© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 052/19 Zu den Aufgaben des bundesdeutschen Verfassungsschutzes Reichweite des gesetzlichen Auftrags im internationalen Vergleich Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/19 Seite 2 Zu den Aufgaben des bundesdeutschen Verfassungsschutzes Reichweite des gesetzlichen Auftrags im internationalen Vergleich Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 052/19 Abschluss der Arbeit: 22.03.2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung und Fragestellung 4 2. Begriffsklärungen 4 2.1. Zum Begriff des Verfassungsschutzes 4 2.1.1. Weites Verständnis 4 2.1.2. Enges Verständnis 4 2.2. Zum Begriff des Staatsschutzes 5 2.3. Zwischenfazit 5 3. Zur Reichweite des gesetzlichen Auftrags der bundesdeutschen Nachrichtendienste 5 3.1. Überblick über die bundesdeutsche Sicherheitsarchitektur 5 3.2. Nachrichtendienste als Ausdruck der Grundsatzentscheidung des Grundgesetzes für eine „streitbare“ Demokratie 6 3.3. Verfassungsschutz als Frühwarnsystem 7 3.4. Beschränkung der Beobachtung auf strafbares bzw. gewalttätiges Verhalten 9 4. Nachrichtendienstlicher Verfassungsschutz im internationalen Vergleich mit Blick auf den gesetzlichen Aufgabenbereich und Behördenaufbau 9 5. Fazit 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/19 Seite 4 1. Einleitung und Fragestellung Dieser Sachstand beschäftigt sich mit dem gesetzlichen Auftrag der deutschen Nachrichtendienste und geht der Frage nach, inwieweit die Ausgestaltung des bundesdeutschen Verfassungsschutzes ein Spezifikum gegenüber dem „Staatsschutz“ anderer Länder darstellt. Bevor auf die Reichweite des gesetzlichen Aufgabenbereichs der Nachrichtendienste im Spannungsfeld zwischen „Frühwarnsystem der Demokratie“ und „polizeilichem Staats- und Verfassungsschutz“ eingegangen wird, sollen zunächst die Begriffe des Verfassungsschutzes und des Staatsschutzes näher betrachtet werden. Am Ende dokumentiert der Sachstand vergleichende Darstellungen des bundesdeutschen nachrichtendienstlichen Verfassungsschutzes mit anderen internationalen Verfassungsschutzbehörden im Hinblick auf den jeweiligen gesetzlichen Aufgabenbereich und den Behördenaufbau. 2. Begriffsklärungen In der Literatur werden die Begriffe des Verfassungsschutzes und des Staatsschutzes unterschiedlich verstanden. 2.1. Zum Begriff des Verfassungsschutzes 2.1.1. Weites Verständnis Der Begriff des Verfassungsschutzes bezeichnet in seiner weiten Auslegung, „alle verfassungsmäßigen institutionellen Sicherungen gegen die Gefährdung oder Beseitigung der Verfassung“1. Im Sinne dieser weiten Interpretation betreiben über die Verfassungsschutzbehörden hinaus auch die gefahrintervenierenden Stellen den Schutz der Verfassung: Dazu gehören das Bundesverfassungsgericht (Stichwort: Parteiverbot, Art 21. Abs. 4 GG) und die Verbotsbehörden (Stichwort: Verbot von Vereinigungen, Art. 9 Abs. 2 GG) sowie die Strafverfolgungs- und Polizeibehörden, weil sie u.a. Straftaten verfolgen, die sich gegen die Verfassung richten. In der Literatur wird insofern zwischen dem verfassungsgerichtlichen Verfassungsschutz, dem behördlichen Verfassungsschutz und dem strafrechtlichen und polizeilichen Staats- und Verfassungsschutz differenziert.2 2.1.2. Enges Verständnis Im engen Sinne bezieht sich der Begriff Verfassungsschutz auf die Verfassungsschutzbehörden sowie auf die im Grundgesetz selbst verankerten Schutzbestimmungen zum Erhalt der Verfassung und insbesondere die in ihr enthaltene freiheitliche demokratische Grundordnung.3 1 Möllers, Wörterbuch der Polizei, 3. Auflage 2018 zum Begriff „Verfassungsschutz“. 2 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig, SicherheitsR des Bundes, 2. Aufl. 2018, BVerfSchG § 1 Rn. 9. 3 Möllers, (Fn. 1) mit weiteren Beispielen für Verfassungsschutznormen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/19 Seite 5 2.2. Zum Begriff des Staatsschutzes Der Begriff Staatsschutz wird nicht einheitlich verwendet. Teilweise wird er als umfassender Oberbegriff „derjenigen Einrichtungen, die den Bestand des Staates, seine innere und äußere Sicherheit einschließlich der Landesverteidigung, seine verfassungsmäßige Ordnung, die Tätigkeit der Verfassungsorgane, den ungestörten Ablauf von Wahlen und Abstimmungen, die Interessen der Bundesrepublik Deutschland an ungestörten internationalen Beziehungen, den Gedanken der Völkerverständigung, gegen Angriffe gleich welcher Art und welchen Ursprungs schützen sollen“4 verstanden. Nach diesem Verständnis wird Verfassungsschutz als Teil des Staatsschutzes angesehen. Andere Stimmen in der Literatur5 wenden sich gegen eine Gleichsetzung und differenzieren zwischen dem Staatsschutz, der der Abwehr von Gefahren für den Bestand und die Sicherheit staatlicher Einrichtungen diene und dem Verfassungsschutz, der die Staatsform mit der Gewähr ihrer rechtlichen und politischen Grundlagen schütze. An dieser Differenzierung von Staats- und Verfassungsschutz wird wiederum kritisiert, dass „der Verfassungsschutz integraler Bestandteil des Staatsschutzes“ sei. Dies zeige sich daran, „dass der Staatsschutzparagraph 81 Abs. 1 StGB den ‚Bestand‘ der Bundesrepublik Deutschland (s. § 92 Abs. 1 StGB) und ihre verfassungsmäßige Ordnung“ (gemeint ist die fdGO) erfasst, die in gleicher Weise auch Schutzgüter des Verfassungsschutzes sind (s. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG), wobei der änderungsfeste Kern der Verfassung sowohl zum Bestand i. S. d. §§ 81, 92 StGB als auch zur verfassungsmäßigen Ordnung i. S. d. § 81 Abs. 1 Nr. 2 StGB“6 gehöre. Dies führe dazu, dass man beide Begriffe gleichsetzen könne.7 2.3. Zwischenfazit Vor diesem Hintergrund erscheint es für die hier verfolgte Fragestellung nach der Reichweite des gesetzlichen Auftrags der Verfassungsschutzbehörden sinnvoll nicht zwischen Staatsschutz und Verfassungsschutz, sondern zwischen dem Verfassungsschutz als „Frühwarnsystem“ (im Folgenden unter 3.3) und dem Verfassungsschutz zur Gefahrenvorsorge und konkreten Gefahrenabwehr zu differenzieren (siehe dazu unter 3.4). 3. Zur Reichweite des gesetzlichen Auftrags der bundesdeutschen Nachrichtendienste 3.1. Überblick über die bundesdeutsche Sicherheitsarchitektur Bei der Gestaltung der Sicherheitsarchitektur hat sich der Gesetzgeber für eine Aufgliederung von Verfassungsschutzbehörden, Polizei und anderen staatlichen Stellen zur Sicherheitsgewährung 4 Roth, (Fn. 2). So auch Kastner zum Begriff „Staatsschutz“, in Möllers, Wörterbuch der Polizei, 3. Auflage 2018. 5 Nachweise bei Warg, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, V § 1 Rn. 95. 6 So Warg, (Fn. 5). 7 So Warg, (Fn. 5) mit weiteren Nennungen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/19 Seite 6 entschieden8 und Trennungsgebote in den jeweiligen Gesetzen zum Recht der Nachrichtendienste verankert.9 Auf Bundesebene bestehen in Deutschland drei Nachrichtendienste, die mit der Aufgabe des Verfassungsschutzes betraut sind: – das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), das als Inlandsnachrichtendienst Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen in Deutschland sammelt und dem Bundesministerium des Innern untersteht, – der Bundesnachrichtendienst (BND), der als Auslandsnachrichtendienst Erkenntnisse über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung sind, sammelt und dem Bundeskanzleramt untersteht sowie – der Militärische Abschirmdienst (MAD), der dem Bundesministerium der Verteidigung untersteht. Aufgabe des MAD ist die Extremismus-, Terrorismus- und Spionageabwehr im Bereich der Bundeswehr. Neben den Nachrichtendiensten des Bundes gibt es die Verfassungsschutzämter der Länder, die eng mit dem BfV zusammenarbeiten. 3.2. Nachrichtendienste als Ausdruck der Grundsatzentscheidung des Grundgesetzes für eine „streitbare“ Demokratie Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt für die Aufgabenbestimmung der Verfassungsschutzbehörden ist die grundgesetzliche Konzeption der „streitbaren“ oder auch „wehrhaften Demokratie“. Das Grundgesetz ist in seinem Inhalt nicht nur „in außerordentlich großem Maße von dem Willen des Gesetzgebers geprägt, die Bundesrepublik Deutschland als freiheitlichen demokratischen Staat zu konstituieren“, sondern zugleich auch „durch das Bestreben bestimmt, sicherzustellen, dass die Bundesrepublik auch immer ein freiheitlicher demokratischer Staat bleibt“10. Die Entscheidung des Parlamentarischen Rats für die besondere Wert- und Wehrhaftigkeit der nach dem Grundgesetz verfassungsrechtlich „neu“ ausgestalteten Demokratie ist im Lichte der „schrecklichen Erfahrungen 8 Ausführlich zum polizeilichen Staatsschutz und der Verhütung und Verfolgung von Staatsschutzkriminalität siehe die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, Polizeilicher Staatsschutz, WD 3 - 3000 - 248/12. 9 In der Literatur ist die Frage, ob dem Grundgesetz ein Trennungsgebot mit Verfassungsrang zu entnehmen ist, umstritten. Ausführlich dazu Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), WD 3 - 3000 - 406/18, S. 15 f. und Gusy, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, IV § 1 Rn. 29 f. 10 Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, 1982, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/19 Seite 7 aus dem totalitären System der NS-Herrschaft, die auf dem Boden der grundsätzlich liberalen Konzeption der Weimarer Reichverfassung entstehen konnte“11 zu sehen.12 Mit dem Begriff der „streitbaren Demokratie“ ist das Instrumentarium im Grundgesetz und in weiteren einfachen Gesetzen gemeint, mit dem sich der demokratische Staat gegen seine Feinde wehren kann.13 Hierunter fallen insbesondere die Instrumente des „präventiven Verfassungsschutzes“14 wie etwa die Möglichkeit von Vereinsverboten gemäß Art. 9 Abs. 2 GG, zur Verwirkung von Grundrechten gemäß Art. 18 GG und zum Verbot sowie Finanzierungsausschluss von Parteien gemäß Art. 21 Abs. 2 bis 4 GG. Die kompetenziell-organisatorischen Vorkehrungen in Art. 45d, Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 lit b. sowie in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG verdeutlichen, dass das Grundgesetz zur Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland die Errichtung von Verfassungsschutzbehörden und Nachrichtendienste ausdrücklich zulässt.15 Im Zusammenspiel mit den Instrumenten für den präventiven Verfassungsschutz, ergibt sich bereits auf Verfassungsebene eine eindeutige Funktionszuweisung für die Nachrichtendienste: Sie bilden das institutionell garantierte Aufklärungsinstrument der „streitbaren“ Demokratie.16 3.3. Verfassungsschutz als Frühwarnsystem Neben dem Trennungsgebot haben alle drei Nachrichtendienste die weitere zentrale Gemeinsamkeit , dass ihr gesetzlicher Auftrag darin besteht, Informationen zu sammeln, diese zu analysieren und den Bedarfsträgern zur Verfügung zu stellen. Die Sammlung von Informationen erfolgt zur Erledigung der gesetzlich vorgeschriebenen Beobachtungsaufgabe, die für das BfV in § 3 Abs. 1 BVerfSchG, für den BND in § 1 Abs. 2 BNDG und für den MAD in § 1 MADG geregelt sind. Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG und Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG nennen polizeiliche und verfassungsschützenden Aufgaben unmittelbar nebeneinander. Dies wird in der Literatur so interpretiert, dass die Aufgabentrennung von Polizei und Verfassungsschutzaufgaben verfassungsrechtlich angelegt ist. Der in Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG genannte Aufklärungsauftrag der Nachrichtendienste wird als „mehr und anders als Strafverhinderung oder -aufklärung“17 verstanden. Im Unterschied zur 11 Lindner/Unterreitmeier, Grundlagen einer Dogmatik des Nachrichtendienstrechts, DÖV 2019, S. 166. Ausführlich zur Geschichte der deutschen Nachrichtendienste siehe Krieger, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, I § 1 Rn. 33 ff. 12 Ausführlich dazu Klamt, Die Europäische Union als Streitbare Demokratie – Rechtsvergleichende und europarechtliche Dimensionen einer Idee, 2012, S. 1; Krüper, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, III § 1 Rn. 9 ff. 13 Volp, Parteiverbot und wehrhafte Demokratie, NJW 2016, S. 458. 14 Lindner/Unterreitmeier, (Fn. 11); BVerfG, Beschl. v. 13.7.2018, 1 BvR 1474/12 u.a., NVwZ 2018, S. 1788 Rn. 101. 15 BVerfGE 146, 1 Rn. 110; 143, 101 Rn. 126. 16 Lindner/Unterreitmeier, (Fn. 11), S. 168. 17 Gusy, (Fn. 9), IV § 1 Rn. 11. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/19 Seite 8 Polizei sind die Nachrichtendienste „nicht auf die konkrete Gefahrenabwehr bzw. Straftatenaufklärung fokussiert, sondern agieren typischerweise in deren Vorfeld und beobachten dabei mannigfaltige Bestrebungen auf ihr Gefahrenpotential hin“18. In der Verselbständigung der nachrichtendienstlicher Aufklärung wird der „Ausgleich zwischen der Grundentscheidung für die Anerkennung eines freien und offenen politischen Prozesses, der auch über dessen konstitutionalisierte Erscheinungsform hinaus denken und diskutieren darf, und derjenigen für die Ermöglichung eines politischen Frühwarnsystems im Hinblick auf mögliche Gefährdungen von Freiheit und Demokratie“19 gesehen. Im BVerfSchG kommt die Unterschiedlichkeit der Aufgaben von Verfassungsschutzbehörden und Polizei deutlich zum Ausdruck. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG beobachten die Verfassungsschutzbehörden Bestrebungen, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung des Grundgesetzes gerichtet sind.20 Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung findet sich an verschiedenen Stellen im Grundgesetz,21 insbesondere bei den Instrumenten des präventiven Verfassungsschutzes. Er wird im Grundgesetz aber nicht definiert. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist jedoch nicht nur Schutzgut, sondern bildet gleichzeitig auch die Schranke der Tätigkeit des Verfassungsschutzes.22 Das BVerfG geht davon aus, dass es nur eine freiheitliche demokratische Grundordnung gebe und hat ihre einzelnen Elemente im Parteiverbotsverfahren zur Sozialistischen Reichspartei entwickelt und in den Verbotsverfahren zur Kommunistischen Partei Deutschlands sowie zur NPD weitgehend bestätigt.23 Art. 91 GG (Innerer Notstand) und Art. 87a Abs. 4 GG (Streitkräfte) regeln kompetentielle Aspekte des Einsatzes von Polizei, Bundesgrenzschutz und Streitkräfte und setzen in ihrem Tatbestand eine „drohende Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ voraus. Diese erhöhten Voraussetzungen für den Fall des inneren Notstands schließen jedoch nicht die Entscheidung für ein politisches Frühwarnsystem und den mit der Beobachtung verbundenen Eingriffen in die Freiheitsrechte der Betroffenen aus. 18 Warg, (Fn. 5), V § 1 Rn. 7, mit weiteren Nennungen. 19 Gusy, (Fn. 9), IV § 1 Rn. 12. 20 Warg, (Fn. 5), V § 1 Rn. 46. 21 Siehe Art. 10 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2, Art. 18, 21 Abs. 2, Art. 73 Abs. 1 Nr. 10b, Art. 87a Abs. 4 Satz 1 und Art. 91 Abs. 1 GG; ähnlich Art. 9 Abs. 2 GG. 22 Hecker, in: Dietrich/Eiffler (Hrsg.), Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, II § 2 Rn. 5. 23 BVerfGE 2, 1 (SRP-Verbot); BVerfGE 5, 85 (KPD-Verbot), BVerfGE 144, 20, Rn. 529ff (NDP-Urteil). Zu den einzelnen Elementen, die die fundamentalen Verfassungsgrundsätze, die die freiheitliche Demokratie entscheidend vom totalitären Staat abgrenzen und einfachgesetzlich in § 4 BVerfG wiederholt werden siehe Warg, (Fn. 5), II § 2 Rn. 47. Zum Aufgabenbereich nach §§ 3, 4 BVerfSchG siehe auch den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, Die Definition der Aufgaben des Verfassungsschutzes, WD 3 - 3000 - 348/18. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/19 Seite 9 3.4. Beschränkung der Beobachtung auf strafbares bzw. gewalttätiges Verhalten In der Literatur24 wird eine Beschränkung des Aufgabenverständnisses der Verfassungsschutzbehörden auf strafbares bzw. gewalttätiges Verhalten diskutiert. So könnte der Staat nicht mehr an die politische Bestrebungen anknüpfen und die extremistische Agitation als solche beobachten und inkriminieren und statt dessen nur das strafbare Verhalten von Verfassungsgegnern in den Fokus nehmen. Die Verfassungsschutzbehörden würden bei einer solchen Aufgabenbeschreibung erst bei der konkreten Androhung oder Ausübung von politisch motivierten Gewalttaten oder der Äußerung nachweislich gefährlicher Hasspropaganda tätig werden dürfen. Es wird darauf hingewiesen, dass eine Reduktion auf die Abwehr konkreter Gefahren einen Verzicht auf das Konzept des Verfassungsschutzes als „Frühwarnsystem der Demokratie“ bedeuten würde. Gegen eine Reduktion wird eingewandt, dass diese den Gefahren „im Zeitalter schneller ideologischer Radikalisierung und asymmetrischer globalisierter Konflikte“ nicht ausreichend gerecht werden könne.25 Das BVerfG hat festgestellt, dass eine vorweggenommene staatliche Selbstverteidigung möglich sein müsse. Je höherrangiger das Schutzgut und je größer der drohende Schaden, umso eher dürfe der Rechtsstaat auch herabgesetzte Eingriffsschwellen vorsehen und desto geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Eintritts des Schadens stellen.26 4. Nachrichtendienstlicher Verfassungsschutz im internationalen Vergleich mit Blick auf den gesetzlichen Aufgabenbereich und Behördenaufbau Einen Überblick über Nachrichtendienste und ihrer Aufgaben in ausgewählten EU-Staaten gibt die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste, Nachrichtendienste und ihre Aufgaben in ausgewählten EU-Staaten (WD 3 - 3000 - 034/17). Ausgehend von der Rechtslage des bundesdeutschen Verfassungsschutzes werden die Nachrichtendienste in Dänemark, Frankreich, den Niederlanden, Spanien und dem Vereinigten Königreich benannt, ihre Aufgaben dargestellt und in die Organisationsstruktur der Exekutive eingeordnet. Zusätzliche Informationen im Überblick über Nachrichtendienste in Israel, Italien, Kanada, Norwegen, der Schweiz, Südafrika und den Vereinigten Staaten von Amerika gibt die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste, Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste in ausgewählten Staaten – Aktualisierung der Ausarbeitung WF III G - 12/06 vom 23. Januar 2006 (WD 3 - 3000 - 016/17). 24 Siehe dazu Warg, (Fn. 5), V § 1 Rn. 93 f. 25 So Warg, (Fn. 5), V § 1 Rn. 93 f. mit weiteren Nennungen 26 BVerfGE 100, 313 (Rn. 271 f.); BVerfGE 113, 348 (Rn. 149). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/19 Seite 10 Die FRA Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat im Jahr 2015 eine Studie zum Thema „Surveillance by intelligence services: fundamental rights safeguards and remedies in the EU, Mapping Member States’ legal frameworks“ veröffentlicht. 27 Die Studie beschäftigt sich mit den verschiedenen rechtlichen Rahmenbedingungen der Nachrichtendienste in den europäischen Mitgliedsstaaten. In ihr findet sich auch eine Gegenüberstellung der verschiedenen Systeme, die die europäischen Mitgliedsstaaten gewählt haben. Wie die beiden Ausarbeitungen und die Studie zeigen, ist ein direkter Vergleich der Nachrichtendienste in unterschiedlichen Ländern problematisch, da sich die Strukturen der Nachrichtendienste erheblich unterscheiden. Erschwerend tritt der Umstand hinzu, dass ein Vergleich auch den jeweiligen Verfassungsrahmen einbeziehen müsste. Einen Überblick bietet insofern die Dissertation von Klamt28, der die Rechtsordnungen aller 27 EU-Mitgliedsstaaten und der Türkei auf Elemente streitbarer Demokratie untersucht hat. Er differenziert vier Modelle: „Nicht streitbare Verfassungsordnungen“, „Verfassungsordnungen mit geringer oder moderater Streitbarkeit“, „Verfassungsordnungen mit vergleichsweise stark ausgeprägter Streitbarkeit“ und „Streitbare Demokratien“. Dies führt dazu, dass letztlich jedes Konzept für sich genommen in seiner spezifischen Ausprägung „singulär“ ist. Diese Schwierigkeiten vorangestellt, kann festgehalten werden, dass Länder wie bspw. Dänemark und die Niederlande ihre Inlandnachrichtendienste mit der Aufgabe der Extremismusbeobachtung betraut haben, die Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung findet sich in der Aufgabenbeschreibung des Nachrichtendienstes von Südafrika. Die Untersuchung von Klamt zeigt auf, dass etliche EU-Mitgliedsstaaten wie bspw. Bulgarien, Deutschland, Estland, Griechenland, Polen, Portugal, Rumänien sowie die Tschechische Republik über eine systematische Streitbarkeit ihres rechtlichen Demokratieschutzes verfügen und viele weitere Staaten zwar weniger deutliche aber doch ausgeprägte Elemente streitbarer Demokratie in ihren Verfassungen verankert haben.29 Angesichts der Ergebnisse seiner rechtsvergleichenden Untersuchung kommt er zu der Folgerung, dass die rechtliche Verankerung streitbarer Demokratie kein deutsches Phänomen und weder in der west- noch in der osteuropäischen Verfassungswelt ein Novum geblieben ist.30 27 Die Studie wird über folgenden Link zum Download angeboten: Im Jahr 2016 hat die FRA noch eine Aktualisierung der Studie veröffentlicht. Diese steht unter dem folgenden Link zum Download zur Verfügung: http://fra.europa .eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2015-surveillance-intelligence-services_en.pdf. 28 Klamt, (Fn. 12). 29 Klamt, (Fn. 12), S. 209. 30 Klamt, (Fn. 12). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/19 Seite 11 5. Fazit Die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung, die Verfassungsschutzbehörden weit im Vorfeld von konkreten Gefahren agieren zu lassen, ist Ausdruck der Grundsatzentscheidung des Grundgesetzes für eine streitbare Demokratie und verfassungsrechtlich anerkannt. Die Idee der streitbaren Demokratie wird in der Literatur bisweilen als Unikum wahrgenommen. Die rechtsvergleichende Studie von Klamt zeigt jedoch auf, dass eine rechtliche Verankerung streitbarer Demokratie kein deutsches Phänomen ist. ***