© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 048/17 Öffentliche Versammlungen mit Beteiligung von ausländischen Staatsoberhäuptern oder Regierungsmitgliedern Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten von öffentlichen Versammlungen in geschlossenen Räumen 8 4.3.3. Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten von Versammlungen unter freiem Himmel 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 048/17 Seite 4 1. Fragestellung Gefragt wird nach der grundrechtlichen Relevanz sowie nach der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern für den Fall der politischen Betätigung von ausländischen Staatsoberhäuptern oder anderen Regierungsmitgliedern (ausländischen Staatsvertretern) auf öffentlichen Versammlungen in Deutschland. Ausländische Staatsvertreter könnten beispielsweise als persönlich anwesende oder live über Videoleinwand zugeschaltete Redner auf öffentlichen Versammlungen auftreten. Konkret wird die Frage gestellt, inwieweit das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG „als Instrument genutzt werden [kann], ausländischen Staatsoberhäuptern oder Regierungsmitgliedern ein Forum zu eröffnen, sich auf öffentlichen Versammlungen in Deutschland als Hoheitsträger amtlich zu politischen Fragestellungen zu äußern“. Darüber hinaus soll erläutert werden, wie die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern in Bezug auf die Behandlung von solchen öffentlichen Versammlungen verteilt sind. 2. Besonderheiten der Fallkonstellation Von der Fragestellung umfasst ist allein die öffentliche Versammlung. Öffentliche Versammlungen sind – in Abgrenzung zu privaten Veranstaltungen – Versammlungen, zu denen der Zutritt nicht auf einen namentlich oder sonst individuell bezeichneten Personenkreis beschränkt, sondern jedem gestattet ist.1 Es geht ferner darum, dass ausländische Staatsvertreter bei solchen öffentlichen Versammlungen in ihrer hoheitlichen Funktion auftreten und sich amtlich zu politischen Fragestellungen äußern wollen. Die hier relevante Fallkonstellation ist insofern untypisch, als das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG geltend gemacht wird, um eine solche politische Betätigung ausländischer Staatsvertreter in Deutschland zu ermöglichen. Im Zusammenhang mit der politischen Betätigung von ausländischen Staatsvertretern in Deutschland ist vielmehr der „umgekehrte“ Fall typisch, dass nämlich ein staatlich veranlasster Besuch ausländischer Staatsvertreter dazu führt, dass die Bürger von ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit Gebrauch machen.2 Soweit ersichtlich ist die hier fragliche Fallkonstellation bisher nicht Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Diskussion.3 Allein das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) hat in einem Eilverfahren vom Juli 2016 eine rechtliche Einordnung vorgenommen.4 In dem zugrunde liegenden Fall ging es um eine versammlungsbeschränkende Auflage, die die Live-Zuschaltung über Videoleinwand zu einem ausländischen Staatsoberhaupt und anderen Regierungsmitgliedern untersagte. Im Ergebnis hatten die Veranstalter mit ihrem Begehren, die Live-Zuschaltung zuzulassen, keinen Erfolg. 1 Wache, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze (Stand: November 2016), Rn. 25 zu § 1 VersammlG m.w.N. 2 Vgl. dazu nur BVerfG NJW 2007, 2167 zum Verbot eines „Sternmarsches“ am Standort des G8-Gipfels in Heiligendamm. 3 Siehe aber den Hinweis auf den sogleich zu erörternden Beschluss des OVG NRW bei Schneider, in: Beck`scher Online-Kommentar Grundgesetz (Stand: Dezember 2016) Rn. 11.4 zu Art. 8. 4 OVG NRW, Beschluss vom 29.07.2016 – 15 B 876/16 –, juris, im Anschluss an VG Köln, Beschluss vom 29.07.2016 – 20 L 1790/16 –, juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 048/17 Seite 5 3. Keine Grundrechtsrelevanz Das OVG NRW sieht in der versammlungsbeschränkenden Auflage keine Verletzung subjektiver Rechte. Zur Begründung führt das OVG NRW aus, dass schon der Schutzgehalt von Grundrechten – hier der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG, der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG – nicht berührt sei. Die genannten Grundrechte würden keinen Anspruch darauf vermitteln, „ausländischen Staatsoberhäuptern oder Regierungsmitgliedern die Gelegenheit zu geben, in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen öffentlicher Versammlungen in ihrer Funktion als Staatsoberhaupt bzw. Regierungsmitglied zu politischen Themen zu sprechen“.5 Für das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG führt das OVG NRW die fehlende Betroffenheit des Schutzbereichs näher aus. Zu den konstituierenden Merkmalen des Art. 8 Abs. 1 GG gehöre es u.a., dass die Bürger selbst entscheiden können, wann, wo und unter welchen Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können (Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung).6 Auch seien Demonstrationen in ihrer idealtypischen Ausformung „die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen“.7 Nach Auffassung des OVG NRW liegt es jedoch erkennbar außerhalb des Schutzzwecks von Art. 8 Abs. 1 GG, eine Livebildübertragung eines ausländischen Staatsoberhauptes zu ermöglichen. Das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG sei „kein Instrument dafür, ausländischen Staatsoberhäuptern oder Regierungsmitgliedern ein Forum zu eröffnen, sich auf öffentlichen Versammlungen im Bundesgebiet in ihrer Eigenschaft als Hoheitsträger amtlich zu politischen Fragestellungen zu äußern.“8 Nach den Ausführungen des OVG NRW fehlt es damit auf Seiten der Veranstalter schon an der Betroffenheit grundrechtlicher Schutzbereiche. Gleiches dürfte für die Versammlungsteilnehmer gelten. In Bezug auf das ausländische Staatsoberhaupt verweist das OVG NRW auf die fehlende Grundrechtsberechtigung eines Hoheitsträgers.9 Da es der versammlungsbeschränkenden Maßnahme nach Auffassung des OVG NRW schon an der Grundrechtsrelevanz mangelte, bedurfte es keiner weiteren Ausführungen zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Das ebenfalls in dieser Sache angerufene Bundesverfassungsgericht hat den Erlass einer einstweiligen Anordnung bereits wegen Unzulässigkeit des Antrags abgelehnt.10 Die vom OVG NRW konstatierte fehlende Grundrechtsrelevanz wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich bestätigt. Seinem knappen Hinweis darauf, dass im Übrigen eine Verkennung von Grundrechten nicht ersichtlich sei, lässt sich aber wohl eine entsprechende Tendenz entnehmen. 5 OVG NRW (Fn. 4), Rn. 6. 6 OVG NRW (Fn. 4), Rn. 8. 7 OVG NRW (Fn. 4), Rn. 12. 8 OVG NRW (Fn. 4), Rn. 14. 9 OVG NRW (Fn. 4), Rn. 14. 10 BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 30.07.2016 – 1 BvQ 29/16 –, juris. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 048/17 Seite 6 Die Entscheidung über die hier fraglichen Auftritte ausländischer Staatsvertreter auf öffentlichen Versammlungen ordnet das OVG NRW einer anderen als der grundrechtlichen Ebene zu, namentlich der Ebene der Außenpolitik, die in die Zuständigkeit des Bundes fällt. „Der Grundentscheidung der Art. 20 Abs. 1, Abs. 2, 23, 24, 32 Abs. 1, 59, 73 Nr. 1 GG ist zu entnehmen, dass sich die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten - d. h. auch zu deren Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern - allein nach Maßgabe dieser Bestimmungen auf der zwischenstaatlichen Ebene vollziehen. Sie sind in diesem Rahmen Gegenstand der Gestaltung der Außenpolitik des Bundes. (…) Es ist damit Sache des Bundes zu entscheiden, ob und unter welchen Rahmenbedingungen sich ausländische Staatsoberhäupter oder Regierungsmitglieder auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im öffentlichen Raum durch amtliche Äußerungen politisch betätigen dürfen. Die Entscheidung darüber liegt nicht bei dem privaten Anmelder einer - ansonsten über Art. 8 Abs. 1 GG geschützten - Versammlung.“11 4. Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern In Bezug auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern bei der Behandlung der hier fraglichen öffentlichen Versammlungen ist zwischen der außenpolitischen Entscheidung über den Auftritt ausländischer Staatsvertreter und der Abwehr versammlungsspezifischer Gefahren nach Maßgabe versammlungsrechtlicher Vorschriften zu unterscheiden. 4.1. Bundesebene Nach der Rechtsprechung des OVG NRW ist es aufgrund der Bundeszuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten Sache des Bundes, über hoheitliche Auftritte ausländischer Staatsvertreter auf öffentlichen Versammlungen in Deutschland zu entscheiden. Im Rahmen der auswärtigen Angelegenheiten liegen die materiellen Entscheidungsbefugnisse insbesondere bei der Bundesregierung.12 Dementsprechend bestimmt sich der Aufenthalt von ausländischen Staatsvertretern in amtlicher Funktion gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz i.V.m. § 20 Gerichtsverfassungsgesetz nicht nach den allgemeinen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes. Vielmehr sind die Einreise und der Aufenthalt der ausländischen Staatsvertreter im Rahmen des Völkerrechts vom Auswärtigen Amt im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern durch besondere Bestimmungen geregelt.13 Bei der hier fraglichen Beteiligung von ausländischen Staatsvertretern an öffentlichen Versammlungen in hoheitlicher Funktion wird man daher von einer Abstimmung mit der Bundesregierung ausgehen können. 4.2. Länderebene Ob darüber hinaus ein Tätigwerden der Landesbehörden in Betracht kommt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Nicht auszuschließen sind versammlungsbeschränkende Maßnahmen 11 OVG NRW (Fn. 4), Rn. 15 ff., Hervorhebungen nicht im Original. 12 Vgl. dazu BVerfGE 68, 1, 87 f.; 90, 286, 357 f.; BVerfG, NVwZ 2012, 954 ff. 13 Vgl. dazu Ziff. 1.2.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift des Bundesministeriums der Innern zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 048/17 Seite 7 durch die Versammlungsbehörden der Länder nach Maßgabe des Versammlungsgesetzes (VersG).14 Denkbar wäre insoweit die Vermeidung versammlungstypischer Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, die aus der Durchführung der Versammlung resultieren. Für versammlungsbeschränkende Maßnahmen, die nicht der Vermeidung versammlungstypischer Gefahren, sondern dem Schutz der „staatlichen und außenpolitischen Souveränität“ dienen sollen, dürfte – zumindest in der Praxis – kein Raum bestehen.15 Denn soweit der geplante hoheitliche Auftritt eines ausländischen Staatsvertreters bei einer öffentlichen Versammlung den Absprachen mit der Bundesregierung widerspricht, erscheint es eher fernliegend, dass über die diplomatische Ebene hinaus eine versammlungsbeschränkende Maßnahme notwendig wäre. 4.3. Versammlungsbeschränkende Maßnahmen durch die Versammlungsbehörden der Länder 4.3.1. Öffentliche Versammlungen in geschlossenen Räumen und unter freiem Himmel Das Versammlungsgesetz unterscheidet zwischen öffentlichen Versammlungen in geschlossenen Räumen und unter freiem Himmel und stellt an deren jeweilige Verbotsmöglichkeiten unterschiedliche Anforderungen. Die Unterscheidung liegt darin begründet, dass durch die unterschiedlichen Charakteristika der Veranstaltungsorte auch verschiedene Gefährdungspotentiale für Rechte Dritter begründet werden.16 Eine öffentliche Versammlung in geschlossenen Räumen bietet wegen der räumlichen Begrenzung ein geringeres, eine Versammlung unter freiem Himmel ein höheres Gefährdungspotential für die Rechte Dritter. Dementsprechend sind die Voraussetzungen der Verbotstatbestände des Versammlungsgesetzes für öffentliche Versammlungen in geschlossenen Räumen strenger als für Versammlungen unter freiem Himmel. Für die Bestimmung, ob die öffentliche Versammlung in geschlossenen Räumen stattfindet, ist – trotz des leicht missverständlichen Wortlautes – nicht maßgeblich, ob sie unter einer Überdachung stattfindet, sondern ob sie zu allen Seiten gegenüber ihrer Umwelt abgegrenzt ist.17 Entscheidendes Kriterium ist somit, ob Dritte jederzeit die Möglichkeit haben, zur Veranstaltung hinzuzutreten.18 Somit sind Versammlungen in Hallen oder Arenen, bei denen die mögliche Besucherzahl begrenzt ist, Versammlungen in geschlossenen Räumen. Demgegenüber sind Versammlungen unter freiem Himmel solche, die nicht nach außen hin für den nicht steuerbaren Zutritt Dritter verschlossen sind. 14 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Versammlungsgesetz des Bundes. Durch die Föderalismusreform I von 2006 ist die Gesetzeskompetenz für das Versammlungsrecht in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder übergegangen. Einige Bundesländer haben inzwischen eigene Versammlungsgesetze erlassen bzw. das des Bundes in Landesrecht überführt. Im Hinblick auf die angesprochenen Befugnisnormen ergeben sich jedoch keine wesentlichen Abweichungen zwischen Bundes- und Landesrecht. 15 Siehe insoweit aber die Stellungnahme von Pieroth in dem Beitrag von Teigler, „Darf Erdoğan in NRW Wahlkampf machen?“, abrufbar unter: http://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/yildirim-erdogan-verbotsdebatte-100.html: „‘Die einzige Möglichkeit für ein Verbot wäre dann gegeben, wenn die Bundesregierung durch eine Erdoğan-Rede in Deutschland ihre staatliche und außenpolitische Souveränität beeinträchtigt sieht‘, sagte der Jurist weiter. In diesem Fall könnte die Bundesregierung ein solches Verbot bei der örtlichen Polizeibehörde beantragen.“ 16 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz (16. Auflage, 2011), II, Rn. 8. 17 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), II, Rn. 8. 18 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), II, Rn. 8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 048/17 Seite 8 4.3.2. Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten von öffentlichen Versammlungen in geschlossenen Räumen Öffentliche Versammlungen in geschlossenen Räumen können im Vorfeld, also vor Beginn der Versammlung, nach § 5 VersG durch die zuständige Versammlungsbehörde verboten werden. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch klargestellt, dass Verbote (und Auflösungen) nur „unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit […] erfolgen dürfen“.19 Bevor es zu einem Verbot kommt, hat die Versammlungsbehörde zunächst Maßnahmen zum Schutze der Versammlung abzuwägen und ggf. weniger einschneidende Maßnahmen wie Auflagen zu erteilen.20 Gemäß § 5 Nr. 1 VersG kann eine Versammlung verboten werden, wenn dem Veranstalter das Versammlungsrecht wegen einer der in § 1 Abs. 2 Nr. 1 - 4 VersG genannten Gründe nicht zusteht. Der Kanon des § 1 Abs. 2 Nr. 1 - 4 VersG umfasst im Wesentlichen Fälle, in denen der Veranstalter das Grundrecht der Versammlungsfreiheit verwirkt hat oder Ziele von Parteien oder Organisationen verfolgt, die wegen ihrer Verfassungsfeindlichkeit verboten sind. Darüber hinaus können gemäß § 5 Nr. 2 VersG solche Versammlungen verboten werden, in denen der Veranstalter oder Versammlungsleiter bewaffneten Teilnehmern Zutritt verschafft. Weiterhin kann gemäß § 5 Nr. 3 VersG eine Versammlung verboten werden, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Veranstalter einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf der Versammlung anstrebt. Diese Tatsachen müssen sich dem Willensbereich des Veranstalters zuordnen lassen. Es muss also dem Veranstalter darauf ankommen, dass die Versammlung einen unfriedlichen Verlauf nimmt.21 Schließlich erfasst § 5 Nr. 4 VersG den Fall, dass der Veranstalter strafbedrohte Ansichten vertritt bzw. strafbedrohte Äußerungen duldet. In diesem Zusammenhang sind etwa die Verunglimpfung des Bundespräsidenten, § 90 Strafgesetzbuch (StGB), des Staates und seiner Symbole, § 90a StGB, oder anderer Verfassungsorgane, § 90b StGB, denkbar. Nach Beginn der öffentlichen Versammlung ist kein Verbot, sondern nur eine Auflösung gemäß § 13 Abs. 1 VersG durch die zuständige Versammlungsbehörde möglich.22 Die Vorschrift des § 13 Abs. 1 Nr. 1 VersG ist identisch mit dem bereits oben erläuterten Verbotsgrund des § 5 Nr. 1 VersG. Zusätzlich sieht § 13 Abs. 1 Nr. 2 VersG die Möglichkeit vor, eine Versammlung aufzulösen, wenn sie einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Teilnehmer besteht. Eine Versammlung nimmt dann einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf, wenn es zu schweren Hausfriedensbrüchen (§ 124 StGB) oder Landfriedensbrüchen (§ 125 StGB) kommt.23 Beide Straftatbestände enthalten als Bezugsobjekt den Begriff der Menschenmenge, die bewusst und gemeinschaftlich Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen begeht. Sofern es bei den Versammlungen zu kleineren, spontanen 19 BVerfGE 69, 315 (LS 2b). 20 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), Rn. 38 zu § 13. 21 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), Rn. 30 zu § 13. 22 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), Rn. 3 zu § 5. 23 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), Rn. 13 zu § 13 und Rn. 32 zu § 5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 048/17 Seite 9 Zusammenstößen zwischen Versammlungsteilnehmern und Gegendemonstranten kommt, dürfte es sich schon nicht um Menschenmengen handeln, die absichtlich (§ 124 StGB) oder vorsätzlich mit vereinten Kräften (§ 125 StGB) handeln. Der zweite zum Ausdruck gebrachte Auflösungsgrund der unmittelbaren Gefahr für Leben oder Gesundheit der Teilnehmer läuft als Auflösungsgrund für die gesamte Versammlung praktisch leer.24 Denn geht die Gewalthandlung, die Gefahr für Leben oder Gesundheit der Teilnehmer begründet, von einem Einzelnen aus und wird dadurch nicht die Versammlung im Ganzen unfriedlich, so sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur Maßnahmen gegen die gefahrverursachende Person zulässig. 25 Ansonsten hätte es jeder Einzelne in der Hand, entgegen dem Willen der anderen, friedlichen Teilnehmer eine Versammlung rechtswidrig werden zu lassen.26 Geht die Gewalthandlung stattdessen von mehreren aus, so ist in der Regel der Tatbestand des gewalttätigen oder aufrührerischen Verlaufs erfüllt.27 Diese qualitative Grenze ist aber, wie bereits geschildert, bei kleineren Zusammenstößen nicht erreicht. Der Auflösungstatbestand des § 13 Abs. 1 Nr. 3 VersG knüpft daran an, dass bewaffnete Personen nicht ausgeschlossen werden. Schließlich besteht gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 4 VersG die Möglichkeit zur Versammlungsauflösung, wenn durch deren Verlauf gegen Strafgesetze verstoßen wird oder in der Versammlung zu Straftaten aufgefordert wird. Hinsichtlich der ersten Alternative ist zu beachten, dass die Vorschrift im Lichte von Art. 8 GG verfassungskonform restriktiv zu interpretieren ist. Es kommen nur solche Straftaten in Betracht, die die Anwendung oder Androhung physischer Gewalt gegen Personen oder Sachen unter Strafe stellen.28 Darüber hinaus muss „durch den Verlauf“ der Versammlung gegen diese Strafgesetze verstoßen worden sein. Die Versammlung muss also durch ihre aggressive Grundstimmung die Straftaten provozieren.29 4.3.3. Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten von Versammlungen unter freiem Himmel Versammlungen unter freiem Himmel können im Vorfeld nach § 15 Abs. 1 VersG durch die zuständige Versammlungsbehörde verboten werden.30 Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind jedoch vor einem Verbot (ultima ratio) zunächst weniger einschneidende Maßnahmen (Auflagen) in Betracht zu ziehen. Die Vorschrift des § 15 Abs. 1 VersG setzt voraus, dass Umstände erkennbar sind, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung bei der Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährden. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „den Schutz zentraler Rechtsgüter, wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen 24 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), Rn. 15 zu § 13. 25 Vgl. BVerfGE 69, 315, 361. 26 Vgl. BVerfGE 69, 315, 361. 27 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), Rn. 15 zu § 13. 28 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), Rn. 25 zu § 13. 29 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), Rn. 27 zu § 13. 30 Der besondere Verbotsgrund des § 15 Abs. 2 VersG, der dem Schutz von Orten dient, die an die Opfer nationalsozialistischer Gewalt- und Willkürherrschaft erinnern, ist nicht Gegenstand der Ausarbeitung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 048/17 Seite 10 Einrichtungen.“31 Unter dem Begriff der öffentlichen Ordnung ist nach dem Bundesverfassungsgericht „die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln zu verstehen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebietes angesehen wird.“32 Ein präventives Verbot setzt eine Gefahrenprognose der zuständigen Versammlungsbehörde voraus. Dabei verlangt das Bundesverfassungsgericht ein Wahrscheinlichkeitsurteil, das auf Tatsachen beruht.33 Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen sind nicht ausreichend.34 Zu berücksichtigen ist ferner, dass es im Lichte der grundrechtlichen Gewährleistung von Art. 8 GG nicht Einzelne in der Hand haben dürfen, die Realisierung friedlicher Versammlungen durch friedliche Teilnehmer mit ihrem unfriedliches Verhalten faktisch außer Kraft zu setzen.35 Sofern also eine gesicherte Gefahrenprognose nicht den Schluss zulässt, dass die geplante Versammlung mit hoher Wahrscheinlichkeit im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf annimmt, scheidet ein Verbot aus.36 Auch für den Fall, dass Störungen der öffentlichen Sicherheit durch Gegendemonstration zu befürchten sind, ist die Durchführung der Versammlung nach Art. 8 Abs. 1 GG grundsätzlich zu schützen und sind behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer zu richten.37 Ein Vorgehen gegen die friedliche Versammlung selbst kann nur unter den besonderen, eng auszulegenden Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes erfolgen: „Mit Art. 8 GG wäre es nicht zu vereinbaren, dass bereits mit dem Bevorstehen einer Gegendemonstration, deren Durchführung den Einsatz von Polizeikräften erfordern könnte, erreicht werden kann, dass dem Veranstalter der angemeldeten Versammlung die Möglichkeit genommen wird, sein Demonstrationsanliegen zu verwirklichen. Deshalb muss vorrangig versucht werden, den Schutz der Versammlung auf andere Weise durchzusetzen. Der Staat darf insbesondere nicht dulden, dass friedliche Demonstrationen einer bestimmten politischen Richtung durch gewalttätige Gegendemonstrationen verhindert werden. Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, so ist es Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit für alle Grundrechtsträger hinzuwirken und die polizeilichen Mittel und Kräfte bereitzustellen bzw. erforderlichenfalls im Wege der Amtshilfe zu organisieren, um dieses Ziel zu erreichen (…). Der Bund und die Länder sind gegebenenfalls zur Amtshilfe verpflichtet . Im Regelfall muss und wird es deshalb möglich sein, eine Versammlung, die - wie im vorliegenden Verfahren - frühzeitig angemeldet wurde, vor Angriffen Dritter zu schützen und so deren Durchführung sicherzustellen. Lassen sich angesichts nicht vorhersehbarer 31 BVerfGE 69, 315, 352. 32 BVerfGE 69, 315, 352. 33 BVerfG, NJW 2001, 2072, 2074. 34 BVerfG, NVwZ 1998, 834 (835). 35 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), Rn. 38 zu § 13. 36 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 16), Rn. 38 zu § 13. 37 BVerfGE 69, 315, 360 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 048/17 Seite 11 Entwicklungen oder außergewöhnlicher Umstände im Einzelfall die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit benötigten Polizeikräfte am Veranstaltungstag auch unter Hinzuziehung externer Kräfte nicht rechtzeitig bereitstellen, verlangt eine verhältnismäßige Beschränkung des Art. 8 Abs. 1 GG auch die Prüfung einer zeitlichen Verschiebung der Versammlung anstelle eines Verbots als milderes Mittel.“38 Das Vorgesagte gilt entsprechend für die mögliche Auflösung einer bereits begonnenen Versammlung, da § 15 Abs. 3 VersG auf Abs. 1 verweist. Auch in diesem Fall sind zunächst weniger einschneidende Maßnahmen als eine Auflösung zum Schutze der Versammlung im Ganzen zu ergreifen. *** 38 BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 11.11.2015 – 1 BvR 2211/15 –, juris, Rn. 4, Hervorhebungen nicht im Original.