© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 047/16 Bund-Länder-Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Besondere parteipolitische Konstellationen und ihre verfahrensrechtliche Relevanz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 047/16 Seite 2 Bund-Länder-Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Besondere parteipolitische Konstellationen und ihre verfahrensrechtliche Relevanz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 047/16 Abschluss der Arbeit: 15.02.2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 047/16 Seite 3 1. Einleitung Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG i.V.m. § 13 Nr. 7, §§ 68 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) entscheidet das Bundesverfassungsgericht bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder. Ausgestaltet ist das Bund-Länder-Streitverfahren als ein kontradiktorisches Verfahren, in dem die Verfahrensbeteiligten über ihre gegenseitigen verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten streiten. Antrags- und vertretungsberechtigt sind nach § 68 BVerfGG die Bundesregierung für den Bund und die Landesregierung für ein Land. Aus parteipolitischer Perspektive können Konstellationen auftreten, in denen ein- und dieselbe Partei sowohl dem Antragsteller als auch dem Antragsgegner zuzuordnen ist. Stellt diese Partei sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene die Regierungsfraktion oder eine Koalitionsfraktion, stünde sie – parteipolitisch – ganz oder teilweise hinter dem Antragsteller und auch hinter dem Antragsgegner. Es wird die Frage gestellt, ob eine solche parteipolitische Identität oder Teilidentität zwischen Antragstellerin und Antragsgegnerin in den bisher geführten Bund-Länder-Streitverfahren bereits vorgekommen ist. Konkret geht es um die Ermittlung von Verfahren, in denen eine Landesregierung Antragstellerin war. Ferner soll geklärt werden, ob sich diese besondere parteipolitische Konstellation verfahrensrechtlich auswirkt. 2. Besondere parteipolitische Konstellationen Bisher wurden 23 Bund-Länder-Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geführt. In fünf Fällen handelte es sich um Verfahren des Bundes gegen ein Land. Die hier fragliche Konstellation eines Verfahrens von einem oder mehrerer Länder gegen den Bund mit parteipolitischer (Teil-) Identität zwischen Landesregierung(en) und Bundesregierung ist in folgenden neun Fällen aufgetreten: – BVerfGE 1, 14: Baden (CDU) gegen Bund (CDU/CSU, FDP, DP), – BVerfGE 11, 6: Nordrhein-Westfalen (SPD, FDP, Zentrum) gegen Bund (CDU/CSU, FDP, DP), – BVerfGE 80, 74: Bayern (CSU) gegen Bund (CDU/CSU, FDP), – BVerfGE 85, 164: Hessen (CDU, FDP) gegen Bund (CDU/CSU, FDP), – BVerfGE 92, 203: Bayern (CSU) gegen Bund (CDU/CSU, FDP), – BVerfGE 95, 250: Sachsen (CDU) und Thüringen (CDU, SPD) gegen Bund (CDU/CSU, FDP), – BVerfGE 109, 1: Mecklenburg-Vorpommern (SPD, PDS) gegen Bund (SPD, Bündnis 90/Die Grünen), – BVerfGE 116, 271: Mecklenburg-Vorpommern (SPD, PDS) und Brandenburg (CDU, SPD) gegen Bund (SPD, Bündnis 90/Die Grünen), – BVerfGE 129, 108: Schleswig-Holstein (CDU, FDP) gegen Bund (CDU/CSU, FDP). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 047/16 Seite 4 3. Verfahrensrechtliche Relevanz Fraglich ist, ob die besondere parteipolitische Konstellation für die Zulässigkeit oder Begründetheit des Bund-Länder-Streitverfahrens relevant ist. 3.1. Zulässigkeit des Bund-Länder-Streitverfahrens Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen im Bund-Länder-Streitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG i.V.m. § 13 Nr. 7, §§ 68 ff. BVerfGG gehören die Antragsberechtigung (§ 68 BVerfGG), die Antragsbefugnis (§§ 69, 64 Abs. 1 BVerfGG), das Rechtsschutzbedürfnis sowie die Wahrung der Frist- und Formvorschriften (§§ 69, 64 Abs. 3, 70 und 23 Abs. 1 BVerfGG). Antragsberechtigt in einem Bund-Länder-Streitverfahren sind die Bundesregierung und die Landesregierungen , § 68 BVerfGG. Auf die jeweils vorliegende parteipolitische Konstellation kommt es schon nach dem Wortlaut nicht an. Darüber hinaus handelt es sich beim Bund-Länder-Streit nicht um einen Streit zwischen Bundes- und Landesregierung(en), sondern um eine Verbandsstreitigkeit , in der die gegenseitigen verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder geltend gemacht werden. Die Parteien des Bund-Länder-Streits sind demnach der Bund und ein oder mehrere Länder,1 die „lediglich“ durch die Bundesregierung und Landesregierung (en) vertreten werden. Einen Anknüpfungspunkt für eine prozessrechtliche Relevanz der besonderen parteipolitischen Konstellation stellt auch die Antragsbefugnis (§§ 69, 64 Abs. 1 BVerfGG) nicht dar. Für die Antragsbefugnis hat der Antragsteller geltend zu machen, dass eine Maßnahme oder ein Unterlassen des Antragsgegners ihn in seinen verfassungsrechtlichen Rechten und Pflichten gegenüber dem Antragsgegner verletzt oder unmittelbar gefährdet.2 Maßgeblich für die Antragsbefugnis sind somit die im Verfassungsrechtsverhältnis zwischen Bund und Ländern bestehenden Rechte und Pflichten . Für die Frage einer möglichen Rechtsverletzung kommt es auf die Zurechnung der Maßnahme oder des Unterlassens zum Antragsgegner an. Die parteipolitischen Hintergründe sind insoweit irrelevant. Man könnte allerdings erwägen, dass die besondere parteipolitische Konstellation Auswirkungen auf das Rechtsschutzbedürfnis hat. Das Rechtsschutzbedürfnis ist im BVerfGG nicht eigens geregelt , aber als Zulässigkeitsvoraussetzung in Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anerkannt .3 Das Bundesverfassungsgericht fordert insoweit, dass die Rechtsverfolgung von einem anerkennenswerten Interesse getragen sein muss.4 Ein solches anerkennenswertes Interesse könnte in Frage gestellt sein, wenn dem Antragsteller aufgrund der besonderen parteipolitischen Situation alternative Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. In einem Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG zog das Bundesverfassungsgericht in Betracht, dass auch alternative parlamentarisch-politische 1 Vgl. BVerfG 129, 108, 115. 2 Vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG (1. Aufl., 2013), Rn. 4 f. zu § 68 und Rn. 3 ff. zu § 69. 3 Siehe nur Lenz/Hansel (Fn. 2), Rn. 23 zu § 17. 4 Vgl. BVerfGE 119, 309, 317. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 047/16 Seite 5 Handlungsmöglichkeiten das Rechtsschutzbedürfnis entfallen lassen könnten. Dazu führte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Atomwaffenstationierung aus: „Wäre die antragstellende Fraktion in der Lage gewesen, die nunmehr gerügte Verletzung der Rechte des Bundestages durch eigenes Handeln rechtzeitig zu vermeiden, so wäre es zumindest fragwürdig, ihr Rechtsschutzbedürfnis für ein Organstreitverfahren ungeachtet ihrer diesbezüglichen parlamentarischen Untätigkeit anzuerkennen. Auf diese Weise hätte es die betreffende Fraktion in der Hand, ohne triftigen Grund parlamentarisches Handeln durch verfassungsgerichtliche Schritte zu ersetzen. Die in einem solchen Vorgehen liegende Politisierung des Organstreitverfahrens liefe dem Grundgedanken von Verfassungsgerichtsbarkeit zuwider.“5 Im konkreten Fall wurde die Antragstellerin jedoch nicht auf eine vorrangige parlamentarische Handlungsmöglichkeit verwiesen, da diese nach den bestehenden Mehrheitsverhältnissen nicht erfolgversprechend gewesen sei und das Organstreitverfahren nicht verhütet hätte.6 Überträgt man diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die hier fragliche Konstellation im Bund-Länder-Streitverfahren, so dürfte kein Raum für ein Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses bestehen. Anknüpfend an die parteipolitische Identität oder Teilidentität bestehen von vornherein keine „erfolgversprechenden“ Handlungsmöglichkeiten zwischen Bund und Ländern, denn eine Regierung auf Länderebene kann auf die Bundesregierung nicht unmittelbar „durchgreifen “.7 Unabhängig davon ist zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht seine Anforderungen an alternative politische Handlungsmöglichkeiten in einem späteren Organstreitverfahren erheblich eingeschränkt hat. In seiner Entscheidung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr aus dem Jahr 1994 hob das Bundesverfassungsgericht hervor, dass das Prozessziel an einer verbindlichen Klärung von verfassungsrechtlichen Rechten nicht durch darüber hinaus bestehende politische Handlungsmöglichkeiten in Frage gestellt werde dürfe.8 Im Einzelnen führte das Bundesverfassungsgericht zum Rechtsschutzbedürfnis der antragstellenden FDP-Fraktion aus: „Der Einwand, die F.D.P.-Fraktion dürfe das Gericht nicht anrufen, solange sie nicht versucht habe, die nach ihrer Auffassung verfassungswidrige Regierungsmaßnahme durch einen Beschlussantrag im Deutschen Bundestag zu Fall zu bringen, greift nicht durch. Abgesehen davon, dass die F.D.P.-Fraktion hiermit nicht eine verbindliche Klärung der Rechte des Bundestages erreichen könnte, die der Organstreit ihr gemäß §§ 67, 31 BVerfGG eröffnet, würde die F.D.P.- 5 BVerfGE 68, 1, 77 (Hervorhebung nicht im Original). 6 BVerfGE 68, 1, 78. 7 Im Ergebnis so auch Di Fabio, Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem (Januar 2016), 112 (abrufbar unter: http://www.bayern.de/wp-content/uploads/2016/01/Gutachten_Bay_DiFabio_formatiert.pdf): „Angesichts der Freiheit des Mandats (Art. 38 Abs. 1 GG) darf nicht von einer Weisungsunterworfenheit gegenüber einem Parteivorsitzenden, der zugleich Bayerischer Ministerpräsident ist, ausgegangen werden. Nur wenn eine solche Weisungsabhängigkeit bestünde, würde eine Rechtsentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht unnötig sein, weil dann im politischen Raum wirksame Maßnahmen zur Verfügung stünden.“ 8 BVerfGE 90, 286, 339. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 047/16 Seite 6 Fraktion damit auf den Weg des politischen Konflikts mit der von ihr mitgetragenen Bundesregierung und mit dem Koalitionspartner innerhalb des Parlaments verwiesen. Vom Verfahrensrecht des Bundesverfassungsgerichts darf ein solcher mittelbarer Zwang zu einem bestimmten politischen Verhalten nicht ausgehen. Steht einem Antragsteller die prozessrechtliche Antragsbefugnis zu, so darf er ohne Rücksicht auf seine politischen Motive davon auch dann Gebrauch machen, wenn ihm daneben politische Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die angegriffene Maßnahme zu Fall zu bringen. Der Organstreit ist demgegenüber nicht subsidiär.“9 Auch seien die politischen Folgen zu berücksichtigen, die mit einem verfassungsprozessualen Vorrang alternativer politischer Handlungsmöglichkeiten verbunden wären: „Der politische Konflikt, der bis zur Aufkündigung der Koalition, die bisher die Regierung getragen hat, gehen kann, mag zwar die Durchführung der angegriffenen Maßnahme politisch verhindern, den dahinter stehenden Streit um die Rechte des Parlaments kann er jedoch nicht klären. Zugleich kann er politische Folgen haben, die weit über das im Organstreit erstrebte Rechtsschutzziel hinausgehen. Die Anwendung des Verfassungsprozessrechts darf bei gegebener Antragsbefugnis für einen Organstreit nicht dazu führen, dass dem Antragsteller die Freiheit, diese politische Frage frei von prozessualen Zwängen nach politischen Gesichtspunkten zu entscheiden, genommen wird.“10 Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass dem Antragsteller alternative politische Handlungsmöglichkeiten nicht durch verfassungsprozessuale Anforderungen an das Rechtsschutzbedürfnis aufgezwungen werden dürfen. Vielmehr soll der Antragsteller frei darüber entscheiden, ob er den politischen oder den rechtlichen Konflikt wählt. Danach kann sich eine parteipolitische Identität oder Teilidentität zwischen einer Landes- und der Bundesregierung nicht nachteilig auf das Rechtsschutzbedürfnis im Rahmen einer Bund-Länder-Streitverfahrens auswirken. 3.2. Begründetheit des Bund-Länder-Streitverfahrens Anhaltspunkte dafür, dass sich eine parteipolitische Identität oder Teilidentität zwischen einer Landes- und der Bundesregierung auf die Begründetheit eines Bund-Länder-Streitverfahrens auswirken könnte, sind nicht ersichtlich. Für die materiell-rechtliche Frage, ob der Bund verfassungsrechtliche Pflichten gegenüber den Ländern verletzt hat oder unmittelbar gefährdet, kommt es auf die streitgegenständlichen Maßnahmen oder das streitgegenständliche Unterlassen des Antragsgegners an, nicht aber auf die parteipolitischen Konstellationen in den jeweils verantwortlichen Regierungen. Ende der Bearbeitung 9 BVerfGE 90, 286, 339 (Hervorhebungen nicht im Original). 10 BVerfGE 90, 286, 240 (Hervorhebungen nicht im Original); zum abweichenden Sondervotum vgl. BVerfGE 90, 286, 392 ff.