Deutscher Bundestag Sozialgesetzbuch II – Möglichkeiten der Umgestaltung der Arbeitsgemeinschaften Verfassungsrechtliche Grenzen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 050/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 050/10 Seite 2 Sozialgesetzbuch II – Möglichkeiten der Umgestaltung der Arbeitsgemeinschaften Verfassungsrechtliche Grenzen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 050/10 Abschluss der Arbeit: 8. Februar 2010 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 050/10 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Ausgangssituation 4 2. Rechtliche Vorgaben für die Neugestaltung der Grundsicherung 5 2.1. Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts 5 2.2. Folgen der Feststellungen des Gerichts 6 2.3. Auswirkungen der Föderalismusreform I 6 3. Schlussfolgerungen 7 3.1. Grundsätzliches 7 3.2. Wahl der Rechtsform 7 4. Anlagenverzeichnis 8 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 050/10 Seite 4 1. Ausgangssituation Das Bundesverfassungsgericht hat § 44 b Sozialgesetzbuch II (SGB II)1 für unvereinbar mit dem Grundgesetz (GG) erklärt.2 Die Arbeitsgemeinschaften von Kommunen und Bundesagentur für Arbeit („ARGE“) stellen nach Auffassung des Gerichts eine unzulässige Mischverwaltung dar; dies verstößt gegen Art. 28 Abs. 2 S. 1 und S. 2 in Verbindung mit Art. 83 GG.3 Die Vorschrift bleibt nur bis längstens zum 31. Dezember 2010 anwendbar, wenn der Gesetzgeber nicht zuvor eine andere Regelung trifft.4 § 44b SGB II lautet auszugsweise: (1) Zur einheitlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach diesem Buch errichten die Träger der Leistungen nach diesem Buch durch privatrechtliche oder öffentlichrechtliche Verträge Arbeitsgemeinschaften. […] (2) Die Geschäfte der Arbeitsgemeinschaft führt ein Geschäftsführer. Er vertritt die Arbeitsgemeinschaft außergerichtlich und gerichtlich. […] (3) Die Arbeitsgemeinschaft nimmt die Aufgaben der Agentur für Arbeit als Leistungsträger nach diesem Buch wahr. Die kommunalen Träger sollen der Arbeitsgemeinschaft die Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach diesem Buch übertragen; § 94 Abs. 4 in Verbindung mit § 88 Abs. 2 Satz 2 des Zehnten Buches gilt nicht. Die Arbeitsgemeinschaft ist berechtigt, zur Erfüllung ihrer Aufgaben Verwaltungsakte und Widerspruchsbescheide zu erlassen. Die Aufsicht über die Arbeitsgemeinschaft führt die zuständige oberste Landesbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle im Benehmen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. (4) Die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger teilen sich alle Tatsachen mit, von denen sie Kenntnis erhalten und die für die Leistungen des jeweils anderen Trägers erheblich sein können. Um die jetzige Ausgestaltung beibehalten zu können, wäre eine Grundgesetzänderung erforderlich .5 Entsprechende Vorschläge werden diskutiert6; nach jüngsten Presseberichten soll es nunmehr eine Einigung auf eine Grundgesetzänderung in der Fraktionsspitze der Union geben7. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (Artikel 1 des Gesetzes vom 24. Dezember 2003, BGBl. I 2954), BGBl. I 2003, 2955. 2 Urteil vom 20. Dezember 2007, Aktenzeichen 2 BvR 2433/04 u. a. = BVerfGE 119, 331 = NVwZ 2008, 183 ff., im folgenden zitiert nach Randnummern der Netzfassung, abrufbar unter http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20071220_2bvr243304.html 3 Mehrheitsauffassung (5:3); Sondervotum von drei Richtern, Urteil (Fn. 2), Rn. 212 ff. 4 Tenor des Urteils (Fn. 2); ausführlich Rn. 203 ff. 5 Korioth, Stefan, Leistungsträgerschaft und Kostentragung bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) - Aufgabenwahrnehmung aus „einer Hand“ zwischen reformiertem Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht, DVBl. 2008, 812 (816), beigefügt als Anlage 1. 6 Siehe nur „Die Bürokraten-Reform“, Berliner Zeitung vom 5. Februar 2010, S. 2. 7 „Union einigt sich auf Grundgesetzänderung zum Erhalt von Jobcentern - Bund soll Aufsicht über Optionskommunen erhalten“ AFP-Meldung vom 8. Februar 2010 (00:45:00); „Union erzielt Einigung“, Süddeutsche Zeitung online, http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/241/502474/text/, letzter Abruf am 8. Februar 2010. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 050/10 Seite 5 Ziel dieser Darstellung ist es, Grenzen für eine einfachgesetzliche Umgestaltung der Aufgabenwahrnehmung aufzuzeigen, die aus dem Urteil und der 2006 veränderten Verfassung folgen. Wegen der Kürze der Bearbeitungszeit ist lediglich ein grober Überblick möglich. Weitere Details zu verschiedenen Modellen und daraus folgenden Problemen ergeben sich aus den beigefügten Anlagen (unter 4.). 2. Rechtliche Vorgaben für die Neugestaltung der Grundsicherung 2.1. Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts Das Gericht hat folgende zentrale Aussagen getroffen: Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie in ihrer Ausprägung als Garantie eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung im Sinne des Art. 28 Abs. 2 GG wird verletzt, wenn Verwaltungszuständigkeiten nach Art. 83 ff. GG nicht eingehalten werden.8 Grundsätzlich sind Verwaltungszuständigen zwischen Bund und Ländern getrennt, und zwar organisatorisch und funktionell.9 Diese Vorgabe ist abschließend und nicht abdingbar, auch wenn Bund und Länder sich einig sind.10 Ausgeschlossen ist außerdem – bis auf die in der Verfassung ausdrücklich benannten Ausnahmen– eine Mischverwaltung.11 Ein „Zusammenwirken“ ist indes vorgesehen, zum Beispiel bei der Auftragsverwaltung.12 Der Grund für diese strikte Trennung ist das Demokratieprinzip. Die Verantwortlichkeit für das Handeln der Verwaltung muss klar zugewiesen sein.13 Daraus folgt: Der zuständige Verwaltungsträger (Bund oder Land) muss seine Aufgaben grundsätzlich durch eigene Verwaltungseinrichtungen wahrnehmen. Das bedeutet: eigenes Personal, eigene Sachmittel, eigene Organisation.14 Im Fall der ARGE hat das Gericht diese Trennung nicht gesehen: Die Mitarbeiter entscheiden einheitlich über die von beiden Trägern zu gewährenden Leistungen der Grundsicherung. Zu diesem Zweck werden Daten zusammengeführt und gemeinsam verwaltet und verarbeitet.15 Die Personalauswahl der Kommunen ist – insbesondere bei der Behördenleitung16 – eingeschränkt17 und nur in Abstimmung mit dem anderen Verwaltungsträger möglich18. Außerdem belegen die 8 Urteil (Fn. 2), Rn. 150. 9 Urteil (Fn. 2), Rn. 151 f. 10 Urteil (Fn. 2), Rn. 152. 11 Urteil (Fn. 2), Rn. 153. 12 Urteil (Fn. 2), Rn. 154. 13 Urteil (Fn. 2), Rn. 155 ff.; 191 ff. 14 Urteil (Fn. 2), Rn. 159; ausführliche Subsumtion ab Rn. 176 ff. 15 Urteil (Fn. 2), Rn. 179 f. 16 Urteil (Fn. 2), Rn. 181. 17 Urteil (Fn. 2), Rn. 198 ff. 18 Urteil (Fn. 2), Rn. 182. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 050/10 Seite 6 Aufsichtsregelungen den Mangel an eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung19; gegenseitige Aufsichtsbefugnisse hat das Gericht als problematisch eingeschätzt20. Zusammengefasst heißt es in der Entscheidung: „Die organisatorische und personelle Verflechtung bei der Aufgabenwahrnehmung behindert eine klare Zurechnung staatlichen Handelns zu einem der beiden Leistungsträger . Die trägerübergreifende gemeinschaftliche Aufbau- und Ablauforganisation, die einheitliche Geschäftsführung und die gemeinsame Steuerung der Arbeitsgemeinschaften über die Trägerversammlung erschweren eine klare Abgrenzung von Verantwortungsbereichen der Bundesagentur für Arbeit und der kommunalen Träger.“21 2.2. Folgen der Feststellungen des Gerichts Aus diesen Feststellungen lässt sich jedoch nicht unmittelbar ablesen, welche Organisationsstrukturen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen würden.22 Das Gericht hat jedoch zwei Möglichkeiten ausdrücklich erwähnt, um die Grundsicherung „aus einer Hand“ weiter zu ermöglichen: Die Ausführung nach Art. 87 GG oder den Gesamtvollzug durch die Länder als eigene Angelegenheit nach Art. 83 GG.23 2.3. Auswirkungen der Föderalismusreform I Mit der so genannten Föderalismusreform I hat der Gesetzgeber u. a. Art. 84 GG geändert. Dort heißt es seit 2006: „Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden.“ Eine ausschließliche, verpflichtende Kommunalisierung der Grundsicherung ist danach nur durch Landesgesetze möglich.24 Welche Konsequenzen dies für Finanzierungsfragen hätte, bedürfte einer tiefer gehenden Untersuchung.25 19 Urteil (Fn. 2), Rn. 188 ff. 20 Urteil (Fn. 2), Rn. 189 ff. 21 Urteil (Fn. 2), Rn. 192. 22 In diesem Sinne auch Wahrendorf, Volker; Karmanski, Carsten, Koordination statt Kooperation – zu neuen Organisationsstrukturen im SGB II nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007, NZS 2008, 281, beigefügt als Anlage 2. 23 Zu möglichen Modellen Korioth (Fn. 5), DVBl. 2008, 812 (816 ff.); Wahrendorf/Karmanski (Fn. 22), NZS 2008, 281 ff. 24 Wahrendorf/Karmanski (Fn. 22), NZS 2008, 281 (283). 25 Vgl. Problemaufriss bei Wahrendorf/Karmanski (Fn. 22), NZS 2008, 281 (283) und Korioth (Fn. 5), DVBl. 2008, 812 (817 ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 050/10 Seite 7 3. Schlussfolgerungen 3.1. Grundsätzliches Das Gericht hat sehr konkret ausgeführt, warum das bestehende Modell unzulässig ist. Ob sich daraus ableiten lässt, dass „Kooperationsmodelle“ ohne Verfassungsänderung gänzlich ausgeschlossen sind, wird nicht einheitlich beurteilt.26 Grundsätzlich wäre eine Übertragung der Aufgaben auf die Kommunen zulässig; dies ist wegen Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG aber nur durch Landesrecht möglich. 3.2. Wahl der Rechtsform Hinsichtlich der Wahl der Rechtsform beim Vollzug von Bundesgesetzen hat der Gesetzgeber grundsätzlich einen weiten Gestaltungsspielraum.27 Speziell beim Vollzug von Sozialleistungsgesetzen soll es aber notwendig sein, dass eine „öffentlich-rechtliche Einrichtung“ damit betraut wird.28 Entsprechend bestimmt § 12 S. 1 Sozialgesetzbuch I (SGB I)29: „Zuständig für Sozialleistungen sind die in den §§ 18 bis 29 genannten Körperschaften, Anstalten und Behörden (Leistungsträger ).“ Speziell für die ARGE geht das Sozialgericht Hannover von einer öffentlichrechtlichen Einrichtung „eigener Art“ aus.30 Es könnte dementsprechend problematisch sein, eine rein privatrechtliche Organisationsform – etwa eine GmbH – zu wählen. 26 Korioth (Fn. 5), DVBl. 2008, 812 (816) etwa geht davon aus, dass diese ohne Verfassungsänderung generell unzulässig sind. Im Beck’schen Online-Kommentar findet sich hingegen ein Beispiel für „kooperative Jobcenter“, Rixen, Stephan in: Rolfs, Christian; Giesen, Richard; Kreikebohm, Ralf; Udsching, Peter (Hrsg.), Sozialrecht, SGB II, § 44 b Rn. 1b (Stand: 1. Dezember 2009). Ausführlich dazu Schulz, Sönke E., Kooperationsmodelle zur Umsetzung des Einheitlichen Ansprechpartners als unzulässige Mischverwaltung?, DÖV 2008, 1028 ff., beigefügt als Anlage 3; sowie Wahrendorf/Karmanski (Fn. 22), NZS 2008, 281 ff. 27 SG Hannover, NVwZ 2005, 976, beigefügt als Anlage 4. 28 SG Hannover, NVwZ 2005, 976. 29 Sozialgesetzbuch (SGB) Erstes Buch (I) - Allgemeiner Teil, vom 11. Dezember 1975, BGBl. I 3015, zuletzt geändert durch Art. 7 Abs. 5 des Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes vom 7. 7. 2009, BGBl. I 1707. 30 SG Hannover, NVwZ 2005, 976; kritisch dazu Berlit, Uwe, juris PraxisReport vom 2. Juni 2006, m. w. N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 050/10 Seite 8 4. Anlagenverzeichnis Korioth, Stefan, Leistungsträgerschaft und Kostentragung bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) - Aufgabenwahrnehmung aus „einer Hand“ zwischen reformiertem Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht, DVBl. 2008, 812 ff. - Anlage 1 - Wahrendorf, Volker; Karmanski, Carsten, Koordination statt Kooperation – zu neuen Organisationsstrukturen im SGB II nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007, NZS 2008, 281 ff. - Anlage 2 - Schulz, Sönke E., Kooperationsmodelle zur Umsetzung des Einheitlichen Ansprechpartners als unzulässige Mischverwaltung?, DÖV 2008, 1028 ff. - Anlage 3 - Beschluss des Sozialgerichts Hannover zur Beteiligtenfähigkeit einer ARGE Job Center, NVwZ 2005, 976 - Anlage 4 -