© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 059/17 Die geplante Verfassungsänderung in der Türkei Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 059/17 Seite 2 Das türkische Verfassungsreferendum am 16. April 2017 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 059/17 Abschluss der Arbeit: 1. März 2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 059/17 Seite 3 1. Einleitung In der Türkei betreiben die Regierungspartei (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP) und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) eine Verfassungsreform. Die Verfassung der Republik Türkei von 1982 soll wesentlich verändert werden.1 Ziel ist die Schaffung eines Präsidialsystems. Die Nationalversammlung hat dem Entwurf eines verfassungsändernden Gesetzes zugestimmt. Es tritt nach Art. 175 der Verfassung2 in Kraft, wenn es in einer Volksabstimmung am 16. April 2017 mit einfacher Mehrheit angenommen wird. Der Sachstand stellt die wesentlichen geplanten Verfassungsänderungen dar. Aufgrund der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit und der spärlichen Quellenlage in deutscher und englischer Sprache ist eine Bewertung der Änderungen im Hinblick auf Gewaltenteilung und „checks and balances“ nicht möglich.3 Eine deutsche Übersetzung des Änderungsgesetzentwurfs ist als Anlage 1 beigefügt. 2. Wesentliche geplante Verfassungsänderungen Die 21 Artikel des Änderungsgesetzes enthalten überwiegend Änderungen des dritten Teils der Verfassung über die Hauptorgane der Republik. Das Amt des Ministerpräsidenten und der Ministerrat sollen abgeschafft und die Regierung dem Staatspräsidenten unterstellt werden. Daneben werden zahlreiche weitere Änderungen im Wahlrecht und bei den Kompetenzen und der Zusammensetzung verschiedener Organe angestrebt. 2.1. Nationalversammlung Die Große Nationalversammlung, das türkische Parlament, wird vergrößert: Nach Art. 75 E soll sie künftig aus 600 statt aus bisher 550 Abgeordneten bestehen. Beim passiven Wahlrecht wird das Mindestalter von 25 auf 18 Jahre gesenkt. Während bisher Personen nicht wählbar sind, die den ihnen obliegenden Wehrdienst nicht abgeleistet haben, soll künftig nicht wählbar sein, wer „in Beziehung zum Militärdienst steht“ (Art. 76 E). Die Wahlperiode soll von vier auf fünf Jahre 1 Eine englische Übersetzung der türkischen Verfassung ist abrufbar auf der Website der Nationalversammlung: https://global.tbmm.gov.tr/docs/constitution_en.pdf; eine inoffizielle Synopse der geplanten Änderungen in englischer Sprache ist abrufbar unter https://politicsandlawinturkey.wordpress.com/publications/contributionsof -fellows/2017-amendment-proposal-to-the-turkish-constitution/; inoffizielle deutsche Übersetzungen sind abrufbar unter http://www.verfassungen.eu/tr/tuerkei82.htm und – mit synoptischer Darstellung der geplanten Änderungen – unter http://www.tuerkei-recht.de/downloads/verfassung.pdf; alle Internet-Quellen zuletzt abgerufen am 1. März 2017. 2 Alle im Folgenden genannten Artikel sind, soweit nicht anders angegeben, solche der türkischen Verfassung; Artikel des Reformentwurfs sind mit „E“ gekennzeichnet. 3 Vgl. hierzu mehrere Artikel in: Das Parlament, 67. Jg., Nr. 9-10 vom 27. Februar 2017. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 059/17 Seite 4 verlängert und damit an die des Staatspräsidenten angeglichen werden. Die Wahl zur Nationalversammlung und die Wahl des Staatspräsidenten sollen stets am selben Tag stattfinden (Art. 77 E). Scheiden Abgeordnete im Lauf einer Legislaturperiode aus, sollen keine Zwischenwahlen mehr durchgeführt werden, sondern Listenkandidaten nachrücken. Nach Art. 98, 106 E soll das Parlament künftig ein mehrstufiges Amtsenthebungsverfahren gegen den Vizepräsidenten und die Minister durchführen können. Ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Staatspräsidenten kann die Nationalversammlung nach geltendem Recht nur mit dem Vorwurf des Hochverrats begründen; auch hier soll ein mehrstufiges Verfahren geschaffen werden, das mit dem Vorwurf einer beliebigen Straftaten eingeleitet werden kann (Art. 105 E). Die bisher in Art. 99 geregelte Interpellation, ein Misstrauensvotum gegen den Ministerrat oder einen Minister, soll abgeschafft werden. Künftig soll sich die Nationalversammlung mit einer qualifizierten Mehrheit von drei Fünfteln der Sitze selbst auflösen und Neuwahlen herbeiführen können (Art. 116 E). Auch in diesem Fall finden zugleich Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Während Gesetzentwürfe nach geltendem Recht sowohl von den Abgeordneten als auch vom Ministerrat eingebracht werden können, soll dieses Recht nach der Reform nur noch den Abgeordneten zustehen (Art. 88 E). Schließlich ist beabsichtigt, ein parlamentarisches Fragerecht in die Verfassung aufzunehmen; für die Beantwortung der Fragen ist eine Frist von 15 Tagen vorgesehen (Art. 98 E). 2.2. Staatspräsident Der Staatspräsident soll nach Art. 101 E wie bisher direkt gewählt werden. Erforderlich ist eine absolute Mehrheit der gültigen Stimmen; gegebenenfalls findet eine Stichwahl statt. Die Präsidentschaftswahl und die Parlamentswahl finden gleichzeitig statt. Parteien, auf die bei der letzten Parlamentswahl mindestens 5 % der Stimmen entfallen sind, dürfen einen Kandidaten aufstellen . Während der gewählte Präsident bisher seine Parteimitgliedschaft niederlegen musste, soll er künftig Parteimitglied bleiben dürfen. Weiterhin sollen nur zwei Amtszeiten zulässig sein. Der Staatspräsident kann jedoch ein drittes Mal kandidieren, wenn er während seiner zweiten Amtszeit nach Art. 116 E das Parlament auflöst. Darin wird teilweise eine Möglichkeit gesehen, die Begrenzung der Amtszeit zu umgehen.4 4 Petersen/Yanaşmayan, The Final Trick? Separation of Powers, Checks and Balances, and the Recomposition of the Turkish State, Verfassungsblog, 28. Januar 2017, abrufbar unter http://verfassungsblog.de/the-final-trickseparation -of-powers-checks-and-balances-and-the-recomposition-of-the-turkish-state/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 059/17 Seite 5 Der Staatspräsident soll nicht nur – wie bisher – Staatsoberhaupt, sondern auch Regierungschef sein (Art. 104 E). Er soll den Vizepräsidenten und die Minister ohne Zustimmung des Parlaments ernennen und entlassen können, ebenso „leitende Beamte“. Die Reichweite des neu eingeführten Begriffs des „leitenden Beamten“ ist unklar.5 Nach Art. 104 E kann der Staatspräsident Präsidialverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen. Die derzeit zum Erlass von Verordnungen erforderliche Ermächtigung durch die Nationalversammlung (Art. 91) ist dann nicht mehr erforderlich. Bestimmte Regelungsbereiche sollen dem Verordnungsrecht entzogen sein. Im Konfliktfall setzt sich ein Parlamentsgesetz gegen eine Präsidialverordnung durch. Änderungen erfahren in Art. 119 E auch die Regelungen zum Ausnahmezustand. Erklärt der Staatspräsident den Ausnahmezustand, so darf er unter anderem ohne inhaltliche Beschränkungen Präsidialverordnungen erlassen. Das Vetorecht des Staatspräsidenten gegen Parlamentsgesetze soll gestärkt werden: Nach Art. 89 E kann ein Veto des Staatspräsidenten nur von einer Mehrheit der Mitglieder der Parlaments überstimmt werden; bisher genügt die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Außerdem kann der Staatspräsident wie bisher Gesetze, die er für verfassungswidrig hält, dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorlegen. Im Nationalen Sicherheitsrat unter Vorsitz des Staatspräsidenten soll der Oberkommandeur der Gendarmerie künftig keinen Sitz mehr haben (Art. 118 E). 2.3. Judikative Militärgerichte sollen, mit Ausnahme der Disziplinargerichte, abgeschafft werden (Art. 142 E). In der Folge verkleinert sich das Verfassungsgericht von 17 auf 15 Mitglieder, da die Vertreter zweier Militärgerichtshöfe wegfallen. Der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte ist unter anderem für die Berufung, Beförderung, Versetzung und Entlassung von Richtern und Staatsanwälten und für Änderungen der örtlichen Zuständigkeit von Gerichten zuständig. Er soll künftig nur noch „Rat der Richter und Staatsanwälte “ heißen und ebenfalls verkleinert werden. Von den dann 13 Mitgliedern sollen neben dem Justizminister und einem Staatssekretär vier weitere Mitglieder vom Staatspräsidenten, die sieben übrigen von der Nationalversammlung ernannt werden. *** 5 Vgl. Öztürk/Gözaydın, Turkey’s draft constitutional amendments: harking back to 1876?, Verfassungsblog, 30. Dezember 2016, abrufbar unter http://verfassungsblog.de/turkeys-draft-constitutional-amendments-harkingback -to-1876/.