Deutscher Bundestag Rückbau von Atomkraftwerken Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 047/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 047/12 Seite 2 Rückbau von Atomkraftwerken Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 047/12 Abschluss der Arbeit: 9. März 2012 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 047/12 Seite 3 1. Hintergrund und Fragestellung Nach § 7 Abs. 3 S. 1 Atomgesetz (AtG)1 bedarf der sichere Einschluss oder der Rückbau eines stillgelegten Kernkraftwerks der Genehmigung. Eine derartige Genehmigung ist nicht erforderlich , wenn der sichere Einschluss oder der Rückbau bereits Gegenstand einer Genehmigung nach § 7 Abs. 1 AtG (Betriebsgenehmigung) oder einer Anordnung nach § 19 Abs. 3 AtG war. Der Betreiber eines Kernkraftwerks hat daher nach bisheriger Rechtslage die Wahl, ob er einen Antrag auf Genehmigung des Rückbaus oder des sicheren Einschlusses stellt. Betreiber von Kernkraftwerken haben für den Rückbau bzw. Einschluss bilanzielle Rückstellungen gebildet. Vor diesem Hintergrund stellen sich folgende Fragen: Wäre es rechtlich zulässig, die Option des sicheren Einschlusses für die seit März 2011 stillgelegten Kernkraftwerke zu streichen? Wäre es rechtlich zulässig, die Option des sicheren Einschlusses für die noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke zu streichen? Dabei wird unterstellt, dass ein Rückbau auch technisch möglich ist und keine Gefahren für Mensch und Umwelt entstehen. Gibt es rechtliche Konsequenzen, wenn der Umfang der bisher gebildeten Rückstellungen nicht ausreicht, um einen Rückbau zu finanzieren? Ist insbesondere mit einem Regress gegenüber dem Bundeshaushalt zu rechnen? 2. Streichung der Option des sicheren Einschlusses Die Streichung der Möglichkeit des sicheren Einschlusses hätte zur Folge, dass Kernkraftwerksbetreiber nach der endgültigen Stilllegung nur noch den Rückbau beantragen könnten. 2.1. Betreiber, die noch keine Genehmigung für einen sicheren Einschluss haben Dies könnte die Betreiber, die einen sicheren Einschluss planen, aber noch keine Genehmigung hierfür erhalten haben, in ihren Grundrechten verletzen. In Betracht kommen insoweit die Berufsfreiheit und das Eigentumsgrundrecht. 1 Atomgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juli 1985 (BGBl. I S. 1565), das zuletzt durch Artikel 5 Absatz 6 des Gesetzes vom 24. Februar 2012 (BGBl. I S. 212) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 047/12 Seite 4 2.1.1. Berufsfreiheit Art. 12 Abs. 1GG schützt jede auf Dauer angelegte Tätigkeit zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage.2 Dabei gewährleistet die Berufsfreiheit sowohl die freie Berufswahl als auch die freie Berufsausübung.3 Da die Streichung der Möglichkeit des sicheren Einschlusses, die Wahl der Kernkraftwerksbetreiber hinsichtlich des Schicksals einer ihrer Betriebsanlagen einschränken würde, läge ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit vor. Das Grundrecht der Berufsfreiheit wird nicht schrankenlos gewährleistet. Es kann durch ein verfassungskonformes Gesetz eingeschränkt werden. Eine Streichung der Option des sicheren Einschlusses müsste daher dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, d.h. es müsste einen legitimen Zweck verfolgen sowie geeignet, erforderlich und angemessen sein.4 Diese Prüfung erfolgt bei der Berufsfreiheit nach der vom BVerfG im Apotheken-Urteil5 entwickelten Drei-Stufen-Theorie. Danach werden bloße Berufsausübungsregeln bereits durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt. Subjektive Berufswahlbeschränkungen sind zum Schutz überragender Gemeinschaftsgüter zulässig. Schwerwiegende Eingriffe in Form von objektiven Berufswahlbeschränkungen sind nur zulässig, wenn sie zur Abwehr nachweisbarer oder höchst wahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zwingend geboten sind.6 Ein Streichung der Option des sicheren Einschlusses stellt eine Berufsausübungsregelung dar, die zu ihrer Rechtfertigung nur vernünftiger Erwägungen des Gemeinewohls bedarf. Als solche kommen Belange des Schutzes von Mensch und Umwelt in Betracht, etwa der Schutz vor radioaktiver Strahlung, die möglicherweise in der ferneren Zukunft aus einer nach heutigem Stand der Technik sicher eingeschlossenen kerntechnischen Anlage entweichen könnte. Die Streichung der Option des sicheren Einschlusses wäre geeignet, derartige potenzielle Risiken auszuschließen und damit Mensch und Umwelt zu schützen. Es dürfte darüber hinaus kein gleich geeignetes milderes Mittel zum Schutz vor etwaigen Risiken , die von sicher eingeschlossenen Kernkraftwerken ausgehen könnten, geben. Als mildere Mittel kommen insbesondere Auflagen für die technische Durchführung eines sicheren Einschlusses in Betracht. Es ist allerdings fraglich, ob dieses Mittel gleich geeignet wäre, potenziellen Risiken zu begegnen. Hierfür kommt es letztlich auf die Einschätzung des Gesetzgebers an, ob er die technischen Möglichkeiten für einen sicheren Einschluss als ausreichenden Schutz vor möglichen Risiken erachtet. 2 Scholz in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: 63. Ergänzungslieferung 2011, Art. 12 Rn. 29. 3 Scholz (Fn. 2), Art. 12 Rn. 266. 4 Vgl. Grzeszick in Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 20 Rn. 110. 5 BVerfGE 7, 377 ff. 6 BVerfGE 7, 377 ff.; Scholz (Fn. 2), Art. 12 Rn. 335. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 047/12 Seite 5 Dem Gesetzgeber steht dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Beurteilungs - und Prognosespielraum zu.7 Sollte der Gesetzgeber die Streichung der Option des sicheren Einschlusses für erforderlich halten, dürfte die Streichung auch angemessen sein, da sie den Schutz wichtiger Rechtsgüter bezwecken würde. Sowohl die menschliche Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) als auch der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20 a GG) genießen Verfassungsrang. Der Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG wäre demnach verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Auch aus dem Gesichtspunkt eines möglichen Vertrauensschutzes folgt keine andere Wertung hinsichtlich der Angemessenheit, da es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Schutz des Vertrauens in den Fortbestand des geltenden Rechts gibt. Der Gesetzgeber kann Sachverhalte für die Zukunft anders regeln, auch wenn Bürger bereits Dispositionen im Vertrauen auf die Rechtslage getätigt haben.8 Dementsprechend dürften sich Betreiber von Kernkraftwerken, die noch keine Genehmigung für einen sicheren Einschluss ihrer Anlage beantragt haben, nicht auf ein Vertrauen in den Fortbestand der bisherigen Rechtslage berufen können. 2.1.2. Eigentumsgrundrecht Eine Streichung der Option des sicheren Einschlusses könnte gegen das Eigentumsgrundrecht der Betreiber verstoßen, da hierdurch die Nutzungsmöglichkeiten ihres Grundstücks eingeschränkt werden. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG schützt die rechtliche Zuordnung eines vermögenswerten Gutes zu einem Rechtsträger. Das durch Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistete Eigentum ist in seinem rechtlichen Gehalt durch Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers über den Eigentumsgegenstand gekennzeichnet.9 Allerdings besteht bei der Eigentumsgarantie die Besonderheit, dass die Ausgestaltung des Eigentums durch den Gesetzgeber erfolgt.10 Er bestimmt Inhalt und Schranken des Eigentums, Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG. Die Streichung der Option des sicheren Einschlusses wäre als eine Inhalts- und Schrankenbestimmung zu qualifizieren. Diese müsste sich wiederum am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen. Insoweit kann auf die Ausführungen zur Berufsfreiheit verwiesen werden. 2.2. Betreiber, denen bereits der sichere Einschluss genehmigt wurde Anders stellt sich Rechtslage für Betreiber dar, denen bereits der sichere Einschluss ihrer Anlage genehmigt wurde. Diese wären nicht von einer Streichung der Option des sicheren Ein- 7 Vgl. zum Gentechnikgesetz, BVerfG NVwZ 2011, 94, 105. 8 BVerfGE 38, 61 (83); Schulze-Fielitz, Helmuth in: Dreier, Horst, Grundgesetz, 2. Auflage, 2006, Art. 20 Rn. 151 m.w.N. 9 BVerfGE 102, 1, 15. 10 Depenheuer in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Band 1, 6. Auflage 2011, Art. 14 Rn. 56 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 047/12 Seite 6 schlusses im AtG betroffen. Um auch diese Betreiber zu einem Rückbau zu verpflichten, käme wohl nur eine Rücknahme bzw. ein Widerruf der bereits erteilten Genehmigung in Betracht. Insoweit ist jedoch zu beachten, dass diese Maßnahmen nur unter sehr strengen Voraussetzungen möglich sind, z.B. nach § 17 Abs. 5 AtG. Außerdem wäre eine derartige Maßnahme nach § 18 Abs. 1 AtG grundsätzlich mit einer Entschädigungspflicht gegenüber dem Betreiber verbunden . 2.3. Konkret betroffene Anlagen Es gibt – soweit ersichtlich – keine Liste, aus der sich ergibt, für welche Kernkraftwerke ein sicherer Einschluss bzw. eine Rückbau genehmigt bzw. beantragt wurde. Allerdings enthält die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hinweise darauf, welche Genehmigungsverfahren in den letzten Jahren durchgeführt wurden.11 Danach hat das BMU in den letzten zehn Jahren u.a. zu folgenden Stilllegungsverfahren von Kernkraftwerken Stellung genommen: Kernkraftwerk Greifswald, Kernkraftwerk Obrigheim, Kernkraftwerk Stade, Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich. 3. Rückstellungen Die Betreiber von Kernkraftwerken sind nach den allgemeinen Bilanzvorschriften verpflichtet, Rückstellungen für in der Zukunft liegende ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden. Hierzu zählen auch die Kosten für die zukünftige Stilllegung einer Anlage.12 Fraglich ist jedoch, was passieren würde, falls die gebildeten Rückstellungen nicht ausreichen, um einen Rückbau zu finanzieren. Hier dürften zwei Fallkonstellationen zu unterscheiden sein: zum einen der Fall, dass ein Betreiber zwar eine Genehmigung für den Rückbau erhält, diesen aber wegen fehlender finanzieller Mittel nicht durchführt und zum anderen der Fall, dass während des Rückbaus die finanziellen Mittel ausgehen. Zur ersten Fallkonstellation ist anzumerken, dass es nach geltendem Atomrecht wohl keine Pflicht gibt, ein Kernkraftwerk zurückzubauen. § 7 Abs. 3 AtG regelt zwar, dass für einen Rückbau bzw. sicheren Einschluss eine Genehmigung erforderlich ist. Eine Pflicht zum Rückbau bzw. sicheren Einschluss lässt sich daraus aber wohl nicht folgern.13 Ein Betreiber, der feststellt, dass 11 BT-Drs. 17/7777, S. 5 f. 12 Vgl. Informationen des BMU: http://www.bmu.de/atomenergie_ver_und_entsorgung/endlagerung_/allgemeines/doc/2738.php; sowie des Deutschen Atomforums: http://www.kernenergie.de/kernenergie/Themen/Finanzierung-KE/Rueckstellungen/. 13 Vgl. Jasper, Die Finanzierung der Stilllegung von Kernkraftwerken aus der Perspektive des deutschen und europäischen Wirtschaftsrechts, 2007; abrufbar unter: http://schwintowski.rewi.hu-berlin.de/_pdf/jasper.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 047/12 Seite 7 seine finanziellen Mittel (derzeit) nicht ausreichen, um einen Rückbau zu finanzieren, könnte daher theoretisch darauf verzichten, von der ihm erteilten Genehmigung Gebrauch zu machen. Das Kernkraftwerk bliebe in diesem Falle (vorerst) stehen. Allerdings träfe den Betreiber die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass von der Anlage keine schädlichen Umwelteinwirkungen (insbesondere ionisierende Strahlung) ausgehen. Der Aufsichtsbehörde stünde nach § 19 Abs. 3 AtG die Befugnis zu, Schutzmaßnahmen o.ä. anzuordnen. Sollte sich während des Rückbaus herausstellen, dass die gebildeten Rückstellungen nicht ausreichen , um den Rückbau zu finanzieren, wäre zu prüfen, ob der Rückbau einfach abgebrochen werden und die Anlage in diesem Zustand verbleiben kann oder ob weitere bauliche Maßnahmen erforderlich sind, um die Anlage in einen sicheren Zustand zu versetzen. Auch hier könnte die Aufsichtsbehörde von der Anordnungsbefugnis des § 19 Abs. 3 AtG Gebrauch machen. Sollte der Betreiber auch für etwaige angeordnete Schutzmaßnahmen nicht aufkommen können, könnte die Behörde selbst die erforderlichen Maßnahmen durchführen lassen (sog. Ersatzvornahme ) und die Kosten gegenüber dem Betreiber vollstrecken. Sollte dieser jedoch endgültig zahlungsunfähig sein, müsste die Aufsichtsbehörde die Kosten tragen. Das Atomgesetz wird von den Ländern im Auftrag des Bundes ausgeführt, § 24 Abs. 1 AtG. Daher trägt nach Art. 104a Abs. 2 GG der Bund die Ausgaben der Länder, die sich aus der Auftragsverwaltung ergeben. Dies erfasst nur die Zweckausgaben nicht die Verwaltungsausgaben, Art. 104a Abs. 5 GG. Bei den Kosten einer Ersatzvornahme handelt es sich jedoch um Zweckausgaben, die im Rahmen des Gesetzesvollzugs anfallen. Der Bund müsste diese Kosten übernehmen.