© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 058/16 Doppelsanktionen bei straffälligen Ausländern Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 058/16 Seite 2 Doppelsanktionen bei straffälligen Ausländern Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 058/16 Abschluss der Arbeit: 29.02.2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 058/16 Seite 3 1. Fragestellung Anlässlich der geplanten Verschärfung des Ausweisungsrechts im Hinblick auf straffällige Ausländer1 wird die Frage gestellt, in welchem Verhältnis strafrechtliche Sanktion und aufenthaltsrechtliche Folgen zueinander stehen. Konkret soll geprüft werden, ob die Ausweisung straffälliger Ausländer gleichsam als zweite Strafe neben die strafrechtliche Sanktion tritt und gegen das Verbot der Doppelbestrafung aus Art. 103 Abs. 3 GG verstößt („ne bis in idem“). Darüber hinaus geht es um die Frage, inwiefern die Ausweisungsmaßnahme, die zur strafrechtlichen Sanktion hinzukommt, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. 2. Strafrechtliche Sanktion und Ausweisung Die Ausweisung als mögliche aufenthaltsrechtliche Folge einer strafrechtlichen Verurteilung ist nicht schon Teil des Strafverfahrens. Sie ist insbesondere nicht als Nebenstrafe oder Nebenfolge im Sinne der §§ 44 Strafgesetzbuch (StGB) ausgestaltet. Vielmehr handelt es sich bei der Ausweisung straffälliger Ausländer um Maßnahmen, die im Rahmen gesonderter aufenthaltsrechtlicher Verfahren ergehen. Die Ausweisung von Ausländern bestimmt sich nach den §§ 53 ff. Aufenthaltsgesetz (AufenthG).2 Dabei wiegt das nach § 53 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer „wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist“. Nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer „wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist“. Handelt es sich bei dem Ausländer um einen anerkannten Asylberechtigten oder Flüchtling, kommt eine Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur in Betracht, „wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist“. Eine Ausweisung wirkt sich unmittelbar aufenthaltsrechtlich aus, denn nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG erlischt der Aufenthaltstitel durch eine Ausweisung. Auch wenn die dadurch entstehende Ausreisepflicht (§ 50 Abs. 1 AufenthG) ggf. nicht vollzogen werden kann, da Abschiebungshindernisse vorliegen, gehen mit dem Verlust des Aufenthaltstitels erhebliche Nachteile einher. Der Verlust einer Asylberechtigten, Flüchtlingen und international subsidiär Schutzberechtigten nach § 25 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis hat beispielsweise zur Folge, dass die uneingeschränkte Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach § 25 Abs. 1 S. 3 AufenthG entfällt. Die Folgen einer Ausweisung können damit für den Betroffenen auch bei einem Verbleib in der Bundesrepublik besonders schwer wiegen. 1 Vgl. dazu den Entwurf eines Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern, BT-Drs. 18/7537. 2 Ausführlich dazu Wissenschaftliche Dienste, Auswirkungen begangener Straftaten auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik (WD 3 - 3000 - 255/15). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 058/16 Seite 4 Die nun vorgesehene Verschärfung des Ausweisungsrechts bezieht sich insbesondere auf die ergänzende Konkretisierung des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 AufenthG sowie des schweren Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 2 AufenthG. Beiden Vorschriften soll jeweils eine Nr. 1a angefügt werden, wonach rechtskräftige Verurteilungen zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe wegen der Begehung vorsätzlicher Straftaten gegen besondere Rechtsgüter und unter besonderer Begehungsweise als besonders schwerwiegendes oder schwerwiegendes Ausweisungsinteresse zu berücksichtigen sind. Das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse soll dabei an ein Mindeststrafmaß von einem Jahr anknüpfen. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG begründet aber nicht schon das Vorliegen eines schweren oder besonders schweren Ausweisungsinteresses eine Ausweisung. Vielmehr ist das Ausweisungsinteresse „nur“ Teil einer umfangreichen Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteressen, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird „ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, (…) ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt“. 3. Verbot der Doppelbestrafung Nach Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden. Fraglich ist, ob die Ausweisung nach den §§ 53 ff. AufenthG eine Bestrafung nach den allgemeinen Strafgesetzen darstellt. Das Merkmal der allgemeinen Strafgesetze hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 1967 strikt von Maßnahmen des Dienst- und Ordnungsrechts abgegrenzt.3 Bereits aus der Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 3 GG folge, dass das Doppelbestrafungsverbot nicht disziplinar- oder ordnungsrechtliche Maßnahmen umfassen sollte.4 Im Hinblick auf die in der Entscheidung fragliche Verhängung einer Disziplinarstrafe verwies das Bundesverfassungsgericht ferner auf den unterschiedlichen Charakter von allgemeinen Strafgesetzen und Disziplinarmaßnahmen : „Die Disziplinarstrafe dient dagegen nicht der Vergeltung eines Verstoßes gegen eine allgemeine Rechtsnorm. Sie ist darauf gerichtet, Ordnung und Integrität innerhalb eines Berufsstandes zu gewährleisten und bezweckt, den der Disziplinargewalt Unterworfenen zur korrekten Erfüllung seiner Berufspflichten anzuhalten oder ihn, wenn er für einen geordneten Dienstbetrieb nicht mehr tragbar ist, aus seiner Berufsstellung zu entfernen.“5 3 BVerfGE 21, 391. 4 BVerfGE 21, 391, 401. 5 BVerfGE 21, 391, 404. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 058/16 Seite 5 Dementsprechend fallen nach allgemeiner Auffassung unter die allgemeinen Strafgesetze im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG lediglich die Vorschriften des Kriminalstrafrechts.6 Zu den Vorschriften der Kriminalstrafrechts gehören ordnungsrechtliche Maßnahmen wie die Ausweisung nach den §§ 53 ff. AufenthG jedoch nicht.7 Die hier fragliche Ausweisung von straffälligen Ausländern unterfällt damit nicht dem Verbot der Doppelbestrafung aus Art. 103 Abs. 3 GG.8 4. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Auch wenn die Ausweisung, die zur strafrechtlichen Sanktion hinzukommt, nicht unter das Verbot der Doppelbestrafung aus Art. 103 Abs. 3 GG fällt, stellt sich die Frage, inwieweit das Nebeneinander von strafrechtlicher Sanktion und Ausweisung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in Fällen zum Nebeneinander von strafrechtlicher und disziplinarrechtlicher Sanktion entschieden, dass sowohl bei der Strafzumessung eine vorangegangene Disziplinarmaßnahme als auch bei der Disziplinarmaßnahme eine vorangegangene Kriminalstrafe zu berücksichtigen sei.9 Zur Begründung verweist das Bundesverfassungsgericht eher unspezifisch auf die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, worunter aber auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fällt.10 Im hier relevanten Kontext von Ausweisungen bedarf es eines allgemeinen Rückgriffs auf das Rechtsstaatsprinzip nicht. Angesichts der Grundrechtsrelevanz – die Ausweisung betrifft den straffälligen Ausländer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG11 – ist die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes schon grundrechtlich geboten. Wie oben bereits erwähnt begründet die Annahme eines schweren oder besonders schweren Ausweisungsinteresses wegen einer strafrechtlichen Verurteilung nach § 54 AufenthG nicht schon die Ausweisungsentscheidung nach § 53 Abs. 1 AufenthG. Vielmehr erfordert § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen, wobei alle Umstände des Einzelfalls (§ 53 Abs. 2 AufenthG) zu berücksichtigen sind. Diese Vorschrift, die im Rahmen einer 6 Vgl. Degenhart, in: Sachs, GG (7. Aufl., 2014), Rn. 80 zu Art. 103; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG (Loseblatt -Slg., Stand: Dezember 1992), Rn. 291 zu Art. 103 Abs. 3; Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG (13. Aufl., 2014), Rn. 83 zu Art. 103 m.w.N. 7 Siehe dazu auch BVerfG NVwZ 2007, 1300 f., das den ordnungsrechtlichen Charakter von Ausweisungen wie folgt beschreibt: „Die Ausweisung verfolgt als ordnungsrechtliche Maßnahme nicht den Zweck der Ahndung eines bestimmten Verhaltens. Sie soll vielmehr künftige Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder Beeinträchtigungen sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland auf Grund des Aufenthalts von Ausländern im Inland verhindern bzw. ihnen vorbeugen (…).“ 8 Die Ausweisung straffälliger Ausländer stellt zudem keine nach der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässige Doppelbestrafung dar, vgl. BVerwG, Beschluss v. 21.07.2015, BeckRS 2015, 49497, mit Hinweis auf die insoweit einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. 9 BVerfGE 21, 378; BVerfGE 27, 180, 185. 10 Zur Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei Mehrfachsanktionen siehe auch Schmidt- Aßmann (Fn. 6), Rn. 275 ff. m.w.N. 11 BVerfG NVwZ 2007, 1300: „Die Ausweisung ist ein Eingriff in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers (…). Der Eingriff liegt im Entzug des Aufenthaltsrechts und der daraus folgenden Verpflichtung zur Ausreise (…).“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 058/16 Seite 6 gesetzlichen Neustrukturierung des Ausweisungsrechts eingeführt wurde,12 soll nach dem Willen des Gesetzgebers eine „Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ ermöglichen.13 Damit ist es möglich, die strafrechtliche Sanktion bei der Entscheidung über die Ausweisung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Zu beachten ist aber, dass mit der strafrechtlichen Sanktion und der Ausweisung unterschiedliche Zwecke verfolgt werden. Während die strafrechtliche Sanktion auf die Ahndung des rechtlich missbilligten Verhaltens abzielt, geht es im Ausweisungsrecht um die Abwehr von Gefahren, die von straffälligen Ausländern ausgehen (können). Aus dieser unterschiedlichen Zielrichtung folgt, dass das bloße Nebeneinander von strafrechtlicher Sanktion und Ausweisungsmaßnahme nicht schon gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt.14 Besondere Härten, wie z.B. eine zusätzliche Bestrafung im Heimatstaat,15 können jedoch im Rahmen der konkreten Einzelfallprüfung berücksichtigt werden.16 Ende der Bearbeitung 12 Vgl. das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BGBl. I 2015, 1386. 13 Siehe BT-Drs. 18/4097, 49 (Hervorhebung nicht im Original). 14 In diesem Sinne Schmidt-Aßmann (Fn. 6). Rn. 280 zu Art. 103, der davon ausgeht, dass „Doppelsanktionen desto eher zulässig sind, je deutlicher die mit ihnen verfolgten Aufgaben und Ziele voneinander getrennt sind, und dass sie desto eher zu unterbleiben haben, je enger ihre Ziele beieinander liegen“. 15 Vgl. Kraft, Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ausweisung im Ausländerrecht, DVBL 2013, 1219, 1222 m.w.N. 16 Vgl. dazu auch BGH NStZ 2002, 196. Zur Berücksichtigung der ausländerrechtlichen Folgen bei der Strafzumessung siehe Pfaff/Otto-Hanschmann, in: Widmaier u.a. (Hrsg.), Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung (2. Aufl., 2014), § 34.