© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 047/21 Einschränkung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zum Gesundheitsschutz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 047/21 Seite 2 Einschränkung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zum Gesundheitsschutz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 047/21 Abschluss der Arbeit: 4. März 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 047/21 Seite 3 1. Recht auf informationelle Selbstbestimmung Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet. Es gewährt dem Einzelnen „die Befugnis, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden“1. Ein Eingriff in das Grundrecht liegt jedenfalls dann vor, wenn der Einzelne durch staatliches Handeln zur Offenlegung seiner Daten verpflichtet wird. Kein Eingriff liegt hingegen vor, wenn der Einzelne vollkommen freiwillig entscheiden kann, seine Daten preiszugeben. Dies betrifft etwa die derzeitig verwendete „Corona-App“.2 In Bezug auf die Corona- Pandemie könnte das Grundrecht etwa im Falle einer verpflichtenden Nutzung der „Corona-App“ oder bei einer verpflichtenden Einführung eines Immunitätsnachweises betroffen sein.3 Ein Beispiel für einen bereits tatsächlich vorgenommenen Eingriff in das Grundrecht war die Pflicht zum Führen von „Kontaktlisten“, die im Herbst 2020 in den Corona-Verordnungen der Länder für Gastwirte und Betreiber anderer Gewerbe vorgesehen war.4 2. Rechtfertigung eines Eingriffs Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird nicht schrankenlos gewährleistet.5 Es unterscheidet sich insofern nicht von den anderen Grundrechten mit Ausnahme der unantastbaren Menschenwürde. Der Staat ist gerade im Bereich der Gefahrenabwehr vielfach darauf angewiesen, auf Informationen zurückzugreifen, die ihm einen effektiven Schutz der Bürger ermöglichen.6 Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bedürfen einer gesetzlichen Grundlage und müssen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügen.7 Der Eingriff muss daher einen legitimen Zweck verfolgen und zur Erreichung dieses Zweckes erforderlich, geeignet und angemessen sein. Die Anforderungen an den mit dem Gesetz verfolgten legitimen Zweck sind desto höher, je sensibler die zugrundliegenden Daten sind und je weitreichender auf diese zugegriffen werden soll.8 Während Eingriffe in den „absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung“ niemals 1 BVerfGE 103, 21 (33), Hervorhebung nur hier. 2 Siehe dazu die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Handytracking in Deutschland, WD 3 - 3000 - 097/20, S. 6 f. 3 Siehe dazu die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Fragen zur Einführung einer Immunitätsdokumentation, WD 3 - 3000 - 123/20. 4 Dabei handelte es sich um einen mittelbaren Eingriff, da der Staat sich Privater bediente, um Daten zu erheben. Siehe dazu den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Verpflichtung zur Datenerhebung zum Zwecke der Kontaktverfolgung nach den Corona-Verordnungen der Länder, WD 3 - 3000 - 087/21. 5 BVerfGE 78, 77 (85). 6 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, 92. EL August 2020, Art. 2 Abs. 1 Rn. 179. 7 BVerfGE 65, 1 (44). 8 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, 92. EL August 2020, Art. 2 Abs. 1 Rn. 181. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 047/21 Seite 4 zu rechtfertigen sind, können staatliche Maßnahmen, die zwar das Persönlichkeitsrecht tangieren, aber nicht in den Kernbereich fallen, mit Belangen gerechtfertigt werden, die im überwiegenden Allgemeininteresse liegen.9 Der Eingriff darf nicht weitergehen, als zum Schutz der öffentlichen Interessen unerlässlich ist.10 Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sollen gemäß § 28a Abs. 3 Infektionsschutzgesetz dem Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems dienen. Der Staat ist nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet, Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu schützen.11 Der Schutz dieser Rechtsgüter, die zu den höchsten überhaupt zählen,12 liegt im überwiegenden Allgemeininteresse. Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung können daher im Grundsatz mit dem Gesundheitsschutz gerechtfertigt werden. Dies wurde etwa in Bezug auf die Pflicht zur Führung von Kontaktlisten vom Saarländischen Verfassungsgerichtshof bestätigt.13 Der Gerichtshof führte aus, dass die Regelung einem „uneingeschränkt legitimen Ziel“ diene. Sie leiste „einen Beitrag zur Bekämpfung der Ausbreitung der Pandemie und damit zur Abwehr erheblich ins Gewicht fallender Gefahren für Leben, Gesundheit und Freiheit aller sowie der Funktionsweise staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen“. Sie diene damit einem überragenden Gemeinschaftsinteresse. Ob eine konkrete Maßnahme geeignet und erforderlich ist, um dem Gesundheitsschutz zu dienen, ist eine Frage des Einzelfalls. In Bezug auf die Corona-Pandemie hängt die Beurteilung zum einen von der aktuellen Infektionslage ab, zum anderen vom wissenschaftlichen Erkenntnisstand zur Wirksamkeit der jeweiligen Maßnahme. Bei der Corona-Impfung (und damit auch beim Impfnachweis , der in die informationelle Selbstbestimmung eingreifen kann) ist die Wirkung noch nicht eindeutig geklärt.14 Allerdings kann sich der Gesetzgeber grundsätzlich auf einen Einschätzungsund Prognosespielraum berufen. Dies gilt nach der Rechtsprechung in Bezug auf Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in besonderem Maße, da „die Tatsachengrundlage, auf der der Normgeber seine Entscheidung zu treffen hat, angesichts der Neuartigkeit der Gefahrenlage und 9 BVerfGE 84, 239 (279 f.); 34, 238 (245 f.). 10 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, 92. EL August 2020, Art. 2 Abs. 1 Rn. 181. 11 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 229. 12 BVerfGE 39, 1 (42): „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“ 13 Saarländischer VerfGH, Beschluss vom 28. August 2020, Lv 15/20, BeckRS 2020, 21205. Der Gerichtshof erklärte die saarländische Regelung zur Kontaktnachverfolgung zwar als unvereinbar mit der saarländischen Verfassung, bezog dies aber nur auf die zum damaligen Zeitpunkt fehlende Rechtsgrundlage. Im Übrigen hielt er die Regelung für verhältnismäßig. 14 Siehe auch die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Fragen zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Ungleichbehandlungen von geimpften gegenüber ungeimpften Personen, WD 3 - 3000 - 001/21, S. 4 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 047/21 Seite 5 der im fachwissenschaftlichen Diskurs auftretenden Ungewissheiten [...] als besonders unsicher anzusehen“ sei.15 Im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit ist eine Abwägung der betroffenen Grundrechte mit dem Zweck der konkreten Maßnahme vorzunehmen. In Bezug auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist insbesondere von Bedeutung, welche Art von Daten erhoben wird. Gesundheitsbezogene Daten sind besonders sensibel und schutzbedürftig.16 Ein Eingriff durch die Verarbeitung solcher Daten wiegt daher besonders schwer. Auf der anderen Seite steht hier allerdings das Ziel des Schutzes besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter. Für die konkrete Ausgestaltung einer Regelung, die in die informationelle Selbstbestimmung eingreift, hat das Bundesverfassungsgericht die Vorgabe erteilt, der Gesetzgeber müsse aufgrund der „Gefährdungen durch die Nutzung der automatischen Datenverarbeitung […] mehr als früher auch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen […] treffen, welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken “.17 Erforderlich seien beispielsweise ein Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabeverbote und Verwertungsverbote sowie weitere verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen wie Aufklärungspflichten, Auskunftspflichten und Löschungspflichten.18 *** 15 Bayerischer VerfGH, Beschluss vom 21. Oktober 2020, Vf. 26-VII-20, ZD 2021, 33 (35); vgl. auch BVerfG, NVwZ 2020, 876 (878). 16 Vgl. Weichert, in: Kühling/Buchner (Hrsg.), DS-GVO/BDSG, 3. Aufl. 2020, Art. 9 DS-GVO Rn. 13, 34 ff.; Ernst, in: Paal/Pauly (Hrsg.), DS-GVO/BDSG, 3. Aufl. 2021, Art. 4 Rn. 106 f. 17 BVerfGE 65, 1 (44), Hervorhebung nur hier. 18 BVerfGE 65, 1 (44).