© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 054/20 Sanktionen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu SGB II-Sanktionen Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 2 Sanktionen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu SGB II-Sanktionen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 054/20 Abschluss der Arbeit: 19. März 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Allgemeine Dokumente 4 3. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 6 3.1. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 6 3.2. Weitere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 7 4. Wirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 8 5. Verfassungsrechtliche Beurteilung von Leistungskürzungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 8 5.1. Kommentarliteratur 8 5.2. Aufsätze 10 5.2.1. Position: verfassungswidrig 10 5.2.2. Position: verfassungskonform 12 5.2.3. Weitere Literaturhinweise 13 6. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts 14 7. Rechtsprechung der Sozialgerichte 15 8. Neue Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 17 9. Bedeutung der Erkenntnisse der Bundesregierung zu Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Sanktionsregelung 18 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 4 1. Einleitung Die Dokumentation befasst sich mit der verfassungsrechtlichen Betrachtung von Leistungskürzungen nach § 1a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Insbesondere steht dabei die grundrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) im Fokus. Aus dieser lassen sich auch potentielle Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 zu den Sanktionen nach § 31a Sozialgesetzbuch II (SGB II) auf die Möglichkeit der Anspruchseinschränkung ableiten. 2. Allgemeine Dokumente Einen sehr umfangreichen Überblick über die verfassungsrechtliche Bewertung der Leistungskürzungen nach dem AsylbLG im Allgemeinen gibt die folgende Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste. Darin wird sowohl die Rechtsprechung und Literatur als auch die Genese der letzten Änderung des AsylbLG aufgearbeitet: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Änderungen durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht im Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012, WD 6 - 3000 - 091/19 vom 18. September 2019; abrufbar unter https://www.bundestag .de/resource/blob/668554/5968ff59c47628c7aec6c20d59ffd573/WD-6-091-19-pdfdata .pdf (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Alle Leistungstatbestände und möglichen Einschränkungen nach dem AsylbLG erklärt ausführlich der Sachstand: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Überblick zu Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Ansprüche und Anspruchseinschränkungen, WD 6 - 3000 - 137/19 vom 23. Januar 2020; abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/681254/724f14ae6f257a528be9e7d9ab124a9c/WD-6-137-19-pdf-data.pdf (zuletzt abgerufen am 12. März 2020), Zu den Leistungseinschränkungen auch noch allgemein und überblicksartig: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Sanktionen im Leistungsrecht für Asylbewerber und Flüchtlinge – Asylbewerberleistungsgesetz, Zweites und Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch, WD 6 - 3000 - 053/16 vom 18. April 2016; abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/424068/2d082f9f6274714874df1bea2a673c3c/WD-6-053-16-pdf-data.pdf (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 5 Zu den Auswirkungen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 auf die Leistungen für Asylbewerber: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012, WD 6 - 3000 - 141/16 vom 6. Februar 2017; abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/497916/d56d205aa526b9ef0f888025f5d6faa0/WD- 6-141-16-pdf-data.pdf (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Darüber hinaus zu der vorausgegangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 mit einem ausführlichen Überblick über das damalige Schrifttum: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Hinblick auf das „Regelsatzurteil“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), WD 6 - 3000 - 026/11 vom 23. Februar 2011; abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/412478/24f05fd074a8b6bbaf7172f2a314c855/WD-6-026-11-pdf-data.pdf (zuletzt aufgerufen am 12.3.2020). Im Ausschuss für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages wurden in einer Sachverständigenanhörung am 3. Juni 2019 zahlreiche Experten zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (BT-Drs. 19/10047) angehört. Wie die veröffentlichten Gutachten deutlich machen, sind auch mehrere Sachverständige damals auf die verfassungsrechtliche (Un-)Zulässigkeit der Leistungsbeschränkungen eingegangen:1 Protokoll-Nr. 19/57, Protokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat vom 3. Juni 2019; abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/654800/5b21a9247815f9b5477a6947a756dfd5/Protokoll-03-06-2019-12-30- data.pdf (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Im Übrigen hat die Bundesregierung in der BT-Drs. 19/12777 kurz zu Leistungskürzungen nach dem AsylbLG (§ 1a Abs. 4) Stellung genommen. „Die Vereinbarkeit der Regelungen mit verfassungs - und europarechtlichen Vorgaben wurde intensiv geprüft.“ Das Ergebnis der Prüfung der Vereinbarkeit der Regelungen mit dem Grundgesetz wird mit einer vergleichbaren Behandlung der Leistungsempfänger mit solchen nach dem SGB XII begründet; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. vom 28. August 2019, Streichung von Leistungen für Asylsuchende im europäischen Kontext, BT-Drs. 19/12777, S. 5; abrufbar unter http://dip21.bundestag .de/dip21/btd/19/127/1912777.pdf (zuletzt aufgerufen am 12. März 2019). 1 Eine gute Zusammenfassung findet sich dazu bei den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages, WD 6 - 3000 - 091/19 vom 18. September 2019, S. 13 ff. (siehe oben unter 2.). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 6 Eine umfassende dogmatische Aufarbeitung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums wurde 2018 von Šušnjar und Greiser verfasst: Davor Šušnjar und Johannes Greiser, Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, Versuch einer dogmatischen Einordnung, ZFSH/SGB 2018, 256. Anlage 1 3. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 3.1. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 Mit Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 wurde entschieden, dass Sanktionen für Empfänger von Arbeitslosengeld II bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten grundsätzlich verfassungsgemäß sein können. Dies gilt jedoch nicht für die Regelungen, nach denen Sanktionen zu Minderungen des Regelbedarfs von mehr als 30 Prozent bis hin zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führen. Die Sanktionen sind zudem verfassungswidrig, wenn der Regelbedarf zwingend gekürzt wird, auch wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führt. Ebenso verfassungswidrig ist die Regelung der starren Dauer der Sanktionen von drei Monaten, die bislang nicht ermöglicht zu berücksichtigen, dass der Leistungsempfänger die Pflichterfüllung nachholt oder sich ernsthaft dazu bereiterklärt. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16; Entscheidung abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen /DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Überblick über den Inhalt des Urteils: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts; abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht .de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/bvg19-074.html (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Sanktionen für Empfänger von Arbeitslosengeld II, WD 3 - 3010 - 255/19 vom 13. November 2019; abrufbar unter https://www.bundestag .de/resource/blob/668146/69d8f99fa017d7dbd3b3f95f1ec42b31/BverfG-Sanktionen- ALG-II-data.pdf (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Claus-Peter Bienert, BVerfG: Teilweise Verfassungswidrigkeit der Hartz IV-Sanktionen – Auswirkungen für die Praxis, FD-SozVR 2019, 422342, beck-online. Anlage 2 Johannes Greiser und Davor Šušnjar, Teilweise Verfassungswidrigkeit von Leistungsminderungen im SGB II, NJW 2019, 3683. Anlage 3 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 7 Hervorzuheben ist, dass das Gericht auch in dieser Entscheidung auf einige Aspekte der Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG eingeht. Zwar werden diese nur in der Darstellung der Sach- und Rechtslage am Anfang der Entscheidung benannt, jedoch werden sie gerade bezüglich der Gemeinsamkeit oder der Unterschiede zu den entscheidungserheblichen Regelungen aus dem SGB II benannt. So heißt es zum Beispiel in Randnummer 38: „Das unterscheidet sich von den Vorgaben im Asylbewerberleistungsgesetz. Dort sind zwar ebenfalls Leistungsminderungen vorgesehen, wenn Mitwirkungs- und Meldepflichten verletzt werden (zum Beispiel nach § 1a AsylbLG). Dann werden jedoch nach § 1a Abs. 2 Satz 2 AsylbLG weiterhin Leistungen für Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie für Körper- und Gesundheitspflege erbracht. Mangels Übernahme der Kosten für die Unterkunft besteht dagegen hier das Risiko der Wohnungslosigkeit, da nach zwei Monaten des Rückstands mit Mietzahlungen die fristlose Kündigung ausgesprochen werden kann (§ 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB).“ Des Weiteren wird in Randnummer 40 am Ende angeführt: „Anders als nach § 67 SGB I und § 1a Abs. 5 Satz 2 AsylbLG besteht im Übrigen keine Möglichkeit , Leistungen nachträglich wieder zu erbringen, wenn die Mitwirkung nachgeholt wird.“ Somit wird durch das Bundesverfassungsgericht für zwei wichtige Begründungsstränge der Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelung nach § 31a SGB II auf abweichende Regelungen nach dem AsylbLG hingewiesen. 3.2. Weitere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts In zwei Nichtannahmebeschlüssen hat das Bundesverfassungsgericht 2017 und 2019 eine Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Leistungskürzungen nach § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG a.F. abgelehnt. Der Grund dafür lag jeweils in dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bei vorläufigen Rechtsschutzverfahren, also nicht in originär asylrechtlichen Fragen. Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 19. September 2017 - 1 BvR 1719/17; abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen /DE/2017/09/rk20170919_1bvr171917.html (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 8. November 2019 - 1 BvR 2413/19; abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen /DE/2019/11/rk20191108_1bvr241319.html (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Unter dem Aktenzeichen 1 BvR 2682/17 ist beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde gegen das unten (Punkt 6.) aufgeführte Urteil des Bundessozialgerichts anhängig. Zur evident unzureichenden Höhe der Geldleistungen nach § 3 AsylbLG und dem aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantierten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, äußerte sich das Bundesverfassungsgericht bereits 2012. Die Garantie umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 8 die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, BVerfGE 132, 134; abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen /DE/2012/07/ls20120718_1bvl001010.html (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Insbesondere ist in Randnummer 95 der Hinweis enthalten: „Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie und Senioren <13. Ausschuss > vom 24. Mai 1993, BTDrucks 12/5008, S. 13 f.). Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ 4. Wirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 Nach § 31 Abs. 2 S. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft in einem konkreten Normkontrollverfahren. Bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November handelt es sich um eine solche im Rahmen eines konkreten Normkontrollverfahrens. Zudem binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden, § 31 Abs. 1 BVerfGG. Die Bindungswirkung entsteht dabei jedoch nur für die konkreten, der Entscheidung zugrundeliegenden Rechtsfragen. Bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November bezieht sie sich mithin nur auf die spezifisch erfassten Sanktionen nach § 31a in Verbindung mit § 31 und § 31b SGB II. Die Thematik könnte abschließend durch die Vorlage (etwa in einer konkreten Normenkontrolle) an das Bundesverfassungsgericht geklärt werden. Dazu kann auch das bereits erwähnte (oben Punkt 3.2.) anhängige Verfahren beim Bundesverfassungsgericht (Aktenzeichen 1 BvR 2682/17) beitragen. 5. Verfassungsrechtliche Beurteilung von Leistungskürzungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Fast alle Literaturhinweise beziehen sich noch auf einen Stand der Veröffentlichung vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019. 5.1. Kommentarliteratur Für verfassungskonform hält Wahrendorf die Möglichkeiten der Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG und begründet dies ausführlich. Er weist dabei auch noch einmal auf zahlreiche weitere Entscheidungen insbesondere der Landessozialgerichte hin. Dass sich die Bewertung aktuell jedoch geändert haben könnte, könnte man einem Hinweis in Randnummer 12 entnehmen, in dem er schreibt: „Wird § 1a allein schon wegen der Einschränkung von Leistungen aufgrund eines Missbrauchs für verfassungswidrig gehalten, müssten auch die vergleichbaren, bisher aus Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 9 verfassungsrechtlicher Sicht nicht beanstandeten Tatbestände im SGB II und SGB XII ebenfalls verfassungswidrig sein.“ Volker Wahrendorf, Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 2017, § 1a, Rn. 10 - 17. Anlage 4 Ebenfalls für grundsätzlich verfassungskonform hält Seifert die Regelung. Sie weist darauf hin, dass das geringere Leistungsniveau nach dem AsylbLG im Vergleich zum SGB II eine verfassungskonforme (restriktive) Auslegung erfordere. In dieser Auslegung müssten die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden ebenso wie die systematischen Unterschiede zwischen den einzelnen Varianten der Leistungskürzung. Jutta Siefert, in: dies. (Hrsg.), Asylbewerberleistungsgesetz, Kommentar, 2018, § 1a, Rn. 4. Anlage 5 Vergleichbar argumentierten auch Decker und Cantzler. Andreas Decker, in: Oestreicher (Hrsg.), SGB II/SGB XII, Grundsicherung für Arbeitssuchende und Sozialhilfe mit Asylbewerberleistungsgesetz und Erstattungsrecht des SGB X, 84. EGL, Mai 2018, § 1a AsylbLG, Rn. 33. Anlage 6 Constantin Cantzler, Asylbewerberleistungsgesetz, Handkommentar, 2019, § 1a, Rn. 8, 9, 20, 33 ff., 56, 78, 91, 104 und 128. Anlage 7 Hinzuweisen ist für alle vier zitierten Kommentierungen jedoch darauf, dass diese sich jeweils nicht auf den aktuellen Stand des § 1a AsylbLG beziehen. Im Jahr 2019 wurde unter anderem die Formulierung des § 1a Abs. 1 AsylbLG geändert. Nach der alten Fassung konnte eine Kürzung bis zum im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar Gebotenen erfolgen, in der aktuell geltenden Fassung kann die Leistungskürzung nur bis zur Deckung der Bedarfe für Ernährung, Unterkunft, Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege erfolgen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 10 Kritisch gegenüber der Leistungskürzung steht Oppermann. In dieser Kommentierung wird neben einer ausführlichen Analyse der (mitunter älteren) Rechtsprechung darauf eingegangen, dass das soziokulturelle Existenzminimum zu der grundrechtlichen Gewährleistung gehört. Dagmar Oppermann, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020, Stand 9. März 2020, § 1a AsylbLG, Rn. 151 - 163. Anlage 8 5.2. Aufsätze Ein aktueller Aufsatz zu dem Themengebiet stammt von Deibel und geht bereits auf die Rechtsänderungen aus August und September 2019 ein. Auch er nimmt erste verfassungsrechtliche Bewertungen vor, wobei diese je nach Leistungskürzungstatbestand unterschiedlich eindeutig ausfallen. Er verweist auch auf die (anstehende) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den SGB II-Sanktionen und dass diese maßgeblich für die weitere Bewertung sein wird. Klaus Deibel, Die Neuregelungen im Asylbewerberleistungsrecht 2019 , ZFSH/SGB 2019, 541, 545 ff. Anlage 9 Ob § 1a AsylbLG verfassungswidrig sei, fragt auch (ohne dies klar zu entscheiden) der Aufsatz von Birk und zeigt unterschiedliche Argumente auf: Ulrich-Arthur Birk, Das neue Asylbewerberleistungsgesetz, info also 2015, 51, 53. Anlage 10 5.2.1. Position: verfassungswidrig Ausführlich prüft Voigt die einzelnen Tatbestände, die zu einer Leistungskürzung im AsylbLG führen können, anhand der Vorgaben der Entscheidung des BVerfG vom 5. November 2019. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass sämtliche Sanktionen nach dem AsylbLG verfassungswidrig seien. Dies liege unter anderem in dem Umfang der Leistungskürzungen, fehlenden Einzelfallprüfungen, bei denen Härtefälle identifiziert werden könnten und in einem fehlenden Nachweis der Wirksamkeit der Sanktionen zur Erreichung des gewünschten Verhaltens begründet. Claudius Voigt, Gesetzlich minimierte Menschenwürde, Das Sanktionsurteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Auswirkungen auf das AsylbLG, Asylmagazin 2020, 12. Anlage 11 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 11 Für in mehrerer Hinsicht verfassungswidrig hält Kanalan die Leistungseinschränkungen nach § 1a AsylbLG. Insbesondere weil die Einschränkung der Mittel, die für eine Sicherstellung des menschenwürdigen Daseins erforderlich seien, von einem „persönlichen Fehlverhalten“ abhängig gemacht würden, liege ein Widerspruch zur durch Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Menschenwürde vor. Auch sei ein Verzicht auf die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums verfassungswidrig und zudem seien die verfahrensrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht eingehalten: Ibrahim Kanalan, Sanktionen im Sozialleistungsrecht: Zur Verfassungswidrigkeit der Leistungseinschränkungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, ZFSH/SGB 2018, 247. Anlage 12 Kritisch hinterfragt werden die Leistungskürzungen von „Personen, die nach Ablehnung des Asylantrags ausreisepflichtig sind und abgeschoben werden dürfen, aber wegen von ihnen zu vertretender praktischer Hindernisse nicht abgeschoben werden können“ auch durch Christine Langenfeld, Asyl und Migration unter dem Grundgesetz, NVwZ 2019, 677, 683. Anlage 13 Der Aufsatz von Spitzlei differenziert zwischen der für die verfassungsrechtliche Bewertung erforderlichen Verfolgung legitimer Zwecke der einzelnen Tatbestände des § 1a AsylbLG und der Angemessenheit der Rechtsfolge. Insbesondere aufgrund der Kürzung der Leistungen für das soziokulturelle Existenzminimum geht er von einer Verfassungswidrigkeit aus; Thomas Spitzlei, Asylbewerberleistungsrecht und grundgesetzliches Existenzminimum, JA 2017, 165. Anlage 14 Oppermann verweist mit Blick auf die durch das Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Grenzen auf die verfassungsrechtlichen Hürden der Leistungseinschränkungen: Dagmar Oppermann, Leistungseinschränkungen und Sanktionen als Mittel zur Bewältigung der Flüchtlingswelle, ZESAR 2017, 55. Anlage 15 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 12 Verfassungsrechtlich kritisch sieht Voigt die Regelungen der Leistungskürzung und geht dabei sowohl auf europarechtliche Vorgaben ein, als auch auf mehrere in der Anwendung der Regelungen umstrittene Fragen: Claudius Voigt, Asylbewerberleistungsgesetz, Feindliche Übernahme durch das Ausländerrecht , info also 2016, 99. Anlage 16 Brings/Oehl vertreten, dass sowohl in materieller wie prozeduraler Hinsicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG widersprochen wird. Insbesondere die fehlende Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums als auch die fehlende Einhaltung der prozeduralen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, nach der die Differenzierungen und Berechnungen begründungspflichtig seien, führen sie zu dieser Einschätzung; Tobias Brings/Maximilian Oehl, Verfassungswidrige Kürzungen und nachgeschobene Berechnungen – zur verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit der jüngsten Reformen des AsylbLG im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum menschenwürdigen Existenzminimum, ZAR 2016, 22. Anlage 17 Schließlich vertrat auch jüngst Mülder die Ansicht, dass in Anbetracht der Entscheidung des BVerfG vom 5. November 2019 die Leistungskürzungen nach dem § 1a AsylbLG nicht mit der Verfassung vereinbar seien. Sie stellt dabei insbesondere darauf ab, dass das soziokulturelle Existenzminimum dann nicht mehr hinreichend gewährleistet sei. Marje Mülder, Licht am Ende des verfassungswidrigen Tunnels?, SGb 2020, 30, 34. Anlage 18 5.2.2. Position: verfassungskonform Kreßel vertritt die Ansicht, dass „das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht immer einen uneingeschränkten Anspruch auf Sicherung des physischen und soziokulturellen Existenzminimums“ beinhalte. „Dies bedeutet, dass die Leistungseinschränkungen in § 1 a AsylbLG bei Missbrauch grundsätzlich möglich sind und auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit nicht verletzen; sie sind auch geeignet, einen möglichen Missbrauch einzugrenzen , zumindest hat hier der Gesetzgeber einen weiten Beurteilungsspielraum.“ Eckhard Kreßel, Mitwirkungspflichten und Sanktionen bei der Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen, NZS 2019, 730, 738 f. Anlage 19 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 13 Um eine verfassungskonforme Auslegung der alten Fassung des § 1a AsylbLG bemüht sich Petersen: Volkert Petersen, Das unabweisbare Gebotene im Sinne des § 1a AsylbLG – neu justiert, ZFSH/SGB 2014, 669. Anlage 20 Rothkegel geht ausführlich darauf ein, dass nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2012 Menschenwürdeschutz nicht nach Maßgabe bedarfsunspezifischer Gesichtspunkte relativierbar sei. Dies überträgt er sodann auf die Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG. Nach der so erforderlichen verfassungskonformen Auslegung der Norm sei der Tatbestand stark einzuschränken und um ein ungeschriebenes Merkmal der Ausreisemöglichkeit und -zumutbarkeit zu erweitern. Auch die verfassungsrechtliche Beurteilung der Sanktionen nach § 31a SGB II nimmt der Autor mit in seinen Beitrag auf und sieht auch diese Regelung bereits damals als verfassungsrechtlich bedenklich an; Ralf Rothkegel, Das Gericht wird's richten – das AsylbLG-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Ausstrahlungswirkungen, ZAR 2012, 357, 359 ff. Anlage 21 Für eine weitere Leistungsbeschränkung als ein Baustein zur Missbrauchsabwehr im Asylrecht argumentiert Dietz. Er sieht es trotz der bekannten verfassungsrechtlichen Bedenken als tatsächlich geboten an, einen weiteren Tatbestand zur Leistungskürzung einzuführen, um die Einreise von Personen aus sicheren Herkunftsstaaten, die kaum realistische Bleibeperspektiven haben, zu verringern. Andreas Dietz, Leistungseinschränkungen nach § 1a AsylbLG für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten, DÖV 2015, 727. Anlage 22 5.2.3. Weitere Literaturhinweise Neben den genannten Aufsätzen gibt es auch noch zahlreiche weitere Literatur, die sich mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben befasst. Da sich diese noch auf einen Zeitraum um die ersten beiden relevanten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2010 und 2012 zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums beziehen, werden diese hier nur kursorisch aufgezählt. - Martina Haedrich, Das Asylbewerberleistungsgesetz, das Existenzminimum und die Standards der EU-Aufnahmerichtlinie, ZAR 2010, 227. - Constanze Janda/Florian Wilksch, Das Asylbewerberleistungsgesetz nach dem „Regelsatz-Urteil“ des BVerfG, SGb 2010, 565. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 14 - Thorsten Kingreen, Schätzungen „ins Blaue hinein”, Zu den Auswirkungen des Hartz IV-Urteils des Bundesverfassungsgerichts auf das Asylbewerberleistungsgesetz, NVwZ 2010, 558. - Georg Classen/Ibrahim Kanalan, Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes , info also 2010, 243. - Christoph Görisch, Asylbewerberleistungsrechtliches Existenzminimum und gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum, NZS 2011, 646. 6. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Das Bundessozialgericht hat geurteilt, dass bei geduldeten oder vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern, Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ gekürzt werden dürfen, wenn bei diesen aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus allein von ihnen selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können. Dies sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Mai 2017 – B 7 AY 1/16 R, Entscheidung abrufbar unter: https://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/portal/t/10rp/page/bsjrsprod .psml?doc.hl=1&doc.id=KSRE142670208&documentnumber=974&numberofresults =4114&doctyp=juris-r&showdoccase=1&doc.part=L¶mfromHL=true#focuspoint (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020) Dazu näher und dies vor dem Hintergrund des auch das physische und soziokulturelle Existenzminimum umfassende Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums kritisch hinterfragend: - Constanze Janda, § 1a AsylbLG und das Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz: Bedarfsdeckung nur bei Rechtstreue? (§ 1a AsylbLG), SGb 2018, 344. Anlage 23 - Lothar Schneider, Zur Kürzung von Asylbewerberleistungen auf das unabweisbar Gebotene, NZS 2017, 875. Anlage 24 - Ibrahim Kanalan, Rechtstreue als Voraussetzung für den Anspruch auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, Zugleich Besprechung von BSG, Urt. v. 12.5.2017, B 7 AY 1/16 R, NZS 2018, 641. Anlage 25 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 15 7. Rechtsprechung der Sozialgerichte Zu der verfassungsrechtlichen Bewertung der jeweils aktuellen Tatbestände des § 1a AsylbLG hat sich auch die sozialgerichtliche Rechtsprechung bereits mehrfach geäußert. Soweit ersichtlich handelt es sich stets um Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz. Die Entscheidungen gehen wohl überwiegend von der Verfassungskonformität der Regelungen des § 1a AsylbLG aus.2 Nur wenige Gerichte nehmen aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken eine einschränkende, verfassungskonforme Auslegung vor.3 Eine gute Übersicht zum Stand der Gerichtsentscheidungen bis September 2019 findet sich in der bereits erwähnten Ausarbeitung. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Änderungen durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht im Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012, WD 6 - 3000 - 091/19 vom 18. September 2019, S. 19 ff. (siehe oben unter 2.). Auf die Rechtsprechung insbesondere zu der verfassungsrechtlichen erstinstanzlichen Bewertung des § 1a Abs. 4 AsylbLG geht zudem der Aufsatz von Schneider ein: Lothar Schneider, NZS-Jahresrevue 2017 – Asylbewerberleistungsgesetz, NZS 2018, 559, 564. Anlage 26 Einen weiteren Überblick zur instanzgerichtlichen Rechtsprechung bietet die bereits aufgeführte Kommentierung: Dagmar Oppermann, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, Stand 9. März 2020, § 1a AsylbLG, , Rn. 156 ff. Anlage 8 2 Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 31. Mai 2019 – L 4 AY 7/19 B ER; Bayerisches Landessozialgericht , Beschluss vom 11. November 2016 – L 8 AY 29/16 B ER; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 8. November 2018 – L 7 AY 4468/16; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18. März 2019 – L 8 AY 8/18 B ER. 3 So unter anderem SG Lüneburg, Beschluss vom 6. Juni 2017 – S 26 AY 10/17; SG Magdeburg, Beschluss vom 30. September 2018 – S 25 AY 21/18 ER; Bayrisches Landessozialgericht, Beschluss vom 17. September 2018 – L 8 AY 13/18 B ER, m. Anm. Filges, NZS 2019, 193; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19. November 2019 – L 8 AY 26/19 B ER. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 16 In den aktuellsten Entscheidungen der Sozialgerichte finden sich auch erste Auseinandersetzungen mit der Verfassungsmäßigkeit des § 1a AsylbLG nach der Entscheidung des BVerfG vom 5. November 2019. So entschied beispielsweise das SG Landshut, dass § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG mit der Verfassung vereinbar sei, da der Zweck der Beendigung des Sozialbezuges mit der vom BVerfG für zulässig erklärten Verbindung der Gewährung von staatlichen Leistungen zur Sicherung der Existenz mit der Befähigung zur eigenen Existenzsicherung übereinstimme. SG Landshut, Beschluss vom 28. Januar 2020 – S 11 AY 3/20 ER, Rn. 45 ff. Anlage 27 Auch das SG Osnabrück setzt sich mit der Übertragbarkeit der relevanten BVerfG-Entscheidung auseinander. Es kam dabei zu dem Ergebnis, dass der Zweck der Regelung des § 1a Abs. 7 AsylbLG – Anreiz zu einer freiwilligen Ausreise zu geben – nicht verfassungswidrig sei. Die Entscheidung des BVerfG könne auch nicht übertragen werden, insbesondere da der Wortlaut der Norm als Auslegungsgrenze eindeutig sei. SG Osnabrück, Beschluss vom 27. Januar 2020 – S 44 AY 76/19 ER, Rn. 30 ff. Anlage 28 Zweifel hingegen hat das SG Oldenburg, dass sowohl den migrationspolitischen Zweck der Sanktion als verfassungswidrig ansieht, als auch die effektive Zielerreichung durch die Sanktion, sowie die Unmöglichkeit diese durch Korrektur des eigenen Verhaltens abzuwenden. SG Oldenburg, Beschluss vom 20. Februar 2020 – S 25 AY 3/20 ER, Rn. 23 ff. Anlage 29 Schließlich geht das SG München unter Zugrundelegung der Entscheidung des BVerfG vom 5. November 2019 davon aus, dass § 14 Abs. 1 und 2 AsylbLG (Dauer der Einspruchseinschränkung) im Wege verfassungskonformer Auslegung teleologisch zu reduzieren ist. Danach muss die Behörde bei pflichtgemäßer Ermessensausübung in außergewöhnlichen Härtefällen von der Sanktionierung absehen, sowie die Leistungseinschränkung aufheben, sobald die sanktionierte Pflichtverletzung entfallen ist. SG München, Beschluss vom 10. Februar 2020 – S 42 AY 82/19 ER –, Rn. 46 f. Anlage 30 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 17 8. Neue Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs In einer Entscheidung vom 12. November 2019 (C‑233/18) hat der Europäische Gerichtshof für Recht erkannt: „Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist im Licht von Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, keine Sanktion vorsehen kann, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie, die sich auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung beziehen, auch nur zeitweilig entzogen werden, weil diese Sanktion dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Bei der Verhängung anderer Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie sind unter allen Umständen die in Abs. 5 dieses Artikels genannten Voraussetzungen, insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde, zu beachten. Im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen müssen die Sanktionen im Hinblick insbesondere auf Art. 24 der Charta der Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ergehen.“4 Entscheidung abrufbar unter http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=220532&pageIndex=0&doclang =DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=5227033 (zuletzt aufgerufen am 12. März 2020). Dem zugrunde lag ein Sachverhalt, bei dem einem, an einer Schlägerei in einem Unterbringungszentrum beteiligten, unbegleiteten minderjährigen Asylbewerber alle materiellen Leistungen für 15 Tage entzogen wurden, einschließlich solcher für Nahrung, Unterbringung und Gesundheitsfürsorge . Die Entscheidung nimmt in der Begründung selbst mehrfach auf die Menschenwürde Bezug, lässt aber die auch in der Richtlinie geregelten Sanktionen zu, solange der Zugang zur medizinischen Versorgung und ein würdiger Lebensstandard gewährleistet bleiben. Insofern lässt der Europäische Gerichtshof – auch ohne dies ausdrücklich zu formulieren – eine Differenzierung zwischen soziokulturellem und physischem Existenzminimum zu. 4 Hervorhebungen nur hier. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 18 9. Bedeutung der Erkenntnisse der Bundesregierung zu Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Sanktionsregelung In Randnummer 134 geht das BVerfG in seiner Entscheidung vom 5. November 2019 darauf ein, in welchem Maße die Erkenntnisse des Normgebers über die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahmen eine Rolle bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung spielen: „Hier ist der sonst bestehende Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers beschränkt. Zwar verfügt er regelmäßig über einen weiten Spielraum, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren, und kann sich dabei auch mit geringen Erfolgswahrscheinlichkeiten begnügen. Doch ist der Spielraum enger, wenn er auf existenzsichernde Leistungen zugreift. Der Gesetzgeber muss der Wahl und Ausgestaltung seines Konzepts eine verfassungsrechtlich tragfähige Einschätzung zugrunde legen; soweit er sich auf Prognosen über tatsächliche Entwicklungen und insbesondere über die Wirkungen seiner Regelung stützt, müssen diese hinreichend verlässlich sein (vgl. BVerfGE 88, 203 <262>). Je länger eine Minderungsregel in Kraft ist und der Gesetzgeber damit in der Lage, fundierte Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich auf plausible Annahmen zur Wirkung der Durchsetzungsmaßnahmen zu stützen. Umso tragfähigerer Erkenntnisse bedarf es dann, um die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit dieser Sanktionen zu belegen (zur abnehmenden Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers: BVerfGE 143, 216 <245 Rn. 71>).“5 In Bezug auf die SGB II-Sanktionen kam das BVerfG nach diesem aufgestellten Maßstab sodann zu dem Ergebnis, dass die nur begrenzten Erkenntnisse zu den Wirkungen der jeweiligen Sanktionen den dafür geltenden strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit in verschiedener Hinsicht nicht gerecht werden.6 Da es bei den Leistungen nach dem AsylbLG – ebenso wie jenen nach dem SGB II – um solche der Existenzsicherung handelt, ist bei einer Kürzung dieser ein vergleichbar beschränkter Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers anzunehmen. Eine solche Festlegung der Kontrolltiefe bei der Verfassungsinterpretation durch die Verfassungsgerichte ist gängige Praxis und auch allgemein anerkannt.7 Die Bundesregierung hat nach eigene Angaben8 keine Erkenntnisse zur Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Sanktionsregelungen des § 1a AsylbLG. Sie begründet dies damit, dass die Ausführung des AsylbLG den Ländern obliegt und daher die Bundesregierung keine Erkenntnisse 5 Hervorhebung nur hier. 6 BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16, Rn. 136 ff. 7 BVerfG, Beschluss vom 22. November 2016 – 1 BvL 6/14, 3/15, 4/15, 6/15, BVerfGE 143, 216, 245, Rn. 71; vgl. Borowski, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2014, § 274 Subjekte der Verfassungsinterpretation, Rn. 35 ff. m.w.N. 8 Antwort auf die schriftliche Frage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke vom 18.12.2019, BT-Drs. 19/16190, Nr. 89. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 054/20 Seite 19 habe.9 Der Mangel an Studien über die Eignung der Sanktionen wurde auch von der Rechtsprechung festgestellt.10 Dies führt jedoch nicht dazu, dass eine Erstreckung der Gesetzeskraftwirkung der Entscheidung des BVerfG auf die Sanktionen nach dem AsylbLG möglich wäre. Vielmehr ist eine selbstständige verfassungsgerichtliche Überprüfung dafür erforderlich.11 Die dargestellten Ausführungen des BVerfG machen jedoch deutlich, dass der Gesetzgeber über die entsprechenden Erkenntnisse verfügen muss. Mangelnde Informationen seitens der Länder können den Gesetzgeber insofern nicht entlasten, da es sich bei dem AsylbLG um ein Bundesgesetz handelt . Die Sanktionsvorschriften im AsylbLG wurden in den letzten Jahren mehrfach geändert und angepasst, zuletzt im Spätsommer 2019. Diese Gesetzesänderungen wurden soweit ersichtlich auch jeweils nicht mit spezifischen Erkenntnissen zur Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Sanktionen begründet.12 Zudem müssten für jeden einzelnen Leistungskürzungstatbestand des AsylbLG gesondert Erkenntnisse hinsichtlich der Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit vorliegen. Mitunter wird zwar durch die Rechtsprechung angenommen, dass das hinter § 1a Abs. 7 AsylbLG stehenden generalpräventive Ziel der Verhinderung von Sekundärmigration aus anderen EU-Mitgliedstaaten, der Schweiz, Island und Norwegen (nach einer gewissen Anlaufzeit) erreicht werden kann, im Einzelfall dürfte sich jedoch der Zweck der früheren Ausreise nicht realisieren, insbesondere da bis zur Abschiebung eine Ausreisepflicht ggf. nicht klar statuiert sei.13 Zu beachten ist schließlich, dass die teilweise von der Rechtsprechung und Literatur vorgenommene verfassungskonforme Auslegung der Sanktionstatbestände des AsylbLG bei dem Erfordernis hinreichender Erkenntnisse über deren Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit nicht hinweghelfen kann. *** 9 Siehe auch: Voigt, Asylmagazin 2020, 12, 15. 10 SG Osnabrück, Beschluss vom 27. Januar 2020 – S 44 AY 76/19 ER –, Rn. 47, Anlage 26. 11 Vgl. SG Osnabrück, Beschluss vom 27. Januar 2020 – S 44 AY 76/19 ER –, Rn. 47, Anlage 26. 12 Vgl. exemplarisch die letzte umfassende Änderung im Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 10.5.2019, BT-Drs. 19/10047, S. 51 f. 13 SG Oldenburg (Oldenburg), Beschluss vom 20. Februar 2020 – S 25 AY 3/20 ER –, Rn. 26 f.