© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 048/21 Notstandsgesetzgebung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 048/21 Seite 2 Notstandsgesetzgebung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 048/21 Abschluss der Arbeit: 4. März 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 048/21 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand befasst sich mit der Frage, ob der Bund die Gesetzgebungskompetenz zum Erlass von Vorsorgegesetzen für friedenszeitliche Notlagen in den Gebieten Arbeit, Wirtschaft, Energie, Wasser und Gesundheit hat. Weiter wurde gefragt, ob und unter welchen Voraussetzungen die im Grundgesetz festgelegte bundesstaatliche Kompetenzordnung durch Ergänzung weiterer Bundesbefugnisse geändert werden kann. 2. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Unter „friedenszeitliche Notlagen“ sind Naturkatastrophen, schwere Unglücksfälle, wirtschaftliche Krisenlagen und vergleichbare Ereignisse zu verstehen. Das Arbeitsrecht einschließlich der Betriebsverfassung, des Arbeitsschutzes und der Arbeitsvermittlung und das Sozialversicherungsrecht einschließlich der Arbeitslosenversicherung fallen gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Danach steht dem Bund eine Gesetzgebungsbefugnis zu, die bei Inanspruchnahme eine Sperrwirkung für eine Landesgesetzgebung auslöst.1 Der Bund hat für das Recht der Wirtschaft ohne das Recht des Ladenschlusses, der Gaststätten, der Spielhallen, der Schaustellung von Personen, der Messen, der Ausstellungen und der Märkte gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz. Er kann davon nur Gebrauch machen, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht, Art. 72 Abs. 2 GG. Der erste Fall verlangt, dass sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinander entwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet.2 Der zweite Fall liegt vor, wenn eine Gesetzesvielfalt auf Länderebene eine nicht hinnehmbare Rechtszersplitterung darstellt und sie erhebliche Rechtsunsicherheiten und damit unzumutbare Behinderungen für den länderübergreifenden Rechtsverkehr erzeugt.3 Die Voraussetzungen des dritten Falls sind gegeben, wenn Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringen.4 Der Kompetenztitel für das Recht der Wirtschaft aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG beinhaltet auch die Energiewirtschaft. Im Bereich der Kernenergie hat der Bund gemäß Art. 73 Abs. 1 Nr. 14 GG die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz. 1 Wittreck, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 72 Rn. 30. 2 BVerfGE 125, 141 (155); BVerfGE 111, 226 (254). 3 BVerfGE 112, 226 (244). 4 BVerfGE 112, 226 (249). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 048/21 Seite 4 Im Gebiet der Wasserwirtschaft kann sich der Bund auf die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für den Wasserhaushalt stützen, Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 GG.5 Die Länder können anschließend gemäß Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 GG durch Gesetz abweichende Regelungen über den Wasserhaushalt mit Ausnahme stoff- oder anlagenbezogener Vorschriften treffen. Für den Bereich der Gesundheit sehen Art. 73 Abs. 1 Nr. 19 und 19a GG eine konkurrierende Bundeszuständigkeit vor. Art. 73 Abs. 1 Nr. 19 GG erfasst Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren, die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe, sowie das Recht des Apothekenwesens, der Arzneien, der Medizinprodukte, der Heilmittel, der Betäubungsmittel und der Gifte. Der Bund hat z. B. den Erlass des Infektionsschutzgesetzes auf diese Kompetenz gestützt.6 Unter Art. 73 Abs. 1 Nr. 19a GG fällt die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Regelung der Krankenhauspflegesätze . Diese Kompetenz kann nur unter den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG ausgeübt werden. Soweit eine Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des lebenswichtigen Bedarfs erreicht werden soll, kann sich der Bund alternativ zu den oben genannten Kompetenztiteln auch auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG stützen.7 Das in dieser Vorschrift genannte Recht der Wirtschaft umfasst alle das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung als solche regelnden Normen, welche sich in irgendeiner Form auf die Erzeugung, Herstellung, und Verteilung von Gütern des wirtschaftlichen Bedarfs beziehen.8 Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass von Vorsorgegesetzen in den oben genannten Gebieten, soweit der Bereich der Gefahrenabwehr nicht berührt wird. Das Gefahrenabwehrrecht fällt in den Kompetenzbereich der Bundesländer.9 3. Änderung der bundesstaatlichen Kompetenzordnung Eine Änderung der Art. 73 Abs. 1 und Art. 74 Abs. 1 GG durch die Ergänzung weiterer Bundeskompetenzen ist durch eine Verfassungsänderung möglich. Dafür muss ein Gesetz mit der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates verabschiedet werden, Art. 79 Abs. 2 GG. Bei einer Änderung einzelner Vorschriften in der bundesstaatlichen Kompetenzordnung werden keine Belange des Art. 79 Abs. 3 GG berührt.10 *** 5 Wittreck, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 74 Rn. 150. 6 Lutz, in: Lutz, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2020, Vorbemerkung Rn. 1b. 7 Vgl. von Lewinski, Verkehrsleistungsgesetz, 1. Online-Auflage 2020, § 1 Rn. 3. 8 BVerfGE 8, 143 (148 f.). 9 Wittreck, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 70 Rn. 15. 10 Kment, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage 2020, Art. 79 Rn. 13.