© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 052/18 Zum Schutz der Meinungsfreiheit in Deutschland und in den USA Ergänzung zur Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 209/10 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 052/18 Seite 2 Zum Schutz der Meinungsfreiheit in Deutschland und in den USA Ergänzung zur Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 209/10 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 052/18 Abschluss der Arbeit: 06.03.2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 052/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Schutz der Meinungsfreiheit in Deutschland 4 2.1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 4 2.2. Netzwerkdurchsetzungsgesetz 7 3. Schutz der Meinungsfreiheit in den USA 8 3.1. Rechtsprechung des Supreme Court 8 3.2. Gesellschaftlicher Umgang mit Hassreden 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 052/18 Seite 4 1. Einleitung Die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste WD 3 - 3000 - 209/10 aus dem Jahr 2010 befasst sich mit dem Schutz der Meinungsfreiheit in Deutschland und in den USA.1 Dargestellt wurden die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Gewährleistung der Meinungsfreiheit und für Einschränkungen der Meinungsfreiheit zugunsten anderer Verfassungsgüter. Im Ergebnis wurde zu den Einschränkungsmöglichkeiten festgestellt, dass „die Meinungsfreiheit in den USA tendenziell auch dort überwiegt, wo in Deutschland der Ehrschutz im Vordergrund steht“. Die Meinungsfreiheit in den USA genieße einen fast unbedingten Vorrang vor den Persönlichkeitsrechten . Das amerikanische Recht unterscheide sich vom deutschen auch darin, dass im Falle einer Kollision der Meinungsfreiheit mit anderen Grundrechten keine Güterabwägung im Einzelfall stattfinde. Der Supreme Court habe vielmehr grundsätzliche Regelungen mit weitem Anwendungsbereich aufgestellt und kategorisiere die Fälle nach abstrakt-generellen Kriterien.2 So seien beispielsweise obszöne Äußerungen von vornherein vom verfassungsrechtlichen Schutz ausgenommen .3 Vor diesem Hintergrund wird um ergänzende Ausführungen zu den aktuellen Entwicklungen in Bezug auf den Schutz der Meinungsfreiheit in Deutschland und in den USA gebeten. Von besonderem Interesse ist dabei, ob sich – auch mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Debatten – der rechtliche Umgang mit sog. Hassreden (hate speech) grundlegend geändert hat. Der Begriff der Hassrede ist in Deutschland kein feststehender juristischer Begriff. Im Kern geht es jedoch um Meinungsinhalte, die sich gegen die persönliche Ehre und/oder die Menschenwürde richten.4 Besonders problematisch ist die Verbreitung von Hassreden im Internet. 2. Schutz der Meinungsfreiheit in Deutschland 2.1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung zum Schutz der Meinungsfreiheit im Verhältnis zum Ehr- und Menschenwürdeschutz in den letzten Jahren weiter ausdifferenziert, aber nicht grundlegend geändert. Bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, insbesondere der Strafvorschriften zum Ehr- und Menschenwürdeschutz, werden die betroffenen 1 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Freie Meinungsäußerung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA im Vergleich (WD 3 - 3000 - 209/10). 2 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 16. 3 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 15. 4 Vgl. hierzu die strafrechtliche Einordnung von „hate speech“ – insbesondere vor dem Hintergrund von § 130 StGB (Volksverhetzung) – der Wissenschaftlichen Dienste, Hass und Hetze im Strafrecht (Aktueller Begriff Nr. 28/16) sowie die begriffliche Annäherung von Möller, Der grundrechtliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Deutschland, England und den USA (2016), 259, wonach unter „hate speech“ ehrverletzende, extremistische oder volksverhetzende Äußerungen zu verstehen sind. Fohrbeck, Wunsiedel: Billigung, Verherrlichung, Rechtfertigung – Das Verbot nazistischer Meinungen in Deutschland und den USA (2015), 267 verweist auf die gängige Definition der amerikanischen Strafrechtswissenschaft, wonach unter „hate speech“ Äußerungen fallen, „die geeignet sind, eine Person oder eine Gruppe zu beschimpfen, einzuschüchtern oder zu belästigen sowie solche, die geeignet sind, zu Gewalt, Hass oder Diskriminierung aufzurufen“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 052/18 Seite 5 Grundrechte grundsätzlich durch Abwägung miteinander in Einklang gebracht, wobei die besondere , für die Demokratie schlechthin konstituierende Bedeutung der Meinungsfreiheit zu beachten ist.5 In diesem Zusammenhang sind die anspruchsvollen Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht für die Abwägung aufgestellt hat, hervorzuheben. So ist beispielsweise zu berücksichtigen, ob der Betroffene selbst den Anlass zur Meinungsäußerung gegeben hat oder ob es sich um eine öffentliche Auseinandersetzung über gesellschaftlich oder politisch relevante Fragen handelt.6 Soweit jedoch das Grundrecht der Menschenwürde verletzt ist, findet keine Abwägung mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit statt. In diesem Fall muss die Meinungsfreiheit stets zurücktreten .7 Voraussetzung für die Abwägung der Meinungsfreiheit mit dem Ehrschutz oder für die Feststellung einer Menschenwürdeverletzung ist aber zunächst die Deutung der Meinungsäußerungen . Da schon mit der Deutung von Meinungsäußerungen Vorentscheidungen über deren Zulässigkeit getroffen werden, stellt das Bundesverfassungsgericht an die Deutung hohe Anforderungen . Der objektive Sinngehalt einer Meinungsäußerung müsse zutreffend erfasst werden und verfassungskonforme Deutungsalternativen seien zu berücksichtigen und ggf. auszuschließen. Konkret führt das Bundesverfassungsgericht hierzu aus: „Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist allerdings, dass ihr Sinn zutreffend erfasst worden ist. (…) Ziel der Deutung ist die Ermittlung des objektiven Sinns einer Äußerung. Maßgeblich ist daher weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren. (…) Urteile, die den Sinn der umstrittenen Äußerung erkennbar verfehlen und darauf ihre rechtliche Würdigung stützen, verstoßen gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Dasselbe gilt, wenn ein Gericht bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legt, ohne vorher die anderen möglichen Deutungen mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen zu haben (vgl. BVerfGE 82, 43 [52]). Dabei braucht das Gericht freilich nicht auf entfernte, weder durch den Wortlaut noch die Umstände der Äußerung gestützte Alternativen einzugehen oder gar abstrakte Deutungsmöglichkeiten zu entwickeln, die in den konkreten Umständen keinerlei Anhaltspunkte finden. Lassen Formulierung oder Umstände jedoch eine nicht ehrenrührige Deutung zu, so verstößt ein Strafurteil, das diese übergangen hat, gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.“8 5 BVerfGE 7, 198, 208. 6 BVerfGE 93, 266, 293. 7 BVerfGE 93, 266, 293. 8 BVerfGE 93, 266, 295 f. (Hervorhebung nicht im Original). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 052/18 Seite 6 In der Praxis reicht es demnach nicht aus, Meinungsäußerungen mit einer schlüssigen Begründung einfach einen bestimmten Aussagegehalt beizumessen. Vielmehr bedarf es einer umfassenden Prüfung, die – nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums – den Kontext und die Begleitumstände berücksichtigt und sich ausdrücklich mit möglichen Deutungsalternativen auseinandersetzt. Vor dem Hintergrund dieser komplexen Deutungs- und Abwägungsvorgaben verwundert es nicht, dass zahlreiche Entscheidungen von Instanzgerichten vom Bundesverfassungsgericht korrigiert werden. So stellte das Bundesverfassungsgericht beispielsweise Deutungs- und Abwägungsfehler bei einer Verurteilung wegen Beleidigung in einem Fall fest, in dem es um die Bezeichnung einer Staatsanwältin als „dahergelaufen“, „durchgeknallt“, „widerwärtig“ und „dümmlich“ ging.9 Ein anderer Fall betrifft die Bezeichnung eines rehabilitierten DDR-Justizopfers als „Bandit“ und „Anführer einer terroristischen Vereinigung“.10 Das Bundesverfassungsgericht bemängelte, dass bei der strafrechtlichen Verurteilung der politische Kontext der Meinungsäußerung nicht hinreichend berücksichtigt worden sei. Die Meinungsäußerung habe nämlich nicht nur die betroffene Person verächtlich machen sollen, sondern sie sei auch darauf gerichtet gewesen, die Rehabilitierung durch die Bundesrepublik anzuprangern, die nach Ansicht des sich Äußernden einen „aus politischer Voreingenommenheit doppelbödigen Umgang mit der DDR- Vergangenheit“ zeige. Für den Schutz auch dieser Meinung durch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG komme es nicht darauf an, „ob diese Sichtweise in irgendeiner Weise vertretbar oder sie von vornherein unberechtigt“ sei.11 Auf der anderen Seite ist jedoch auch die besondere Bewertung des Straftatbestandes in § 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch (StGB), der die Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter Strafe stellt, zu erwähnen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Vorschrift als Beschränkung der Meinungsfreiheit angesehen, die ausnahmsweise, und zwar auch in ihrem nicht meinungsneutralen Charakter, gerechtfertigt sei. Konkret führt das Bundesverfassungsgericht in seinem Wunsiedel-Beschluss aus dem Jahr 2009 hierzu aus: „§ 130 Abs. 4 StGB ist auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar . Angesichts des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der als Gegenentwurf hierzu verstandenen Entstehung der Bundesrepublik Deutschland ist Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung des nationalsozialistischen Regimes in den Jahren zwischen 1933 und 9 BVerfG NStZ-RR 2016, 308. Siehe auch die Entscheidungen des BVerfG zu Abwägungsmängeln bei der Bezeichnung eines Bundestagsabgeordneten als „Obergauleiter der SA-Horden“ (BVerfG NJW 2017, 1460) und die Bezeichnung einer mündlichen Verhandlung als „Musikantenstadl“ (BVerfG NJW 2017, 2606). 10 BVerfG, Beschl. v. 24.1.2018 – 1 BvR 2465/13, abrufbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht.de/Shared- Docs/Entscheidungen/DE/2018/01/rk20180124_1bvr246513.html. 11 BVerfG (Fn. 10), Rn. 22 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 052/18 Seite 7 1945 Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent.“12 2.2. Netzwerkdurchsetzungsgesetz Kontrovers diskutiert wird das am 1. Oktober 2017 in Kraft getretene Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das sich gegen die Verbreitung „rechtswidriger Inhalte“ (§ 1 Abs. 3 NetzDG) in sozialen Netzwerken richtet.13 Im Gesetzentwurf wird das Problem von Hassreden im Internet wie folgt beschrieben: „Die Debattenkultur im Netz ist oft aggressiv, verletzend und nicht selten hasserfüllt. Durch Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte kann jede und jeder aufgrund der Meinung, Hautfarbe oder Herkunft, der Religion, des Geschlechts oder der Sexualität diffamiert werden. Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte, die nicht effektiv bekämpft und verfolgt werden können, bergen eine große Gefahr für das friedliche Zusammenleben einer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft. (…) Es bedarf daher einer Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken, um objektiv strafbare Inhalte wie etwa Volksverhetzung, Beleidigung, Verleumdung oder Störung des öffentlichen Friedens durch Vortäuschen von Straftaten unverzüglich zu entfernen.“14 Dementsprechend legt das Netzwerkdurchsetzungsgesetz Anbietern sozialer Netzwerke besondere Pflichten für den Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte auf, die u.a. die Entfernung eines „offensichtlich rechtswidrigen Inhalts innerhalb von 24 Stunden nach Eingang der Beschwerde“ sowie die Entfernung „jeden rechtswidrigen Inhalts unverzüglich, in der Regel innerhalb von sieben Tagen nach Eingang der Beschwerde“ umfassen, § 3 Abs. 2 Nr. 2 NetzDG. Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz beziehen sich nicht 12 BVerfGE 124, 300, 327 f., Hervorhebungen nicht im Original. Zur Analyse und Kritik siehe nur Fohrbeck (Fn. 4), 90 ff. 13 Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken vom 1.9.2017, BGBl. I 3352 ff., mit der Inkrafttretensbestimmung zum 1.10.2017 in Art. 3. Ausführlich zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Entwurf eines Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (WD 10 - 3000 - 037/17). 14 BT-Drs. 18/12727, 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 052/18 Seite 8 nur, aber insbesondere auf die Vereinbarkeit mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit.15 Kritisiert wird u.a., dass die Anbieter auch rechtmäßige Meinungsinhalte „im Zweifel sperren“ würden und damit ein „strukturelles Ungleichgewicht“ zulasten der Meinungsfreiheit entstünde.16 3. Schutz der Meinungsfreiheit in den USA 3.1. Rechtsprechung des Supreme Court Der Supreme Court hat seine Rechtsprechung zum Schutz der Meinungsfreiheit – soweit ersichtlich – nicht grundlegend geändert. So wird auf der Internetseite der „United States Courts“ zum Thema „What does free speech mean?“ keine relevante jüngere Leitentscheidung des Supreme Court zur Meinungsfreiheit aufgelistet.17 Auch die Auswertung des im Internet verfügbaren „German American Law Journal“ hat keine Hinweise auf wesentliche Änderungen in der Rechtsprechung des Supreme Court gegeben.18 Aus jüngeren rechtsvergleichenden Untersuchungen ergibt sich vielmehr eine Fortführung der Rechtsprechung, wie sie in der in Bezug genommen Ausarbeitung in Grundzügen dargestellt wurde.19 So betont etwa Möller, dass der Supreme Court an seiner weiten Auslegung der Meinungsfreiheit festhalte, wonach keine Äußerung allein wegen ihres Inhalts aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgeschlossen werden dürfe.20 In diesem Sinne habe der Supreme Court in einer Entscheidung aus dem Jahr 2011 nochmals bekräftigt, dass vor allem Meinungsäußerungen, die 15 Siehe hierzu nur Wissenschaftliche Dienste (Fn. 13), 5 ff.; Nolte, Hate-Speech, Fake-News, das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz “ und Vielfaltsicherung durch Suchmaschinen, ZUM 2017, 552 ff.; Guggenberger, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in der Anwendung, NJW 2017, 2577, 2581: „Den in der Tat problematischen rechtswidrigen oder gar strafbaren Inhalten könnte grundrechtsschonender und mindestens gleich effektiv durch eine Stärkung von Strafverfolgung und Eilrechtsschutz begegnet werden.“; Kalscheuer/Hornung, Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz – Ein verfassungswidriger Schnellschuss, NVwZ 2017, 1271 ff. Kritisch zur Gesetzgebungskompetenz Gersdorf, Hate Speech in sozialen Netzwerken, MMR 2017, 439 ff. 16 Nolte (Fn. 15), 555 f. 17 Vgl. die Liste der Leitentscheidungen des Supreme Court auf der Internetseite von United States Courts, What does free speech mean?, abrufbar unter: http://www.uscourts.gov/about-federal-courts/educational-resources /about-educational-outreach/activity-resources/what-does. 18 Vgl. German American Law Journal, abrufbar unter: https://anwalt.us/. 19 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 9 ff. 20 Möller (Fn. 4), 235 ff. mit weiteren Rechtsprechungshinweisen u.a. zur Einbeziehung von unliebsamen, geschmacklosen , verstörenden, unsinnigen, skurrilen, provokativen, verächtlichen und vulgären Äußerungen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 052/18 Seite 9 öffentliche Angelegenheiten betreffen, so anstößig, ausfallend oder abstoßend sie auch erscheinen mögen, als Kernbereich der Meinungsfreiheit geschützt seien.21 Der Schutz der Meinungsfreiheit schließe auch Tatsachen ein, selbst wenn sie unwahr seien.22 Zu beachten ist aber, dass der Supreme Court – trotz des weiten Schutzbereichsverständnisses – bestimmte Kategorien von Äußerungen von vornherein den Schutz der Meinungsfreiheit versagt („unprotected speech“).23 Hierzu betont Möller, der Supreme Court und der überwiegende Teil der Staatsrechtslehre stehe Bestrebungen, zusätzliche neue Schutzbereichsausnahmen zu entwickeln , äußerst zurückhaltend gegenüber.24 Insbesondere sei der Supreme Court Auffassungen, wonach „hate speech“ aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgeschlossen werden müsse, nicht gefolgt.25 Auch die sog. „fighting-words-Ausnahme“ spiele aufgrund der extrem restriktiven Auslegung durch den Supreme Court (nur Äußerungen, die unmittelbar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen würden) kaum eine Rolle.26 Mensching hebt in seiner Untersuchung hervor, dass der Supreme Court im Zusammenhang mit dem Schutz der Meinungsfreiheit immer wieder das Bild von einem „Marktplatz der Ideen“ aufgegriffen habe.27 Dieses Bild sei von den Richtern Holmes und Brandeis in die Diskussion eingebracht worden, die in ihren Sondervoten den zentralen Selbstheilungs- und Kontrollmechanismus des Marktplatzes der Ideen benannt hätten, namentlich die Gegenrede.28 Die Konsequenz dieses Bildes sei der vom Supreme Court vertretene Grundsatz der strengen Inhaltsneutralität. Danach könnten Beschränkungen der Meinungsfreiheit, die nicht inhaltsneutral seien, sondern gerade an den Inhalt anknüpften, kaum gerechtfertigt werden.29 Für inhaltsbezogene Eingriffe gelte grundsätzlich eine fast unwiderlegliche Unzulässigkeitsvermutung. Sie könnten nur gerechtfertigt werden, wenn die Maßnahme einem zwingenden staatlichen Interesse diene und das Maß des Erforderlichen nicht im Ansatz überschritten sei. Insbesondere bedürfe es des Nachwei- 21 Möller (Fn. 4), 236. 22 Möller (Fn. 4), 259 mit Verweis auf zwei Ausnahmen hiervon, namentlich ehrverletzende Tatsachenbehauptungen („defamation“) und unwahre Werbeaussagen. 23 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 15 in Bezug auf obszöne, beleidigende und verleumderische Äußerungen. Siehe hierzu aber auch Möller (Fn. 4), 265, der auf die Entscheidung United States v. Alvarez verweist, wonach beleidigende Äußerungen erst dann vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgeschlossen sind, wenn sie unwahre Tatsachenbehauptungen enthalten. 24 Möller (Fn. 4), 240. 25 Möller (Fn. 4), 264. 26 Möller (Fn. 4), 270 f. 27 Mensching, Hassrede im Internet (2014), 124 f. 28 Mensching (Fn. 27), 126 f. 29 Mensching (Fn. 27), 186 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 052/18 Seite 10 ses, „dass die Gegenrede nicht in der Lage sein wird, die mit einer Äußerung verbundenen Gefahren zu entschärfen“.30 Dementsprechend kommt Mensching in Bezug auf inhaltsbezogene Verbote volksverhetzender und zu Gewalt aufrufender Äußerungen zu dem Ergebnis, die Ablehnung inhaltsbezogener Beschränkungen der Meinungsfreiheit ließe dem Staat kaum einen Spielraum, derartige Inhalte mit (straf)rechtlichen Mitteln zu bekämpfen.31 Dieses Ergebnis wird von Fohrbeck bestätigt.32 Auch er konstatiert, dass aufgrund der eng ausgelegten Schutzbereichsausnahmen (z.B. der „fighting words“) und der schwer zu überwindenden Hürden für inhaltsbezogene Beschränkungen der Meinungsfreiheit „hate speech in den USA (…) umfangreichen Schutz genießt“.33 Dementsprechend kommt er zu dem Schluss, dass eine dem § 130 Abs. 4 StGB vergleichbare Strafnorm, die an die Billigung der nationalsozialistischen Gewalt - und Willkürherrschaft anknüpft, in den USA „eindeutig verfassungswidrig“ wäre. Eine solche Vorschrift würde nach den Maßgaben des Supreme Court nicht nur die Voraussetzungen einer – schwer zu rechtfertigenden – inhaltsbezogenen Beschränkung der Meinungsfreiheit („content discrimination“) erfüllen, sondern sogar einen Fall der – kaum noch zu rechtfertigenden – sog. Standpunktdiskriminierung („viewpoint discrimination“) darstellen, bei der die Missbilligung des Nationalsozialismus gestattet bliebe.34 3.2. Gesellschaftlicher Umgang mit Hassreden Vom verfassungsrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit zu unterscheiden ist der gesellschaftliche Umgang mit Hassreden. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf private Verhaltensvorgaben z.B. durch Verhaltenskodizes an Universitäten oder Verhaltensregeln am Arbeitsplatz.35 Solche Vorgaben werden kontrovers diskutiert, und zwar als Verpflichtung zur Rücksichtnahme („political correctness“) einerseits und als unzulässige Zensur andererseits.36 Jüngere Berichte in der deutschen Presse weisen zudem auf gesellschaftliche Debatten in den USA hin, wonach der 30 Mensching (Fn. 27), S. 131 f. Zu weiteren Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen in die Meinungsfreiheit ebda, 132 ff. 31 Mensching (Fn. 27), 264 f. 32 Fohrbeck (Fn. 4), 268 ff. 33 Fohrbeck (Fn. 4), 269. 34 Fohrbeck (Fn. 4), 285 ff. 35 Hierzu Fohrbeck (Fn. 4), 270 mit weiteren Nachweisen. Siehe auch Zamperoni, Fremdes Land Amerika (2016), 138 f., der auf verschiedene Formen der „political correctness“ hinweist, die z.B. an Universitäten dazu führten, dass Professoren ihre Studenten vorwarnen, wenn ihre Vorlesungen verletzende, traumatisierende oder anderweitig emotional belastende Inhalte haben könnten („trigger warnings“). 36 Vgl. Schlüter, Die Meinungsdiktatur der Linke, online-Portal von jetzt.de vom 12.10.2016, abrufbar unter: https://www.jetzt.de/usa/diskussion-um-political-correctness-an-us-unis. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 052/18 Seite 11 umfassende Schutz von „hate speech“ zunehmend in Frage gestellt werde.37 Auch sei ein Kurswechsel von zahlreichen US-amerikanischen IT-Konzernen zu beobachten, die sich dem „Kampf gegen Volksverhetzung“ verschrieben hätten.38 *** 37 Siehe dazu den Bericht von Kuhn, Amerikas Meinungsfreiheit gerät zwischen die Fronten, online-Portal der Süddeutschen Zeitung vom 22.11.2017, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/usa-amerikas-meinungsfreiheit -geraet-zwischen-die-fronten-1.3757030. 38 So der Artikel von Zakrzewski, Amerika übt sich in Zensur, online-Portal der Welt vom 21.8.2017, abrufbar unter : https://www.welt.de/print/die_welt/wirtschaft/article167843407/Amerika-uebt-sich-in-Zensur.html.