© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 061/20 Fragen zur Nichtzurückweisung von Schutzsuchenden im Herbst 2015 Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 061/20 Seite 2 Fragen zur Nichtzurückweisung von Schutzsuchenden im Herbst 2015 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 061/20 Abschluss der Arbeit: 31. März 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 061/20 Seite 3 Es werden Nachfragen zu den Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, „Einreiseverweigerung und Einreisegestattung nach § 18 Asylgesetz“, WD 3 - 3000 - 109/17 und „Rechtsauffassungen zur Einreiseverweigerung und Einreisegestattung im Zusammenhang mit der sog. Grenzöffnung“, WD3 - 3000 - 139/18 erörtert. Die Bundesregierung hat bislang nicht eindeutig erklärt,1 welche Entscheidung konkret im Herbst 2015 hinsichtlich der Nichtzurückweisung von Schutzsuchenden an den Grenzen getroffen wurde, insbesondere ob – ein genereller Selbsteintritt nach Dublin-III-Verordnung erfolgte, – sich die Bundesregierung der Auffassung angeschlossen hat, dass eine Dublin-III-Prüfungszuständigkeit für § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG genügt oder – ob eine Anordnung des BMI im Sinne von § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG erfolgte.2 Vor diesem Hintergrund kann auch nicht beurteilt werden, ob die Entscheidung der Bundesregierung zu § 18 Abs. 4 AsylG, die im Herbst 2014 getroffen wurde, als Ausnahme- oder als Regelfall zu bewerten war. Auch die im Schrifttum vorgetragenen Auffassungen zu der Frage, ob die Entscheidung der Bundesregierung verfassungs- oder unionsrechtliche Grenzen verletzt habe, knüpfen an die o.g. unterschiedlichen Sachverhaltsinterpretationen an. Eine abschließende Bewertung ist daher ebenso wenig möglich. Das Selbsteintrittsrecht nach der Dublin-III-Verordnung ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs jedenfalls weder auf die Bewältigung besonderer Situationen noch auf Einzelfälle beschränkt, sondern kann auch für Gruppen erklärt werden.3 Der Europäische Gerichtshof betont ferner, dass „die Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger“ keinen Einfluss auf die Auslegung und Anwendung der Dublin-III-Verordnung haben könne.4 Insofern dürfte eine begrenzte Abweichungsbefugnis von den Dublin-Regeln und eine Zurückweisung von Asylsuchenden unter Verweis auf Art. 72 AEUV, wie dies von einigen Autoren diskutiert wurde,5 nicht in Betracht kommen.6 1 Vgl. zuletzt BT-Drs. 19/833 Antworten zu Fragen 1 und 2. 2 Zu den Einzelheiten dieser rechtlichen Ansätze vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 - 3000 - 109/17 und WD 3 - 3000 - 139/18. 3 EuGH, Rs. C-464/16; Urteil vom 26. Juli 2017, juris Rn. 100 f. 4 EuGH, Rs. C-464/16; Urteil vom 26. Juli 2017, juris Rn. 93. 5 Dörig, Flüchtlingskrise – lässt sich die Einreise begrenzen?, DRiZ 2016, 176 (180 f.); Hailbronner/Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 2016, 753, 762 f. 6 Diese Interpretation teilt wohl auch Thym, Die Flüchtlingskrise vor Gericht – Zum Umgang des EuGH mit der Dublin-III-Verordnung, DVBl. 2018, 276 (278 f.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 061/20 Seite 4 Ob, und wenn ja in welcher Weise das Selbsteintrittsrecht und die Entscheidung der Bundesregierung gegen eine Zurückweisung von Schutzsuchenden an der Grenze mit Blick auf föderale Auswirkungen auf die Bundesländer verfassungsrechtlich durch den Grundsatz der Bundestreue begrenzt war, wird in der Rechtswissenschaft sehr unterschiedlich beurteilt. Während einige Autoren den Grundsatz der Bundestreue für verletzt halten,7 wird dies mit unterschiedlicher Begründung von anderen Stimmen bezweifelt8 oder abgelehnt.9 Maßgeblich ist dabei neben der Sachverhaltsinterpretation insbesondere die europarechtliche Bewertung der der Entscheidung zugrunde liegenden Situation. In der Dokumentation WD 3 - 3000 - 139/18 wurde auf Seite 8 f. bereits das Meinungsspektrum zu der Frage skizziert, ob und wann ein Selbsteintritt der Bundesregierung nach der Dublin-III- Verordnung oder eine Anordnung des Bundesinnenministers nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG den Wesentlichkeitsvorbehalt des Bundestages berührt und mithin seiner Mitwirkung in Form eines Gesetzes bedarf. Neben den in WD 3 - 3000 - 139/18, Seite 9, genannten Stimmen, halten weitere Autoren den Wesentlichkeitsvorbehalt durch die o.g. Entscheidung der Bundesregierung im Herbst 2015 für berührt10 oder lehnen dies ab11. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage in einem Organstreitverfahren im Jahr 2018 nicht entschieden, da im konkreten Fall keine Rechtsposition der klagenden Fraktion oder des Bundestages berührt gewesen seien.12 7 Di Fabio, Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem, abrufbar unter: http://www.welt.de/bin/di-fabiogutachten -150937063.pdf; dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Sicherung der Bundesgrenzen aus föderaler Perspektive, WD 3 - 3000 - 010/16; Möstl, Verfassungsfragen der Flüchtlingskrise 2015/16, AöR 2017, 175 (224 ff.). 8 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Sicherung der Bundesgrenzen aus föderaler Perspektive, WD 3 - 3000 - 010/16, S. 4 f. 9 Ewer/Thienel, Verletzung grundgesetzlicher Länderrechte durch die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung?, NJW 2016, 376 (378); Ruffert/Löbel, Anfängerhausarbeit – Öffentliches Recht, Staatsorganisationsrecht – „Wir schaffen das!“, JuS 2016, 1088 (1093); wohl auch Wieland, Die Herrschaft des Rechts in der Flüchtlingskrise, ZSE 2016, 8 (14) und Gärditz, in: Maunz/Dürig, 89. EL Oktober 2019 Verpflichtung des Bundes zur Rücksichtnahme auf die Vollzugsfähigkeit der Länder bei den technischen Details, GG Art. 16a Rn. 507, der aber auf die hinweist. 10 Nettesheim, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, Staatsverantwortung durch Verfassungsrecht am Beispiel von Migration, S. 55 (62 f.); Papier, Asyl und Migration als Herausforderung für Staat und EU, NJW 2016, 2391 (2395); Schönbroicher, in: Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 1. Auflage 2016, Rn. 148. 11 Ewer/Thienel (Fn. 9), 377 f.; Gärditz, (Fn. 9), Art. 16a Rn. 327; ders., Die demokratische Gestaltungsverantwortung durch Recht in einer Einwanderungsgesellschaft, EuGRZ 2017, 516 (517 dort in Fn. 9); wohl auch Günther, in: BeckOK AuslR, 24. Ed. 1.11.2019, AsylG § 29 Rn. 64; Hellermann, in: BeckOK GG, 42. Ed. 1.12.2019, GG Art. 30 Rn. 4; Honer, Organstreitverfahren der AfD gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, NVwZ 2019, 619 (622); Ruffert/Löbel, Anfängerhausarbeit – Öffentliches Recht: Staatsorganisationsrecht – „Wir schaffen das!“, JuS 2016, 1088 (1092); Wieckhorst, Rechts- und verfassungswidriges Regierungshandeln in der sog Flüchtlingskrise, ThürVBl. 2016, 181 (187 f.); Wieland, (Fn. 9), 14. 12 BVerfG, Beschluss vom 11. Dezember 2018 – 2 BvE 1/18, juris; kritisch dazu Hillgruber, Zu den Voraussetzungen der Antragsbefugnis einer Fraktion des Deutschen Bundestages, die im Organstreitverfahren in Prozessstandschaft für den Deutschen Bundestag gegen die Bundesregierung klagt, JA 2019, 315 (316); Sachs, Verfassungsprozessrecht : Organstreitverfahren, Jus 2019, 731 (732). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 061/20 Seite 5 Hält man für die generelle Nichtzurückweisung von Schutzsuchenden an den Grenzen des Bundesgebietes den Wesentlichkeitsvorbehalt für verletzt und damit eine Entscheidung des Bundestages für erforderlich, könnte die Bundesregierung die Entscheidung aus dem Herbst 2015 nicht durch eigene Maßnahmen „heilen“. Die Mitwirkung des 18. Bundestages könnte aufgrund des Ablaufs der 18. Wahlperiode auch nicht mehr nachgeholt werden. Der aktuelle Bundestag könnte jedoch – auch auf Initiative der Bundesregierung oder des Bundesrates13 – ein Gesetz erlassen, das die Voraussetzungen von § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG näher konkretisiert oder generelle (ggf. befristete) Ausnahmen für Schutzsuchende formuliert. Eine etwa in einem solchen Gesetz vorgesehene Rückwirkung wäre an den vom Bundesverfassungsgericht für diese formulierten Maßstäben zu messen. *** 13 Zur Frage, ob die Zustimmung des Bundesrates zu einem Gesetz als Mitwirkung der Länder zur Wahrung des Grundsatzes der Bundestreue genügt, vgl. Di Fabio, (Fn. 7), S. 32 f., 101 f.; Ewer/Thienel (Fn. 9), 378.