zu dieser Forderung den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Grundsatzfragen zu den §§ 28 ff. Infektionsschutzgesetz, WD 3 - 3000 - 243/20, S. 6 f., 12, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/813936/a7dc8f55f3e5f1f2bb4d6aef1edfaef2/WD-3-243-20-pdf-data.pdf. 16 BayVGH, Beschluss vom 25.2.2021, 20 NE 21.519, BeckRS 2021, 3813, Rn. 18; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8.1.2021, 1 S 156/20, BeckRS 2021, 29, Rn. 8. 17 Vgl. etwa BVerfG, NVwZ 2020, 1040 (1041). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 063/21 Seite 6 2.2.3.2. Geeignetheit Die Besuchsbeschränkungen müssten zum Erreichen des legitimen Zwecks geeignet sein. Ausreichend ist dabei bereits, dass der Zweck gefördert wird.18 Dem Staat kommt bei der Beurteilung der Geeignetheit einer Maßnahme ein Einschätzungsspielraum zu.19 Das Coronavirus überträgt sich nach bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen vor allem durch soziale Kontakte. Daher sind Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, soziale Kontakte zu verringern oder zu verhindern, grundsätzlich geeignet, die Gesundheit der Bevölkerung und das Funktionieren des Gesundheitssystems zu schützen.20 Gleiches gilt für Maßnahmen, durch die im Falle eines Kontakts die Ansteckungsgefahr verringert wird. Somit sind Regelungen, die die Möglichkeit des Besuchs in Einrichtungen des Gesundheits- oder Sozialwesens beschränken oder die Besuche von der Einhaltung bestimmter Maßnahmen abhängig machen, grundsätzlich geeignet. 2.2.3.3. Erforderlichkeit Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn kein weniger belastendes Mittel zur Verfügung steht, das dem Zweck der Maßnahme in gleicher Weise dient.21 Auch bei dieser Frage steht dem Gesetz- bzw. Verordnungsgeber ein Einschätzungsspielraum zu.22 Dieser Gestaltungsspielraum ist in einer Krisensituation erheblich vergrößert.23 In Bezug auf die Corona-Maßnahmen äußerte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof kürzlich: „In einer durch zahlreiche Unsicherheiten und sich ständig weiterentwickelnde fachliche Erkenntnisse geprägten epidemischen Lage wie der vorliegenden ist dem Verordnungsgeber jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt der Entwicklung eine Einschätzungsprärogative im Hinblick auf das gewählte Mittel einzuräumen, soweit und solange sich nicht andere Maßnahmen eindeutig als gleich geeignet und weniger belastend darstellen.“24 18 Vgl. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 92. EL August 2020, Art. 20 VII Rn. 112. 19 Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 46. Edition Stand: 15. Februar 2021, Art. 20 Rn. 195. 20 Vgl. BayVGH, Beschluss vom 8.12.2020, 20 NE 20.2461, BeckRS 2020, 34549, Rn. 36. 21 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 314. 22 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 316; siehe in Bezug auf Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie beispielsweise OVG Greifswald, Beschluss vom 8. April 2020, 2 KM 236/20, BeckRS 2020, 5637 Rn. 24. 23 Siehe dazu bereits die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Verfassungsrechtliche Bewertung der neuen Infektionsschutzgesetzgebung, WD 3 - 3000 - 063/21, S. 4, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/835178/823674061cb1fcc753675daf5feb93ba/WD-3-083-21-pdf-data.pdf. 24 BayVGH, Beschluss vom 30.3.2020, 20 NE 20.632, NJW 2020, 1236 (1240). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 063/21 Seite 7 § 28 Abs. 1 Nr. 15 IfSG sieht sowohl die Beschränkung als auch die Untersagung von Besuchen in Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens als zulässige Schutzmaßnahmen vor. Beschränkungen von Besuchen, also Maßnahmen, die einen Besuch nur unter bestimmten Voraussetzungen wie etwa der Einhaltung von Hygienemaßnahmen erlauben, dürften in Bezug auf die Erforderlichkeit unproblematisch sein, da zum Schutz vor einer Ansteckung kein milderes Mittel ersichtlich ist. Fraglich ist, ob auch die vorgesehene Möglichkeit der Untersagung von Besuchen erforderlich ist. Hiergegen könnte eingewendet werden, dass Beschränkungen ein milderes Mittel sind. Zu beachten ist allerdings, dass § 28a Abs. 2 Nr. 3 IfSG eine Einschränkung für Besuchsverbote vornimmt. Danach ist eine Untersagung des Besuchs von Einrichtungen im Sinne des § 28a Abs. 1 Nr. 15 IfSG für enge Angehörige von dort behandelten, gepflegten oder betreuten Personen nur dann zulässig, „soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre“. Solche Besuchsverbote sind folglich nur als ultima ratio möglich, wenn weniger einschneidende Maßnahmen (wie etwa die Möglichkeit des Besuchs unter bestimmten Bedingungen) „zur wirksamen Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 nicht ebenso erfolgversprechend sind“.25 Mit dieser Einschränkung wird sichergestellt, dass dem Gebot der Erforderlichkeit entsprochen wird.26 Die Frage, ob ohne ein Besuchsverbot die wirksame Bekämpfung der Pandemie erheblich gefährdet wäre, ist von der zuständigen Behörde (bzw. dem Verordnungsgeber nach § 32 IfSG) anhand einer auf die aktuelle Pandemiesituation abstellenden Gefahrenprognose zu beurteilen.27 Grundsätzlich ist inzwischen bei allen Corona-Maßnahmen die Frage zu bedenken, ob für bereits vollständig geimpfte Personen Ausnahmen (auch gesetzlich) vorgesehen werden müssen. Im Zuge des aktuellen Gesetzgebungsverfahrens zur Änderung des IfSG wurde in der öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses von mehreren juristischen Sachverständigen vorgebracht, dass die schwerwiegenden Grundrechtseingriffe durch die Corona-Maßnahmen bei Geimpften grundsätzlich nicht mehr zu rechtfertigen seien.28 Dies gelte jedenfalls „solange es bei der Einschätzung namentlich des RKI bleibt, dass Geimpfte mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr infektiös sind“.29 25 BayVGH, Beschluss vom 11.1.2021, 20 NE 20.3030, BeckRS 2021, 163, Rn. 25. 26 Vgl. BayVGH, Beschluss vom 11.1.2021, 20 NE 20.3030, BeckRS 2021, 163, Rn. 25. 27 Johann/Gabriel, in: Eckart/Winkelmüller, BeckOK Infektionsschutzrecht, 3. Edition Stand: 1.1.2021, § 28a Rn. 35; BayVGH, Beschluss vom 11.1.2021, 20 NE 20.3030, BeckRS 2021, 163, Rn. 26. 28 So etwa Möllers, „Stellungnahme zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, S. 7, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/834614/9ace24a12b228c12a677f4b05aec4865/19_14_0323-2-_Prof-Dr-Moellers_-viertes-BevSchGdata .pdf; Kingreen, „Stellungnahme als geladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (BT-Drucks. 19/28444)“, S. 10 f., abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/835086/141e8c66a95c14a9d9def23da8d9a06a/19_14_0323- 19-_ESV-Prof-Dr-Thorsten-Kingreen_-viertes-BevSchG-data.pdf; siehe auch die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Verfassungsrechtliche Bewertung der neuen Infektionsschutzgesetzgebung , WD 3 - 3000 - 083/21, S. 11, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/835178/823674061cb1fcc753675daf5feb93ba/WD-3-083-21-pdf-data.pdf. 29 Kingreen (Fn. 28), S. 10 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 063/21 Seite 8 Die Beschränkung der Maßnahmen auf nicht (vollständig) geimpfte Personen wäre nach dieser Einschätzung ein milderes Mittel. Auf Regierungsebene wurde beim sog. Impfgipfel am 26.4.2021 eine Verständigung darüber erzielt, dass Geimpfte zukünftig unter anderem in Bezug auf Kontaktbeschränkungen Erleichterungen bekommen sollen.30 Eine entsprechende Verordnung soll in nächster Zeit erarbeitet werden. In der bereits erwähnten öffentlichen Anhörung wurde allerdings betont, dass die Einführung solcher Erleichterungen allein per Rechtsverordnung nicht ausreichend sei, da der Gesetzgeber die wesentlichen Kriterien vorgeben müsse.31 2.2.3.4. Angemessenheit Die Angemessenheit einer Maßnahme ist gewahrt, wenn der Grundrechtseingriff nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck steht.32 Es ist somit zu prüfen, ob die Schwere des Eingriffs, d.h. der Nachteil für die Betroffenen, noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Dringlichkeit der durch die Maßnahme geförderten Gemeinwohlbelange steht.33 Dabei ist neben der Wertigkeit der jeweiligen Rechte, Rechtsgüter oder sonstigen Belange auch der Grad ihrer Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Die Beurteilung der Angemessenheit ist abhängig von der Schwere des Grundrechtseingriffs. Während eine Vorgabe zur Einhaltung bestimmter Hygienemaßnahmen bei Besuchen eher wenig grundrechtsrelevant sein dürfte, ist etwa ein (wenn auch nicht vollständiges) Verbot von Besuchen weitaus einschneidender. Des Weiteren hängt die Frage, ob die Grundrechte des Einzelnen das Interesse des Staates überwiegen, bei Maßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie vom aktuellen (regionalen) Infektionsgeschehen, der Zahl der Toten und der Belastung des Gesundheitssystems ab. Eine abstrakte Beurteilung kann daher nicht erfolgen. Grundsätzlich ist Folgendes zu beachten: Den Staat trifft eine Schutzpflicht für Leben und Gesundheit der Bevölkerung, welche sich auch in dem Anspruch auf Schutz vor Infektionskrankheiten konkretisiert.34 Der Schutz dieser Rechtsgüter, die zu den höchsten überhaupt zählen,35 dürfte grundsätzlich auch weit reichende Grundrechtseingriffe rechtfertigen. Bezüglich der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie hat die Rechtsprechung bisher 30 Siehe etwa Zeit Online vom 26.4.2021, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-04/impfgipfel-coronaimpfungen -bund-laender-konferenz-rechte-priorisierung-faq. 31 So Möllers (Fn. 28), S. 7; für eine gesetzliche Regelung auch Wollenschläger, „Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Gesundheit am 16.4.2021/Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, BT-Drucksache 19/28444 u.a“, S. 26, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/835164/c7062527e14f960fefc4c71a0aa4a164/19_14_0323-21-_ESV- Prof-Dr-Ferdinand-Wollenschlaeger_-viertes-BevSchG-data.pdf. 32 BVerfGE 50, 217 (227); 80, 103 (107); 99, 202 (212 f.). 33 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 92. EL August 2020, Art. 20 VII, Rn. 117. 34 OVG Greifswald, Beschluss vom 8.4.2020, 2 KM 236/20, BeckRS 2020, 5637 Rn. 29. 35 BVerfGE 39, 1 (42): „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 063/21 Seite 9 in einer Vielzahl von Fällen entschieden, dass die Grundrechte des Einzelnen zurücktreten müssen. Dies war auch bei den bisherigen Entscheidungen zu Besuchsbeschränkungen und -verboten der Fall.36 So entschied das OVG Berlin-Brandenburg, die geschützten „besonders hochwertigen Rechtsgüter rechtfertigen es in der gegenwärtigen Lage, Besuchskontakte [...] prinzipiell zu unterbinden und nur streng reglementierten Ausnahmen vorzubehalten“.37 Auch in Bezug auf die Angemessenheit ist aber das inzwischen wohl bestehende Erfordernis von Ausnahmen für Geimpfte zu beachten. Im Falle einer nicht mehr bestehenden Ansteckungs- und Übertragungsgefahr stehen weiterhin erfolgende Grundrechtseingriffe nicht mehr im Verhältnis zum verfolgten Ziel. *** 36 So etwa BayVGH, Beschluss vom 2.3.2021, 20 NE 21.369, BeckRS 2021, 3228, Rn. 26; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.4.2020, 11 S 14/20, COVuR 2020, 43 (44 f.). 37 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.4.2020, 11 S 14/20, COVuR 2020, 43 (45).