© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 055/16 Reformüberlegungen zur Begrenzung der Mandatszahl im Deutschen Bundestag Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 055/16 Seite 2 Reformüberlegungen zur Begrenzung der Mandatszahl im Deutschen Bundestag Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 055/16 Abschluss der Arbeit: 16. Februar 2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 055/16 Seite 3 Im Zuge der öffentlichen Anhörung des Innenausschusses vom 14. Januar 2013 zur Wahlrechtsreform hatten sich die Sachverständigen u.a. auch mit dieser Problematik auseinandergesetzt. So gab es z. B. den Vorschlag, die Zahl der Wahlkreise auf etwa 275 herabzusetzen und entsprechend paritätisch die Ausgangsgröße des Parlaments auf 550 Abgeordnete festzulegen, mit der sich die endgültige Bundestagsgröße mit unter 600 Parlamentariern vermutlich einhalten ließe.1 Ebenso wurde die Einführung von Mehrpersonenwahlkreisen ins Spiel gebracht.2 Ausgeführt wurde zu dieser Idee beispielsweise, dass eine bloße Reduzierung der Wahlkreise etwa auf ein Drittel der Sollgröße des Bundestages das Konzept des Wahlkreises ad absurdum führen könne. Durch Mehrmandatswahlkreise könnten mehr Abgeordnete in weniger Wahlkreisen gewählt werden. Die Gefahr von Überhangmandaten reduziere sich stark, wenn die Wahl im Wahlkreis ein Proporz im Kleinen sei und biete eine bessere Personalisierung als das bisherige Wahlrecht.3 Weiter wird in der Wahlrechtsliteratur seit 2013 u.a. vertreten, dass die beste Option wäre, vom Proporzdenken gänzlich Abschied zu nehmen.4 Dafür biete sich in erster Linie das relative Mehrheitswahlrecht an, das aber – trotz seiner nach wie vor gegebenen Vorteile für die Regierungs - und Oppositionsbildung – inzwischen nicht mehr der politischen Mentalität der deutschen Bürger entspreche. Ähnliches gelte auch für das „Grabenwahlrecht“, bei dem es keine Verrechnung zwischen der Erst- und Zweitstimme, das heißt zwischen den Direktmandaten und den Listen, gebe. Erwägenswert sei aber das absolute Mehrheitswahlrecht mit Stichwahl, weil es zu klaren Mehrheiten führen könne, bei der Entscheidung über künftige Koalitionen dem Wähler ein Mitspracherecht eingeräumt und das Argument der „verlorenen“ Stimmen relativiert werde. Aus Bürgermeisterund Landratswahlen sei es dem Wähler vertraut. Durch die Auflösung der sozialen Milieus und die zunehmende Mobilität habe sich auch die Problematik des Wahlkreiszuschnitts verringert. Auch wird geäußert, dass es bei Einführung des Ausgleichsmandatsmodells nahe gelegen hätte, das Zweitstimmensystem aufzugeben und die Stimme für Wahlkreisabgeordnete wie schon zur Wahl des 1. Deutschen Bundestages von 1949 zugleich für die Liste zu buchen.5 Dieses Einstimmenwahlrecht sah vor, dass 60 Prozent der damals 400 insgesamt zu wählenden Abgeordneten in 242 Einwahlkreisen nach der relativen Mehrheit gewählt wurden und die übrigen 40 Prozent mit der gleichen – einzigen – Stimme nach Landeslisten. So würde u. a. durch die hiermit verbundene 1 Pukelsheim, Innenausschuss, A-Drs. 17(4)634 A, S. 10; für eine Herabsetzung der Zahl der Wahlkreise auch: Sacksofsky, Innenausschuss, A-Drs. 17(4)634 B, S. 4. 2 Behnke, Innenausschuss, A-Drs. 17(4)640, S. 15 unter Verweis auf Behnke, Überhangmandate und negatives Stimmgewicht: Zweimannwahlkreise und andere Lösungsvorschläge, in: ZParl 2010, H. 1, S. 247 ff. 3 Fehndrich, Innenausschuss, A-Drs. 17(4)634 C, S. 13. 4 Molt, Seitenblick Wahlrecht, Siege der Taktik, in: KAS, Die politische Meinung 2014, S. 88 ff., S. 91. 5 Meyer, Das Bundestagswahlrecht 2013, in: Bürger und Staat 2013, S. 208 ff., S. 210. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 055/16 Seite 4 Beseitigung des Stimmensplittings die Zahl der Überhangmandate und damit der nötigen Ausgleichsmandate erheblich reduziert.6 Darüber hinaus wird eine Änderung des Verhältnisses von Wahlkreis- und Listenmandaten im Sinne der Reduzierung der Wahlkreise von dem derzeitigen Verhältnis zu den Listenmandaten von 50:50 auf etwa 40:60 erörtert, um die Überhänge und Ausgleichsmandate zu reduzieren, die durch die Diskrepanz von Direktwahl- und Zweitstimmenerfolgen erzielt würden.7 Die vollständige innerparteiliche Verrechnung von Überhangmandaten auf der Bundesebene nach dem Vorbild des Entwurfs der Fraktion Die Linke8 aus der letzten Wahlperiode wird als Lösungsansatz auch erwähnt, aber wegen des damit verbundenen regionalen Repräsentationsdefizits eher kritisch gesehen.9 Des Weiteren wird die als „Pukelsheim III“ bezeichnete direktmandatsorientierte Proporzanpassung als denkbare Methode der Stimmenverrechnung ins Feld geführt.10 Hierbei werden die Abgeordneten des Bundestages nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt, die Verbindung von Personen- und Verhältniswahl aber neu ausgestaltet. Es sollen das negative Stimmgewicht vollständig vermieden, die optimale Erfolgswertgleichheit der Zweitstimmen im Wahlgebiet durch Ausgleich der durch Überhandmandate entstandenen Verzerrungen des Parteienproporzes erzielt und die Personenwahlergebnisse auf Landesebene bewahrt werden.11 Föderale Unproportionalitäten werden in Kauf genommen.12 Aus den Auswertungen vergangener Bundestagswahlen wurde geschlussfolgert, dass mehr als nur die Direktmandatsgewinne selbst vorzumerken sind. Beispielsweise errang die CDU bei der Wahl 2009 bundesweit 173 Direktmandate und die Oberzuteilung wies ihr ebenso viele Verhältnissitze zu. Die Wahlkreissieger würden den Sitzanspruch voll ausschöpfen, Listenmandate zur verhältnismäßigen Berücksichtigung der Landeslisten stünden keine zur Verfügung. Bei „Pukelsheim III“ wird zur Umgehung dieses Engpasses die Zahl der bundesweiten Direktmandate jeder Partei, für die zwei 6 Meyer, Das Bundestagswahlrecht 2013, in: Bürger und Staat 2013, S. 208 ff., S. 210. 7 Grzeszick, Wahlrecht: Ist nach der Reform vor der Reform, in: ZG 2014, S. 239 ff., S. 244 u. 259; Meyer, Das Bundestagswahlrecht 2013, in: Bürger und Staat 2013, S. 208 ff., S. 211. 8 BT-Drs. 17/11821. 9 Holste, Demokratie wieder flott gemacht: Das neue Sitzzuteilungsverfahren im Bundeswahlgesetz sichert das gleiche Wahlrecht, in: NVwZ 2013, S. 529 ff., S. 533. 10 Weinmann, Führt das Wahlrecht zur „Aufblähung“ des Bundestages? Simulationsrechnungen auf der Basis des neuen Wahlrechts, in: APuZ 2014, S. 719 ff., S. 723; siehe zur Methode „Pukelsheim III“ im Detail: Peifer/Lübbert /Oelbermann/Pukelsheim, Direktmandatsorientierte Proporzanpassung: Eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl ohne negative Stimmgewichte, in: DVBl 2012, S. 725 ff. 11 Peifer/Lübbert/Oelbermann/Pukelsheim, Direktmandatsorientierte Proporzanpassung: Eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl ohne negative Stimmgewichte, in: DVBl 2012, S. 725 ff., S. 727; Weinmann, Führt das Wahlrecht zur „Aufblähung“ des Bundestages? Simulationsrechnungen auf der Basis des neuen Wahlrechts, in: APuZ 2014, S. 719 ff., S. 723 f. 12 Peifer/Lübbert/Oelbermann/Pukelsheim, Direktmandatsorientierte Proporzanpassung: Eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl ohne negative Stimmgewichte, in: DVBl 2012, S. 725 ff., S. 727. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 055/16 Seite 5 oder mehr Landeslisten zugelassen sind, um einen festen Prozentsatz erhöht und das erhöhte Ergebnis als Mindestsitzzahl vorgemerkt. Dabei wird ein Aufschlag von zehn Prozent für sachgemäß gehalten. Aufgrund dieser Erhöhung verbleiben den Parteien mit mehreren Landeslisten immer einige Listenmandate. Für Parteien mit nur einer Landesliste wird keine Erhöhung vorgesehen, weil eine verhältnismäßige Berücksichtigung mehrerer Landeslisten nicht ansteht. Außerdem werden die Reformvorschläge „Pukelsheim III“ und das Einstimmenwahlsystem daraufhin untersucht, ob sie zu kleineren Bundestagen führen würden.13 „Pukelsheim III“ führe im Durchschnitt und in einer großen Mehrheit der Simulationen zu kleineren Bundestagen und ermögliche in über einem Drittel der Fälle auch die Einhaltung der Regelgröße und könne für eine Reform zur Verkleinerung des Bundestages prinzipiell empfohlen werden. Weiter wird festgestellt, dass es speziell in Situationen, in denen ein politisches Lager deutlich überlegen sei und dabei noch vom Stimmensplitting profitiere, nach dem neuen Wahlrecht eine erhebliche Vergrößerung des Bundestages auftreten.14 In dieser Konstellation schneide „Pukelsheim III“ allerdings schlechter ab als das bestehende Wahlrecht, da es noch sensibler für variierendes Wahlverhalten sei. Dieses zweite Problem lasse sich nur durch eine Reform der Direktmandatsverteilung lösen. Eine entsprechende Reform müsste daher zur Folge haben, dass die große Partei des jeweils dominierenden Lagers insbesondere in Situationen, in denen sie deutlich überlegen ist, weniger Direktmandate gewinne, damit weniger Überhangmandate und dadurch weniger Ausgleichsmandate und kleinere Bundestage entstünden.15 Zum ebenfalls getesteten Einstimmenwahlrecht wird festhalten, dass die Rückkehr zu diesem eine Reformoption sei, die tatsächlich Potential berge, um die deutlichsten Vergrößerungen zu vermeiden. Jedoch seien die genauen Wirkungen schwer vorherzusehen, da nicht bekannt ist, wie sich das Wahlverhalten bei einer Reform der Stimmgebung verändern würde. Letztlich wird eine Kombination verschiedener Methoden als zielführend zur Einhaltung der Regelgröße von 598 Mandaten und zur Verhinderung extrem großer Bundestage betrachtet, d.h. eine Änderung der Stimmenverrechnung (wie z. B. „Pukelsheim III“) in Verbindung mit einem geänderten Verfahren der Direktmandatsverteilung (z. B. Einstimmensystem, Senkung des Direktmandatsanteils , Einführung von Mehrpersonenwahlkreisen, absolute Mehrheitswahl im Einerwahlkreis ).16 Ende der Bearbeitung 13 Weinmann, Führt das Wahlrecht zur „Aufblähung“ des Bundestages? Simulationsrechnungen auf der Basis des neuen Wahlrechts, in: APuZ 2014, S. 719 ff., S. 719 ff. 14 Weinmann, Führt das Wahlrecht zur „Aufblähung“ des Bundestages? Simulationsrechnungen auf der Basis des neuen Wahlrechts, in: APuZ 2014, S. 719 ff., S. 719 ff., S. 739. 15 Weinmann, Führt das Wahlrecht zur „Aufblähung“ des Bundestages? Simulationsrechnungen auf der Basis des neuen Wahlrechts, in: APuZ 2014, S. 719 ff., S. 719 ff., S. 740. 16 Weinmann, Führt das Wahlrecht zur „Aufblähung“ des Bundestages? Simulationsrechnungen auf der Basis des neuen Wahlrechts, in: APuZ 2014, S. 719 ff., S. 719 ff., S. 740.