© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 052/16 Größe des Bundestages Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/16 Seite 2 Größe des Bundestages Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 052/16 Abschluss der Arbeit: 16. Februar 2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/16 Seite 3 1. Ursachen der Vergrößerung des Bundestages nach dem neuen Wahlrecht In der juristischen und politikwissenschaftlichen Diskussion werden mehrere Ursachen diskutiert, warum es nach dem neuen Wahlrecht zu einer Vergrößerung des Bundestages kommen kann. 1.1. Überhangmandate Zum einen wird auf den offenkundig bestehenden Zusammenhang hingewiesen, dass es durch das Entstehen von Überhangmandaten in der ersten Stufe des Sitzzuteilungsverfahrens, weil eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewonnen hat als ihr nach dem Zweitstimmenanteil dort Sitze zustehen, notwendig wird, die hierdurch bedingte Proporzverschiebung in der zweiten Stufe auszugleichen. Durch diese Ausgleichsmandate erhöhe sich die Gesamtzahl der Sitze des Bundestages. Als wahrscheinlich wird eine große Anzahl an Ausgleichsmandaten angesehen schon bei einer nur kleinen Anzahl an Überhangmandaten für eine – bundesweit betrachtet – kleine Partei. Dies treffe z.B. im Fall von Überhangmandaten der CSU zu. Eine ähnliche Regel gelte für die großen Parteien CDU und SPD bei schlechtem Zweitstimmenergebnis: Je geringer deren Zweitstimmenanteil sei, desto größer werde die Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten und folglich die Zahl der Ausgleichsmandate. 1.2. Weitere Faktoren Zum anderen wird deutlich gemacht, dass noch weitere Faktoren für die Vergabe von Ausgleichsmandaten in Betracht kommen. Genannt werden z.B. die unterschiedliche Wahlbeteiligung in den Ländern, der differierende Anteil der sonstigen Parteien in den Ländern, die mehrfache Summierung der Rundungsfehler und Differenzen bei der Wahlkreiseinteilung. Es wurde für die Bundestagswahl 2013 zutreffend festgestellt, dass die 33 entstandenen Ausgleichsmandate nicht auf Überhangmandate zurückzuführen sind. Vielmehr beruht die hierdurch bedingte Vergrößerung des Bundestages darauf, dass sich für die CSU eine Überrepräsentation im Vergleich zum bundesweiten Zweitstimmenproporz von 5,7 % ergab, deren Ausgangspunkt die Sitzkontingentverteilung nach Bevölkerungszahl in der ersten Verteilung gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG war. Ausschlaggebend für die Erhöhung der Gesamtsitzzahl nach § 6 Abs. 5 BWahlG ist die Partei, deren Mindestsitzzahl im Vergleich zu ihrem bundesweiten Zweitstimmenanteil und der daraus resultierenden Sitzzahl am höchsten ist. Dies war bei der Wahl 2013 die CSU. Denn auf Bayern entfiel insgesamt ein festes Sitzkontingent gemäß Bevölkerungsanteil von 92 Sitzen. Zugewiesen wurden der CSU davon insgesamt 56 Sitze. Nach bundesweitem Zweitstimmenanteil des Landes Bayern hätten dem Land dagegen 87 von 598 Sitzen zugeteilt werden müssen. Von diesen 87 Sitzen wiederum hätte die CSU nach Zweitstimmenproporz nur 53 Sitze erhalten (siehe zum Ganzen vertiefend Anlage 1). 2. Änderung des Wahlrechts: Anknüpfung an die Zahl der Zweitstimmen statt Bildung eines festen Ländersitzkontingents nach Bevölkerungszahl Es wurde die Frage aufgeworfen, ob jedenfalls das beschriebene Phänomen der Bundestagsvergrößerung aufgrund der Anknüpfung an die Bevölkerungszahl der Bundesländer im Rahmen des ersten Schritts der ersten Verteilung nach § 6 Abs. 2 BWahlG durch eine gleichsam „minimalinvasive “ Änderung des geltenden Wahlrechts behoben werden könnte, die stattdessen eine Anknüpfung an die Zahl der Zweitstimmen in den Bundesländern vorsieht. Würde im Rahmen des ersten Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 052/16 Seite 4 Schrittes der ersten Verteilung nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG an die Zahl der Zweitstimmen angeknüpft, d.h. jedem Bundesland abhängig vom Anteil der auf alle in dem Bundesland angetretenen Landeslisten entfallenen Zweitstimmen Sitze zugewiesen, so erhielten die Bundesländer keine festen Sitzkontingente mehr. Dabei näherte sich die Zahl der von den zu berücksichtigenden Landeslisten und damit auch von den Parteien insgesamt in der ersten Verteilung erhaltenen Sitze an die Höhe des für den Ausgleich in der zweiten Verteilung maßgeblichen Sitzanteils in Höhe des bundesweiten Zweitstimmenanteils der Parteien an. Je nach Ausgestaltung könnten die oben beschriebenen Disproportionalitäten minimiert bzw. – bei Abstellen auf die Zweitstimmen für Parteien, die nach § 6 Abs. 3 BWahlG berücksichtigt werden – ausgeschlossen werden. Allerdings hätte eine solche Veränderung zur Folge, dass im Rahmen des Wahlverfahrens hypothetisch negative Stimmgewichte (NSG) auftreten könnten. Denn koppelte man das Ländersitzkontingent an die Zweitstimmenzahlen, so wäre es möglich, dass der Zweitstimmenverlust einer Partei (in einem Bundesland) – in Kombination mit Überhangmandaten – im Ergebnis zu einem Sitzgewinn dieser Partei (in einem anderen Bundesland) führte. Selbst wenn eine hierdurch bedingte Proporzverzerrung im Verhältnis der Parteien untereinander (relatives NSG) durch Ausgleichmandate letztlich nivelliert würde, so würde es doch dabei bleiben, dass die Partei trotz Zweitstimmenverlusts absolut betrachtet einen Sitzzugewinn erzielt hätte (absolutes NSG). Für die Verfassungswidrigkeit auch solcher NSG spricht im Lichte der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom Juli 2012 und nach Auswertung der einschlägigen Literatur einiges (siehe ausführlich Anlage 2). Ende der Bearbeitung Anlage 1 1. Sind die vier Überhangmandate der CDU kausal für die 33 Ausgleichsmandate, oder ist die Aussage Behnkes korrekt und haben die Ausgleichsmandate andere Ursachen, die z. B. mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Länderkontingente an die Bevölkerungszahl geknüpft sind? Die von Joachim Behnke getroffene Aussage, dass die 33 bei der Bundestagswahl 2013 entstandenen Ausgleichsmandate nicht auf den Überhangmandaten, sondern auf der Überrepräsentation der CSU beruhen,1 ist richtig. Im Rahmen der Sitzzuteilung der Bundestagswahl 2013 ergab sich für die CSU eine Überrepräsentation im Vergleich zum bundesweiten Zweitstimmenproporz von 5,7 %, die für die Erhöhung der Sitzzahl nach § 6 Abs. 5 Bundeswahlgesetz (BWahlG) maßgeblich war. Nach bundesweitem Zweitstimmenanteil des Landes Bayern hätten dem Land 87 von 598 Sitzen zugeteilt werden müssen,2 da auf die nach § 6 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 BWahlG) zu berücksichtigenden Parteien in Bayern (CSU, SPD, Die Linke, Grüne) insgesamt 5.359.316 Stimmen entfielen3, was prozentual circa 14,5 % der bundesweit zu berücksichtigenden Zweitstimmen in Höhe von 36.867.417 Stimmen ausmacht.4 Von diesen 87 Sitzen wiederum hätte die CSU nach Zweitstimmenproporz mit 3.243.569 Zweitstimmen 53 Sitze erhalten.5 Zugewiesen wurden der CSU bei der Bundestagswahl jedoch insgesamt 56 Sitze. Dies beruht darauf, dass bei der Ermittlung des Wahlergebnisses in der ersten Verteilung gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG die Sitze zunächst anhand des Bevölkerungsanteils verteilt werden, wodurch auf Bayern insgesamt 92 Mandate entfielen.6 Dann werden diese Sitze anhand des Zweitstimmenanteils im Bundesland – für die CSU circa 60,5 % in Bayern – auf die Landeslisten aufgeteilt, so dass sich bei der Bundestagswahl 2013 die Zahl von 56 Sitzen für die CSU ergab. Schließlich werden die im Bundesland errungenen Direktmandate auf die Landesliste angerechnet. Soweit dabei mehr Direkt- als Listenmandate erzielt werden, was in Bayern für die CSU nicht der Fall war, verbleiben diese bei den jeweiligen Parteien (§ 6 Abs. 4 Satz 2 BWahlG). Die nach dieser 1 Behnke, Joachim, Das neue Wahlgesetz im Test der Bundestagswahl 2013, ZParl 2014, 17 (22 f.). 2 So auch Behnke (Fn. 1), ZParl 2014, 17 (19). 3 Siehe dazu die Zweitstimmenzahlen des endgültigen Ergebnisses der Bundestagswahl in Bayern, abrufbar unter https://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_BUND_13/ergebnisse/landesergebnisse/l09/ (Stand: 13. Januar 2016). 4 Siehe dazu die Zweitstimmenzahlen des endgültigen Ergebnisses der Bundestagswahl von CDU, SPD, Die Linke, Grüne, CSU, abrufbar unter https://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_BUND_13/ergebnisse /bundesergebnisse/index.html (Stand: 13. Januar 2016). 5 So auch Behnke (Fn. 1), ZParl 2014, 17 (23). 6 Siehe dazu Der Bundeswahlleiter, Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013, Heft 3, Endgültige Ergebnisse nach Wahlkreisen, abrufbar unter https://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen /BTW_BUND_13/veroeffentlichungen/BTW2013_Heft3.pdf, S. 313. Zur Ursache der Ausgleichsmandate bei der Bundestagswahl 2013 2 ersten Verteilung ermittelte Gesamtzahl der Sitze für eine Partei dient sodann bei der zweiten Verteilung als Mindestsitzzahl nach § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG. Die Mindestsitzzahl der einzelnen Parteien bildet wiederum die Grundlage für den Ausgleich nach § 6 Abs. 5 BWahlG. Demgegenüber hätte die CDU nur nach ihrem bundesweiten Zweitstimmenanteil gerechnet (etwa 40,5 %) 242 Sitze erhalten. Dies entspricht der Zahl der Sitze, die ihr als Mindestsitzzahl zugewiesen wurden, nämlich 238 Listenmandate nebst vier Direktmandaten.7 Damit entspricht die Zahl der tatsächlich erhaltenen Sitze in absoluten Zahlen derjenigen der ihr zustehenden Mandate nach Zweitstimmenproporz, so dass sie beim Vergleich der beiden Zahlen mit den erhaltenen Sitzen nicht überrepräsentiert ist.8 Im Rahmen der zweiten Verteilung wird der Ausgleich vorgenommen. Sinn und Zweck ist es, das Verhältnis der Parteien in Bezug auf ihre Zweitstimmenergebnisse unter Beibehaltung der in der ersten Verteilung ermittelten Mindestsitzzahlen für alle Parteien herzustellen.9 Dazu wird eine Erhöhung der Gesamtsitzzahl vorgenommen, bis die bundesweiten Mindestsitzzahlen jeder Partei erreicht sind und ihr zeitgleich Sitze in Höhe ihres Zweitstimmenanteils zugewiesen werden.10 Maßgeblicher Faktor für die Erhöhung der Gesamtsitzzahl ist damit die Partei, deren Mindestsitzzahl im Vergleich zu ihrem bundesweiten Zweitstimmenanteil und der daraus resultierenden Sitzzahl am höchsten ist.11 Das war vorliegend die CSU, die mit 56 Mindestsitzen drei Sitze und damit 5,7 % mehr erhielt, als ihr nach bundesweitem Zweitstimmenanteil zustanden.12 2. Wenn Behnkes Annahme stimmt, warum ist für die vier Überhangmandate kein Ausgleich erforderlich gewesen? Für die vier Überhangmandate der CDU war kein Ausgleich erforderlich, da dieser sich nach der am stärksten überrepräsentierten Partei richtet (siehe 1.). Dies ist – wie gesehen – nicht zwangsläufig die Partei mit den meisten Überhangmandaten.13 Vielmehr war vorliegend der Auslöser letztlich das hohe Ländersitzkontingent Bayerns. 7 Siehe dazu auch Behnke (Fn. 1), ZParl 2014, 17 (22). 8 Siehe dazu im Einzelnen Behnke (Fn. 1), ZParl 2014, 17 (22), der relativ sogar eine Unterrepräsentation ausmacht . 9 Vgl. Behnke (Fn. 1), ZParl 2014, 17 (21 f.); vgl. Strelen, Karl-Ludwig, in: Schreiber, Wolfgang (Hrsg.), BWahlG, Kommentar, 9. Aufl. 2013, § 6 Rn. 270. 10 Behnke (Fn. 1), ZParl 2014, 17 (21 f.). 11 Behnke (Fn. 1), ZParl 2014, 17 (22). 12 Siehe zu den Überrepräsentationen der Parteien im Einzelnen Behnke (Fn. 1), ZParl 2014, 17 (22). 13 Behnke (Fn. 1), ZParl 2014, 17 (22); Strelen (Fn. 9), § 6 Rn. 26. Anlage 2 1. Frage: Wäre eine Anknüpfung an die Zweitstimmenzahl statt an die Bevölkerungszahl als Maßstab für den ersten Schritt der ersten Verteilung nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG (“Ländersitzkontingente“) eine denkbare verfassungskonforme Möglichkeit, um den von Behnke zutreffend beschriebenen Effekt der Ausgleichsmandate aufgrund föderaler Überrepräsentation zu vermeiden oder stünde diesem Vorschlag das vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig angesehene „negative Stimmgewicht“ (NSG) entgegen? 2. Antwort Anknüpfend an die Stellungnahme vom 13. Januar 2016 zur Ursache der Ausgleichmandate bei der Bundestagswahl ist zur o.g. Anschlussfrage Folgendes auszuführen: Der von Behnke beschriebene Effekt1 des Entstehens von Ausgleichsmandaten wegen einer föderalen Überrepräsentation einzelner Parteien aufgrund der Anknüpfung an die Bevölkerungszahl der Bundesländer im Rahmen des ersten Schritts der ersten Verteilung nach § 6 Abs. 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG) lässt sich durch eine Anknüpfung an die Zahl der Zweitstimmen in den Bundesländern zumindest minimieren (2.1).2 Jedoch hätte diese Veränderung zur Folge, dass im Rahmen des Wahlverfahrens hypothetisch NSG (zum Begriff siehe 2.2) auftreten könnten, für deren Verfassungswidrigkeit im Lichte der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in seiner Entscheidung vom Juli 2012 zum NSG und nach Auswertung der einschlägigen Literatur einiges spricht (2.3). 2.1. Beseitigung der föderalen Überrepräsentation durch die Anknüpfung an die Zweitstimmen Würde im Rahmen des ersten Schrittes der ersten Verteilung nach § 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG an die Zahl der Zweitstimmen angeknüpft, d.h. jedem Bundesland abhängig vom Anteil der auf alle in dem Bundesland angetretenen Landeslisten entfallenen Zweitstimmen Sitze zugewiesen, so erhielten die Bundesländer keine festen Sitzkontingente mehr. Dabei näherte sich die Zahl der von den zu berücksichtigenden Landeslisten und damit auch von den Parteien insgesamt in der ersten Verteilung erhaltenen Sitze an die Höhe des für den Ausgleich in der zweiten Verteilung maßgeblichen Sitzanteils in Höhe des bundesweiten Zweitstimmenanteils der Parteien an. Die Proporzverzerrung, wie sie Behnke für die Anknüpfung an die Bevölkerungszahl beschreibt, träte daher jedenfalls in einem geringeren Maße auf. Würden für die Bestimmung der Ländersitzkontingente auch Zweitstimmen für nach § 6 Abs. 3 BWahlG nicht zu berücksichtigende Parteien 1 Behnke, Joachim, Das neue Wahlgesetz im Test der Bundestagswahl 2013, ZParl 2014, 17 (21 ff., 30); dargestellt auch noch einmal bei: Boehl, Henner Jörg, Das neue Wahlrecht – personalisierte Verhältniswahl reloaded, in: Oppelland, Torsten, Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimation und politischer Funktionalität, 2015, 21 (49 f.); Grotz, Florian, Der Mandatsausgleich im neuen Bundestagswahlsystem, in: Oppelland, Torsten, Das deutsche Wahlrecht im Spannungsfeld von demokratischer Legitimation und politischer Funktionalität, 2015, 65 (72 f.). 2 Vgl. in diese Richtung auch – allerdings bezogen auf den konkreten Fall – Behnke (Fn. 1), 17 (30). Ländersitzkontingente nach Zweitstimmenzahl und negatives Stimmgewicht (NSG) 2 eingerechnet, könnte eine Landesliste im Rahmen der ersten Verteilung – der föderalen Überrepräsentation des geltenden Maßstabs der Bevölkerungszahl vergleichbar – mehr Sitze erhalten, als ihr nach ihrem bundesweiten Zweitstimmenanteil zustünden. Um diese – wenn auch gegenüber dem geltenden Wahlrecht geringere – Disproportionalität auszuschließen , könnte für die Bestimmung der Sitzkontingente der Bundesländer nur an die Zahl der Zweitstimmen für Parteien,3 die nach § 6 Abs. 3 BWahlG bei der Verteilung berücksichtigt werden, angeknüpft werden. Nicht beseitigt würde durch die Änderung die Möglichkeit des Anfallens von Ausgleichsmandaten an sich. Darüber hinaus könnte die Anknüpfung an die Zweitstimmen gegebenenfalls das Entstehen von Überhangmandaten in der ersten Verteilung begünstigen. Eine probate Maßnahme mit Blick auf die Größe des Parlaments wäre der Vorschlag danach nicht. Weiter stellt sich die Frage, ob der Maßstab der Zweitstimmen ein mit den Wahlrechtsgrundsätzen unvereinbares NSG erzeugen könnte. Dazu gilt es zunächst die in diesem Zusammenhang verwendeten Begrifflichkeiten zu klären. 2.2. Arten von NSG Unter dem NSG ist zusammengefasst der Effekt zu verstehen, dass sich die Abgabe einer Stimme für eine Partei bei der Sitzverteilung negativ für sie auswirkt. In der Diskussion über das NSG werden verschiedene Arten unterschieden.4 Das sogenannte „absolute NSG“ umfasst Konstellationen, in denen sich auf Bundesebene die Sitzzahl von Parteien gegenläufig zu ihren Zweitstimmenzahlen entwickelt. Der Blick richtet sich dabei nur auf die absoluten Sitzzahlen, nicht auf den relativen Sitzanteil im Vergleich zu anderen im Parlament vertretenen Parteien. Davon abzugrenzen ist das „relative NSG“, das in den Blick nimmt, ob die Stimmenzahl für eine Partei negativ mit ihrem Sitzanteil im Parlament korreliert. 2.3. Entstehen eines NSG bei einer Anknüpfung an die Zweitstimmenzahlen in den Bundesländern Bei einer Anknüpfung an die Zweitstimmenzahlen in den Bundesländern könnten im Rahmen der ersten Verteilung absolute und relative NSG auftreten.5 Der Effekt des relativen NSG würde jedoch in der zweiten Verteilung neutralisiert.6 Ein absolutes NSG könnte beispielsweise – bei theoretischer Betrachtung – in der folgenden Konstellation in Erscheinung treten:7 Koppelte man das Ländersitzkontingent an die Zweitstimmenzahlen , so wäre es möglich, dass der Zweitstimmenverlust einer Partei zu einem Sitzgewinn dieser 3 Vgl. in diese Richtung auch Behnke (Fn. 1), 17 (20). 4 Dazu und zum Folgenden Das negative Stimmgewicht und die Wahlrechtsreform 2011. Zur rechnerischen Prüfung von Sitzzuteilungsmodellen, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags (WD 8 - 3010 - 158/11), 2011, S. 18 ff. 5 Siehe dazu auch Boehl (Fn.1), 21 (37). 6 Vgl. Boehl (Fn.1), 21 (38). 7 Die nachfolgend beschriebenen Möglichkeiten des NSG bei dem vorliegend zu prüfenden Modell einer Änderung des geltenden Wahlrechts hin zu einer Anknüpfung an die Zweitstimmen entsprechen der Fallbeschreibung bei Boehl (Fn.1), 21 (37 f.). 3 Partei im Sinne des NSG führte: Ausgangspunkt einer solchen Konstellation wäre, dass der letzte zugeteilte Sitz in einem Bundesland A, den die Landesliste dieser Partei X erhielte, aufgrund einer verringerten Zweitstimmenzahl für die Partei X in dem Bundesland A in das Bundesland B gezogen würde. Dort fiele er der Landesliste der Partei X zu, die dementsprechend im Bundesland B ein Mandat mehr erhielte, während sie normalerweise im Land A ein Mandat verlöre. Würde der Verlust der Partei X im Bundesland A jedoch durch ein dort bestehendes Direktmandat eines Kandidaten der Partei X kompensiert („Überhangmandat“), hätte sie nach der ersten Verteilung insgesamt einen Sitz mehr. Ihre Sitzzahl im Land A wäre aufgrund des dortigen Überhangmandates gleich geblieben. In Bundesland B wäre der mit Blick auf das NSG relevante, trotz Zweitstimmenverlustes gewonnene Sitz entstanden. Damit läge eine Konstellation des absoluten NSG vor. Dieses NSG wirkte auch auf das Endergebnis fort. Der zusätzliche Sitz bliebe der Partei erhalten, da die zweite Verteilung an die erhöhte Sitzzahl in der ersten Verteilung anknüpft.8 Darüber hinaus entstehende Proporzverzerrungen im Sinne des relativen NSG werden hingegen allgemein in der zweiten Stufe der Verteilung durch Ausgleichsmandate neutralisiert, wobei – wie beschrieben – der Effekt eines in der ersten Verteilung entstandenen absoluten NSG in Form der erhöhten Sitzzahl für die jeweilige Partei bestehen bleibt. Da nach dem hier in Rede stehenden Modell jedenfalls das absolute NSG in nicht nur unerheblicher Weise durch die beschriebene Sitzverschiebung zwischen Bundesländern auftreten kann, stellt sich die Frage, ob auch ein allein absolutes NSG nach der Rechtsprechung des BVerfG ausgeschlossen ist. Das BVerfG hat in seiner bisherigen Rechtsprechung begrifflich nicht zwischen absolutem und relativem NSG differenziert.9 Wird auf den Wortlaut der Entscheidungen abgestellt, dürfte allerdings von seiner Rechtsprechung ein absolutes NSG umfasst sein. So heißt es schon in der ersten Entscheidung zum NSG von 2008: „Das […] geregelte Zuteilungsverfahren kann dazu führen, dass in bestimmten Konstellationen abgegebene Zweitstimmen für solche Parteien, die Überhangmandate in einem Land gewinnen, insofern negativ wirken, als diese Parteien in demselben oder einem anderen Land Mandate verlieren. Umgekehrt ist es auch möglich, dass die Nichtabgabe einer Wählerstimme der zu unterstützenden Partei dienlich ist. […] Ein Wahlsystem, das darauf ausgelegt ist oder doch jedenfalls in typischen Konstellationen zulässt, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen, führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen.“10 Dies deutet darauf hin, dass das BVerfG schon das absolute NSG grundsätzlich für verfassungswidrig erachtet, da es bei seiner Beschreibung des NSG auf die Zahl der Mandate und nicht auf 8 Boehl (Fn.1), 21 (37 f.). 9 In Bezug auf das erste Urteil zum NSG hält (Fn. 4), S. 21, fest, dass bei dem dort überprüften BWahlG absolutes und relatives NSG insgesamt nur zusammen auftreten konnten. 10 BVerfGE 121, 266 (298 f.); vom Inhalt ähnlich auch BVerfGE 131, 316 (346 f.). Dass das absolute NSG von der bisherigen Rechtsprechung dem Wortlaut nach umfasst wäre, hält so auch (Fn. 4), S. 21, fest. 4 das relative Verhältnis der Parteien abstellt. Von Teilen der Literatur werden die Urteile auch dahingehend gedeutet.11 Dem kann wohl auch nicht entgegengehalten werden, dass es dem BVerfG eventuell eher auf das relative NSG ankam, weil vor allem dieses gleichheitsverzerrend in Bezug auf die Mandatsbewirkungskraft einzelner Stimmen wirkt. Hiergegen spricht nämlich, dass das BVerfG in seiner ersten Entscheidung zum negativen Stimmgewicht wörtlich ausführt, dass die Erfolgswertgleichheit verletzt sei, „wenn die beabsichtigten positiven Wirkungen der Stimmabgabe in ihr Gegenteil verkehrt werden.“12 Demnach müsse ein Wahlsystem frei „von willkürlichen und widersinnigen Effekten sein.“13 Ein Berechnungsverfahren, das dazu führe, dass eine Wählerstimme für eine Partei eine Wirkung gegen diese habe, widerspreche Sinn und Zweck einer demokratischen Wahl.14 Es sieht damit in dieser Entscheidung als Teil der Erfolgswertgleichheit an, dass die Stimme nicht direkt gegen eine Partei wirken darf, ohne dabei zwischen einer Wirkung in absoluten Sitzzahlen oder im relativen Sitzanteil zu unterscheiden. Das legt grundsätzlich nahe, dass aus der Sicht des BVerfG schon ein absolutes NSG ohne relative Auswirkungen die Erfolgswertgleichheit verletzt. Darüber hinaus sieht das BVerfG die Unmittelbarkeit der Wahl als verletzt an, wenn „ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen“.15 Nach dem BVerfG fordert der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl „ein Wahlverfahren, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann […]; jede Stimme muss bestimmten Wahlbewerbern zugerechnet werden […].“16 Das wäre wohl ebenfalls bei dem hier zu prüfenden Modell der Zweitstimmenanknüpfung in der oben beschriebenen Fallgestaltung eines bloß absoluten NSG nicht zweifelsfrei gewährleistet, da auch hier der Wähler vor dem Wahlakt nicht exakt erkennen könnte, wie sich seine Zweitstimme auswirkt. 11 Siehe dazu einige Stellungnahmen zur Anhörung des Innenausschusses zur Gestaltung des BWahlG 2011: BT- Ausschussdrucks. 17(4)327 D (Bernd Grzeszick), S. 4; BT-Ausschussdrucks. 17(4)327 G (Heinrich Lang), S. 16 f.; BT-Ausschussdrucks. 17(4)327 H (Gerd Strohmeyer), S. 15; vgl. BT-Ausschussdrucks. 17(4)327 F (Frank Schorkopf), S. 4; siehe auch nochmal die Ausführungen im Protokoll Nr. 17/48 des Innenausschusses der 17. WP, S. 15 (Heinrich Lang), S. 22 (Gerd Strohmeyer). Vgl. überdies aus dem Schrifttum ebenfalls so Boehl (Fn.1), 21 (37 f.); an einer solchen Auslegung des BVerfG zweifelnd wohl Grotz (Fn. 1), 65 (88); eine Einschätzung offen lassend Lübbert (Fn. 4), S. 21 f. 12 BVerfGE 121, 266 (300); siehe dazu auch nochmal knapp BVerfGE 131, 316 (347). 13 BVerfGE 121, 266 (300). 14 BVerfGE 121, 266 (300). 15 Siehe dazu BVerfGE 131, 316 (347). 16 BVerfGE 121, 266 (307); siehe dazu auch nochmal BVerfGE 131, 316 (347).