© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 049/20 Zur Struktursicherungsklausel nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Fragestellung Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG besagt: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Der Sachstand befasst sich mit der Frage, ob die in dieser sogenannten Struktursicherungsklausel aufgeführten Grundsätze zwingende Voraussetzung für eine Mitwirkung der Bundesrepublik an der Entwicklung der Europäischen Union (EU) sind und ob sich die Vorgaben der Klausel auch auf die einzelnen Mitgliedstaaten beziehen. 2. Bedeutung der Struktursicherungsklausel Dem Wortlaut nach stellt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG fest, dass die EU zur Einhaltung der genannten Grundsätze verpflichtet ist.1 Auf Unionseben kann die Klausel allerdings keine unmittelbare Wirkung entfalten: „Die Bundesrepublik kann Europa und kann den übrigen Staaten nicht die Verfassungsstrukturen vorschreiben. Sie kann nur sich selbst binden und sagen, in welchen Homogenitätsvoraussetzungen sie sich weiter integriert.“2 Ihrem Sinn und Zweck nach soll die Norm daher Grenzen für die Mitwirkungshandlungen Deutschlands am Integrationsprozess statuieren.3 Sie ist ein nach innen gerichteter Auftrag an die Verfassungsorgane.4 Die Klausel beschränkt zum einen den Verfassungsauftrag zur Entwicklung der Union.5 Die Bundesrepublik ist verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, an der Entwicklung mitzuwirken, wenn die Union den Vorgaben von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG nicht mehr entspricht.6 Zum anderen dienen 1 Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band X, 3. Aufl. 2012, § 216 Rn. 26. 2 Isensee, Gemeinsame Verfassungskommission, 1. Öffentliche Anhörung, „Grundgesetz und Europa“, S. 49, zitiert nach Schmalenbach, Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, 1996, S. 60. 3 Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band X, 3. Aufl. 2012, § 216 Rn. 26. 4 Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band X, 3. Aufl. 2012, § 216 Rn. 26. 5 Heintschel von Heinegg, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 23 Rn. 10. 6 Hölscheidt, Wie viel „neues Deutschland“ ist möglich?, in: DÖV 2020, 69 (71), der das Beispiel nennt, dass die Union zu einer reinen Zollunion zurückgebaut werden soll. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 049/20 Seite 4 die Strukturvorgaben als Maßstab bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Integrationsmaßnahmen .7 Dies betrifft sowohl die Übertragung von Hoheitsrechten als auch die Mitwirkung auf europäischer Ebene.8 Die Klausel fordert keine Strukturen, die den Ausprägungen des Grundgesetzes entsprechen, sondern nur funktionale Äquivalente.9 Deutsche Staatsbürger sollen nicht einem supranationalen Rechtsregime unterworfen sein, dessen Zielvorstellungen wesentlich von denen des Grundgesetzes abweichen.10 Die Vorgaben werden als von der Union grundsätzlich erfüllt angesehen.11 Das unionsrechtliche Spiegelbild zu Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG sei Art. 2 EUV, der die grundlegenden Werte der Union normiere und dabei weitgehend dieselben Prinzipien wie die Struktursicherungsklausel benenne.12 Als Beispiel für die nähere Ausgestaltung der Vorgaben wird etwa die normative Verankerung des Sozialstaatsprinzips in Art. 3 Abs. 3 EUV und Art. 151 ff. AEUV genannt, die grundsätzlich der des Grundgesetzes entspreche.13 Der Grundrechtsschutz auf Unionsebene wird zudem vom Bundesverfassungsgericht als „im Wesentlichen gleich“ zum Schutz durch das Grundgesetz beurteilt.14 Es wird allerdings darauf hingewiesen, dass die Anforderungen der Klausel entscheidend vom Stand der Integration abhingen.15 Eine zunehmende Integration erfordere auch Fortschritte bei der Umsetzung der in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG genannten Prinzipien.16 7 Heintschel von Heinegg, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 23 Rn. 10; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 23 Rn. 17. 8 Wollenschläger, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2015, Art. 23 Rn. 64. 9 Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band X, 3. Aufl. 2012, § 216 Rn. 26. 10 Schmalenbach, Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission , 1996, S. 58. 11 Uerpmann-Wittzack, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 23 Rn. 12; Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band X, 3. Aufl. 2012, § 216 Rn. 26. 12 Uerpmann-Wittzack, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 23 Rn. 12. 13 Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band X, 3. Aufl. 2012, § 216 Rn. 26. 14 BVerfGE 102, 147 (161 ff.) m.w.N. 15 Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band X, 3. Aufl. 2012, § 216 Rn. 27. 16 BT-Drs. 12/3338, S. 6; Wollenschläger, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2015, Art. 23 Rn. 63; Durner, Verfassungsbindung deutscher Europapolitik, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band X, 3. Aufl. 2012, § 216 Rn. 27. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 049/20 Seite 5 3. Vorgaben der Struktursicherungsklausel für die einzelnen Mitgliedstaaten? Dem Wortlaut nach bezieht sich die Struktursicherungsklausel nur auf die Union, nicht auf die einzelnen Mitgliedstaaten.17 Die Frage, ob sich aus der Klausel dennoch Vorgaben für die Strukturen der einzelnen Mitgliedstaaten ableiten lassen, wird nicht einheitlich beantwortet. Nach wohl herrschender Meinung ist dies nicht der Fall.18 In der Gesetzesbegründung zur Einführung des neuen Art. 23 GG heißt es dazu: „Da die Entsprechung sich auf die Europäische Union bezieht, folgt aus der Verpflichtung z. B. auf föderative Grundsätze nicht eine Verpflichtung anderer Mitgliedstaaten auf diesen Grundsatz für ihren jeweiligen eigenen innerstaatlichen Aufbau.“19 Es wird auch darauf hingewiesen, dass die EU durch Art. 4 Abs. 2 EUV gehindert sei, den Mitgliedstaaten Vorgaben zu ihrer Binnenstruktur zu machen.20 Gemäß dieser Vorschrift achtet die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten. Die Gegenauffassung geht davon aus, dass zumindest „[m]it Blick auf solche institutionellen Struktureigenheiten , die auch für das Funktionieren der Union selbst von grundlegender Bedeutung sind, die aber nicht allein durch Vorgaben des Unionsrechts erreicht werden können und ohne die daher die in Art. 23 Abs. 1 S. 1 enthaltene Verpflichtung nicht erfüllt werden kann“, Anforderungen an die einzelnen Mitgliedstaaten hergeleitet werden könnten.21 Dies sei jedenfalls in Bezug auf den Grundrechtsschutz sowie die Verpflichtung auf demokratische und partiell auch rechtsstaatliche Grundstrukturen der Fall. Andernfalls sei die Legitimation der EU als Rechtsgemeinschaft, die auf einen effektiven nationalen Vollzug des Unionsrechts angewiesen sei, nicht gewährleistet und die zunehmend häufiger vorgesehene gegenseitige Anerkennung nationaler Entscheidungen nicht möglich. *** 17 Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 23 Rn. 16a. 18 Wollenschläger, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2015, Art. 23 Rn. 64; Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 23 Rn. 18; Uerpmann-Wittzack, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 23 Rn. 22. 19 BT-Drs. 12/3338, S. 6. 20 Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 23 Rn. 18; Uerpmann-Wittzack, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 23 Rn. 22. 21 Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 23 Rn. 16a, siehe dort auch zum Folgenden.