© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 057/18 Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems aus verfassungsrechtlicher Sicht Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 057/18 Seite 2 Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems aus verfassungsrechtlicher Sicht Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 057/18 Abschluss der Arbeit: 27.02.2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 057/18 Seite 3 1. Einleitung Im Rahmen der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wird u.a. diskutiert, die Konzepte des sicheren Dritt- und Herkunftsstaates durch eine EU-Verordnung zur regeln (Asylverfahrensverordnung ).1 Vor diesem Hintergrund wird darum gebeten, Materialien zusammenzustellen , die sich mit der Frage befassen, welche verfassungsrechtlichen Vorgaben bei einer Reform der sicheren Dritt- und Herkunftsstaatenregelungen auf Unionsebene „hinsichtlich verfolgter Gruppen und auch bestimmter Regionen (…) in jedem Fall einzuhalten sind“. 2. Sichere Dritt- und Herkunftsstaaten nach Art. 16a Abs. 2 und 3 GG Nach Art. 16a Abs. 2 GG schließt die Einreise aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder aus einem anderen Drittstaat, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GFK) und der Konvention zum Schutze der Menschrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sichergestellt ist, eine Berufung auf das Asylgrundrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG von vornherein aus. Die sicheren Staaten außerhalb der Europäischen Union (sichere Drittstaaten) werden durch Gesetz bestimmt. In diesem Sinne wurden Norwegen und die Schweiz als sichere Drittstaaten eingestuft, § 26a Abs. 2 i.V.m. Anlage I zu § 26a Asylgesetz (AsylG). Weitere Einzelheiten zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Einstufung eines Staates außerhalb der Europäischen Union als sicherer Drittstaat gemäß Art. 16a Abs. 2 GG zulässig ist, führt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Verfassungsgemäßheit der Drittstaatenregelung BVerfG NVwZ 1996, 700 ff. Anlage 1 näher aus. Insbesondere verweist es darauf, der Drittstaat müsse beiden in Art. 16a Abs. 2 GG genannten Konventionen beigetreten sein und sich ihren Kontrollverfahren unterworfen haben (S. 703). Ferner müssten die Organe des Staates nach dessen Rechtsordnung verpflichtet sein, die Konventionen auch anzuwenden (S. 703). Die damit einhergehende Prüfung durch den Drittstaat, ob dem Ausländer Verfolgung im Sinne von Art. 33 GFK oder Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK drohe, müsse zwar nicht in einem Verfahren erfolgen, das im Wesentlichen dem deutschen Asylverfahren entspreche. Von einer Sicherstellung der Anwendung könne in der Regel jedoch nicht mehr gesprochen werden, wenn entweder nach der nationalen Rechtsordnung oder nach politischen Vorgaben Gruppen von Personen von vornherein nicht als Flüchtlinge in Betracht gezogen würden (S. 703). Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien zur Einstufung von Staaten außerhalb der Europäischen Union als sichere Drittstaaten finden in der Literatur Zustimmung, vgl. nur Günther, in: Kluth/Heusch, Beck`scher Online-Kommentar Ausländerrecht (Stand: November 2011), Rn. 11 f. zu § 26a AsylG Anlage 2. 1 Vgl. Art. 45 ff. der Verordnung zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU, KOM(2016) 467 endg. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 057/18 Seite 4 Nach Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG können durch Gesetz Staaten bestimmt werden, bei denen aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Ziel der Festlegung sicherer Herkunftsstaaten ist die Entlastung begründen, dass sie in der Regel aussichtslos sind. Eine Widerlegung der Verfolgungssicherheit von Behörden und Gerichten durch die Beschleunigung von solchen Asylverfahren, die die Annahme im Einzelfall bleibt aber nach Art. 16a Abs. 3 S. 2 GG ausdrücklich möglich. Ohne Widerlegung wird der Asylantrag eines Ausländers aus einem sicheren Herkunftsstaat nach § 29a Abs. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Zu den sicheren Herkunftsstaaten gehören nach § 29a Abs. 2 AsylG die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie die in der Anlage II zu § 29a AsylG bezeichneten Staaten: – Albanien, – Bosnien und Herzegowina, – Ghana, – Kosovo, – Mazedonien, ehemalige jugoslawische Republik, – Montenegro, – Senegal und – Serbien. In seiner Entscheidung zur Verfassungsgemäßheit der Regelung über sichere Herkunftsstaaten BVerfG NVwZ 1996, 691 ff. Anlage 3 konkretisiert das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Einschätzung sicherer Herkunftsstaaten durch den Gesetzgeber. So weist das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Verfolgungssicherheit darauf hin, dass die Beurteilung der allgemein herrschenden Situation maßgeblich sei. Finde eine auch nur regionale politische Verfolgung statt, so sei nicht gewährleistet, dass „in diesem Staat allgemein politische Verfolgung nicht stattfindet“. Sicherheit vor politischer Verfolgung müsse daher im Rahmen des Art. 16a Abs. 3 GG landesweit bestehen (S. 693). Ebenso wenig könne ein Staat zu einem sicheren Herkunftsstaat bestimmt werden, wenn dort nur Angehörige einer bestimmten Gruppe verfolgt werden. Art. 16a Abs. 3 GG sei darauf gerichtet, für bestimmte Staaten im Wege einer vorweggenommenen generellen Prüfung durch den Gesetzgeber feststellen zu lassen, dass in ihnen allgemein keine politische Verfolgung stattfinde und deshalb die (widerlegbare) Vermutung der offensichtlichen Unbegründetheit individueller Asylbegehren aufgestellt werden könne. Dieses Konzept gerate indes schon ins Wanken, wenn ein Staat bei genereller Betrachtung überhaupt zu politischer Verfolgung greife, sei diese auch (zur Zeit) auf eine oder einige Personen- oder Bevölkerungsgruppen begrenzt (S. 693). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 057/18 Seite 5 Das Bundesverfassungsgericht hat darüber hinaus Sorgfaltspflichten aufgestellt, die der Gesetzgeber bei der Einordnung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten zu beachten hat. Die Berücksichtigung dieser Vorgaben bei der Einstufung der Staaten Bosnien und Herzegowina, ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien und Serbien wurde in der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Verfassungsmäßigkeit der Neuregelungen des Asylrechts zu sicheren Herkunftsstaaten (WD 3 - 3000 - 313/14) Anlage 4 untersucht. Weitere Informationen zur Einstufung des Kosovo als sicherer Herkunftsstaat finden sich in der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Der Kosovo als sicherer Herkunftsstaat (WD 3 - 3000 - 266/15) Anlage 5. 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die unionsrechtliche Ausgestaltung? Die oben genannten verfassungsrechtlichen Vorgaben binden nach Art. 16a Abs. 2 und 3 GG den nationalen Gesetzgeber. Sie beziehen sich allein auf den nationalen asylrechtlichen Schutz des Art. 16a Abs. 1 GG. Nicht umfasst von diesem Schutz ist der aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben zu gewährende internationale Schutz in Form der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und der Anerkennung der international subsidiären Schutzberechtigung.2 Da sich die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf den internationalen Schutz bezieht, sind insoweit allein die primärrechtlichen Vorgaben des Unionsrechts maßgeblich. Vertiefend behandelt wird das Verhältnis zwischen dem Verfassungs- und dem Unionsrecht in Bezug auf die Asylgewährung in der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zum Verhältnis zwischen den verfassungs- und unionsrechtlichen Vorgaben der Asylgewährung (WD 3 - 3000 - 275/16) Anlage 6. *** 2 Zu den unionsrechtlichen Rechtsgrundlagen des Asylrechts vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages , Aktueller Begriff, Kategorien des asylrechtlichen Schutzes in Deutschland (Nr. 30/15), abrufbar unter: https://www.bundestag.de/blob/399484/0eaad68b0a3fa65669f964738bac3f25/kategorien-des-asylrechtlichenschutzes -in-deutschland-data.pdf.