© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 043/15 Reichweite der Wesentlichkeitslehre Grenzfälle der Wesentlichkeit Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 2 Reichweite der Wesentlichkeitslehre Grenzfälle der Wesentlichkeit Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 043/15 Abschluss der Arbeit: 23. Februar 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Abgrenzung der Wesentlichkeitslehre zu „verwandten“ Rechtsinstituten 4 2.1. Vorbehalt des Gesetzes 4 2.2. Wesentlichkeitslehre 5 2.3. Parlamentsvorbehalt 5 2.4. Bestimmtheitsgrundsatz 6 3. Kriterien zur Bestimmung der Wesentlichkeit 6 3.1. Für eine Wesentlichkeit sprechende Kriterien 7 3.2. Gegen eine Wesentlichkeit sprechende Kriterien 8 4. Grenzfälle und Leitentscheidungen zur „Wesentlichkeit“ einer Materie 9 4.1. Grenzfälle aus dem Schulrecht 9 4.1.1. Nichtversetzung eines Schülers 10 4.1.2. Weitere Beispiele aus dem Schulrecht 10 4.2. Rechtschreibreform 11 4.3. „Kalkar-Beschluss“ 11 5. Fazit 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 4 1. Fragestellung In dieser Ausarbeitung wird der Frage nachgegangen, welche Sachgebiete und Angelegenheiten von der Wesentlichkeitslehre erfasst werden, was der Gesetzgeber innerhalb des Geltungsbereichs der Wesentlichkeitslehre selbst regeln muss oder an die Exekutive delegieren darf und wie dicht bzw. präzise die gesetzlichen Regelungen sein müssen. 2. Abgrenzung der Wesentlichkeitslehre zu „verwandten“ Rechtsinstituten Die Wesentlichkeitslehre weist eine enge Verbindung zu den Instituten des Vorbehalts des Gesetzes, des Parlamentsvorbehalts sowie des Bestimmtheitsgebots auf. Insofern stellt sich zunächst die Frage nach einer inhaltlichen Abgrenzung. 2.1. Vorbehalt des Gesetzes Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes gehört als Teil des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu den tragenden Prinzipien der rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung.1 Im Grundgesetz wird das Vorbehaltsprinzip jedoch als solches nicht ausdrücklich benannt. Teilweise wird dieses dennoch unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 GG2 hergeleitet oder als Verfassungsgewohnheitsrecht 3 bezeichnet. Jedenfalls ist das Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes allgemein anerkannt und dürfte aus den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie, dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten selbst folgen.4 Inhaltlich ist der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes durch das Demokratieprinzip bedingt: Das Parlament ist das einzige unmittelbar gewählte Staatsorgan . Als solches muss es die Grundlage legitimierten Verwaltungshandelns gewährleisten und kann sich nicht seiner Aufgabe entziehen, grundlegende Entscheidungen für das Gemeinwesen zu treffen.5 Ausdruck dieses Gedankens ist etwa Art. 80 Abs. 1 GG. Aus diesem Grund besagt der Vorbehalt des Gesetzes, dass die Verwaltung generell nur auf Grund einer gesetzlichen parlamentarischen Ermächtigung handeln darf.6 Somit liegt die Grundentscheidung, ob die Verwaltung handeln darf oder nicht, beim parlamentarischen Gesetzgeber. Praktisch am bedeutsamsten wird der Vorbehalt des Gesetzes in den Grundrechten, welche teilweise spezielle Ausprägungen des 1 Voßkuhle, Grundwissen – Öffentliches Recht: Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, JuS 2001, 118. 2 BVerfGE 40, 237 (248), 49, 89 (394); Leibholz/Rinck, Grundgesetz - Rechtsprechung des BVerfG – Kommentar, Ergänzungslieferung 63, Stand August 2013, Art. 20 Rn. 1026; Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 75; Schulze-Fielitz, in Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 105. 3 Dazu Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band I, 2. Auflage 1984, § 20 IV 4 b. 4 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 4; Hölscheidt, Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, JA 2001, 409 (410); Voßkuhle, Grundwissen – Öffentliches Recht: Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, JuS 2001, 118;. 5 Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 23. Edition 2014, Art. 20 Rn. 173. 6 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 75. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 5 Vorbehaltsprinzips darstellen.7 Damit der Vorbehalt des Gesetzes aber auch die Anforderungen des Demokratieprinzips erfüllen und seine Wirkung entfalten kann, muss der parlamentarische Gesetzgeber neben der Frage des „Ob“ einer gesetzlichen Regelung auch der Frage der erforderlichen Regelungsdichte, also dem „Wie“, nachgehen.8 Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes besagt also zudem, dass der parlamentarische Gesetzgeber bestimmte Aspekte in dem Gesetz selbst regeln muss und diese Aufgabe nicht gemäß Art. 80 Abs. 1 GG delegieren darf. 2.2. Wesentlichkeitslehre Mit der Wesentlichkeitslehre werden zwei Ausprägungen des Vorbehalts des Gesetzes näher konkretisiert . Zum einen bestimmt sich hiernach, welche Sachbereiche vom Gesetzesvorbehalt erfasst werden.9 Zum anderen richtet sich nach der Wesentlichkeitslehre, welche Angelegenheiten der parlamentarische Gesetzgeber selbst regeln muss und was er an die Exekutive delegieren darf. Insofern wird die Lehre als erweiterter Gesetzesvorbehalt beschrieben.10 Anhand dieser Theorie versucht das Bundesverfassungsgericht also einerseits die Erforderlichkeit eines Gesetzes und andererseits die erforderliche Regelungsdichte eines Gesetzes zu bestimmen. 11 Die Anforderungen steigen jeweils gleichermaßen mit der Wesentlichkeit einer zu regelnden Materie.12 Im Ergebnis folgen daraus ein Delegationsverbot bezüglich wesentlicher Entscheidungen und eine Pflicht des parlamentarischen Gesetzgebers, solche Entscheidungen selbst zu treffen. Die Wesentlichkeitslehre dient daher auch der negativen Kompetenzabgrenzung13 zwischen den Rechtsetzungsinstanzen des parlamentarischen Gesetzgebers sowie der Exekutive bzw. Gubernative. Während noch Einigkeit darin besteht, dass Eingriffe in Grundrechte gemäß dem Vorbehalt des Gesetzes einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, ist die Reichweite der Wesentlichkeitslehre, also was als wesentlich anzusehen ist, im Einzelnen ein noch ungelöstes Rechtsproblem. 2.3. Parlamentsvorbehalt Das Instrument des Parlamentsvorbehalts wird schon im Ansatz unterschiedlich ausgelegt. Einige legen dem Parlamentsvorbehalt das Verständnis zugrunde, dass die Entscheidung über die betroffene Materie zwar allein dem parlamentarischen Gesetzgeber obliege. Dies setze aber nicht voraus , dass sich der Gesetzgeber den strengen Formen des Gesetzgebungsverfahrens bedienen 7 Schulze-Fielitz, in Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 106. 8 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 75. 9 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 12. 10 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 3. 11 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 106. 12 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 106. 13 Voßkuhle, Grundwissen – Öffentliches Recht: Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, JuS 2001, 118 (119). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 6 müsse. Die Entscheidung müsse somit nicht durch Gesetz, sondern könne in bestimmten Konstellationen auch durch einen Parlamentsbeschlusses erfolgen. 14 Unter anderem das Bundesverfassungsgericht versteht den Parlamentsvorbehalt hingegen als ein Gesetzesvorbehalt mit Delegationsverbot.15 Danach muss der Gesetzgeber die zu behandelnde Materie selbst – und zwar durch Gesetz – regeln. Dieses zugrunde gelegte Verständnis befasst sich also auch mit der Reichweite der inhaltlichen Regelungsdichte eines Gesetzes, also damit, welche Entscheidung der parlamentarische Gesetzgeber selbst treffen muss oder der Exekutive durch administrative Normsetzung überlassen darf.16 Hieraus wird die Überschneidung mit der Wesentlichkeitslehre offenbar. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zur Wesentlichkeitslehre unter dem Begriff des Parlamentsvorbehalts die Grenzen gesetzgeberischer Delegation diskutiert.17 2.4. Bestimmtheitsgrundsatz Der Vorbehalt des Gesetzes – und damit auch die Wesentlichkeitslehre als Ausprägung desselben – verlangt zusätzlich, dass ein Gesetz hinreichend bestimmt ist. Schließlich darf ein Parlamentsgesetz nicht derart vage gefasst sein, dass die sachliche Entscheidung letztlich doch der Exekutive obliegt.18 Somit ist auch das spezielle Bestimmtheitsgebot aus Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG eine Ausprägung19 des Gesetzesvorbehalts, sodass von einem wechselseitigen Ergänzungs- und Konkretisierungsverhältnis20 des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zu der Wesentlichkeitslehre auszugehen ist.21 Dies führt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu, dass das Bestimmtheitsgebot sowie die Wesentlichkeitslehre jeweils im gegenseitigen Licht ausgelegt werden müssen.22 3. Kriterien zur Bestimmung der Wesentlichkeit Ausgangspunkt der Bestimmung darüber, welche Entscheidungen als wesentlich anzusehen sind, ist die Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1978. In dieser Sache hatte 14 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 76. 15 BVerfGE 106, 1 (22 f.); Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 76; Schulze-Fielitz, in Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 119. 16 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 76; Schulze- Fielitz, in Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 119. 17 Busch, Das Verhältnis des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zum Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt, 1992, S. 55. 18 Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 23. Edition 2014, Art. 20 Rn. 173. 19 BVerfGE 49, 89 (162). 20 Voßkuhle, Grundwissen – Öffentliches Recht: Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, JuS 2001, 119. 21 Voßkuhle, Grundwissen – Öffentliches Recht: Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, JuS 2001, 119. 22 Für die Auslegung der Wesentlichkeitslehre im Lichte des Bestimmtheitsgebots siehe BVerfGE 91. 148 (162 ff.); für die Auslegung des Bestimmtheitsgrundsatzes im Lichte der Wesentlichkeitslehre siehe BVerfGE 58, 257 (277 f.); vgl. auch: Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 23. Edition 2014, Art. 20 Rn. 179; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 7 das Gericht über die Wesentlichkeit der Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu befinden. Seitdem fordert das Gericht den parlamentarischen Gesetzgeber in ständiger Rechtsprechung dazu auf, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese rechtlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“.23 Der Frage, welche Angelegenheiten als wesentlich anzusehen sind, begegnet das Bundesverfassungsgericht mittels Anwendung verschiedener, offen und kumulativ gehaltener Kriterien.24 Die Wesentlichkeit einer Angelegenheit wird daher weniger statisch als vielmehr flexibel verstanden und unter Zuhilfenahme zusätzlicher Kriterien aus allgemeinen verfassungsrechtlichen Regelungen, insbesondere der Grundrechte und dem Demokratiegebot, bestimmt.25 Dabei müssen die Gründe für eine Zuordnung zum parlamentarischen Gesetzgeber mit den Gründen für die Zuordnung zu den anderen Staatsgewalten in eine Abwägung eingestellt werden.26 Die Kriterien zur Bestimmung der Wesentlichkeit sind folglich weder eindeutig noch abschließend.27 3.1. Für eine Wesentlichkeit sprechende Kriterien Das Bundesverfassungsgericht nimmt hierzu insofern Stellung, als dass „mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes , insbesondere die Intensität der Grundrechtseingriffe“28 zu beurteilen sei, wie weit gesetzliche Vorgaben im Einzelfall gehen müssen. Das Gericht stellt bei der Abwägung also besonders auch auf das Kriterium der Grundrechtsrelevanz einer Maßnahme oder Regelung in Abhängigkeit der Intensität des staatlichen Eingriffs in die Freiheit des Einzelnen ab.29 In seiner Rechtsprechung ist die Anwendung der Wesentlichkeitslehre bisher auf Sachverhalte 23 BVerfGE 49, 89 (162); zuletzt 61, 260 (275); zitiert in: Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 107; Schulze-Fielitz, in Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 119. 24 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 107. 25 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 14; Hölscheidt, Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, JA 2001, 409 (412). 26 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 109. 27 Schulze-Fielitz, in Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 113. 28 BVerfGE 111, 191 (217) (Hervorhebung nur hier). 29 BVerfGE 47, 46 (83); 49, 89 (126 f.); besonders hervorgehoben auch bei: Schulze-Fielitz, in Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 113; Hölscheidt, Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, JA 2001, 409 (412); Busch, Das Verhältnis des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zum Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt, 1992, S. 47. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 8 mit einem solchen Grundrechtsbezug begrenzt, auch wenn sich das Gericht eine darüber hinausgehende Erweiterung offenhält.30 Neben diesen Kriterien werden für die Wesentlichkeit einer Angelegenheit unter anderem herangezogen : der Umfang des Adressatenkreises, die Langzeitwirkung einer Regelung, gravierende finanzielle Auswirkungen, erhebliche Auswirkungen auf das Staatsgefüge, Konkretisierung offenen Verfassungsrechts, die Auswirkungen auf das Gemeinwesen sowie die Unmittelbarkeit und Finalität einer gesetzlichen Regelung. Ob und in welcher Intensität politischer Streit über die zu regelnde Angelegenheit besteht, hält das Bundesverfassungsgericht hingegen nicht für maßgebend.31 3.2. Gegen eine Wesentlichkeit sprechende Kriterien Es ist aber auch zu berücksichtigen, dass es durchaus im Sinne eines dynamischen Grundrechtsschutzes sein kann, wenn der Gesetzgeber gerade bei Sachverhalten, welche sich rasch ändern, von einer detaillierten gesetzlichen Regelung absieht und die Entscheidung einem Verfahren zuführt, dass eine zügigere Reaktion auf geänderte Bedingungen zulässt.32 Dies gilt besonders, wenn zur Regelung der Materie auf außerrechtliche Kriterien zurückgegriffen werden muss und das Parlament angesichts komplexer und komplizierter Sachzusammenhänge mit einer abschließenden Festlegung überfordert wäre.33 Schließlich dürfen auch die begrenzte Belastbarkeit des Parlaments sowie die Grenzen seines Sachverstands nicht unberücksichtigt bleiben.34 Wie bereits dargelegt, orientiert sich das Bundesverfassungsgericht zur Konkretisierung des „Wesentlichen“ zusätzlich an den Merkmalen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG.35 Nach den darin benannten Kriterien Inhalt, Zweck und Ausmaß müssen grundrechtsbeschränkende Gesetze hinreichend konkrete Maßgaben für das Verwaltungshandeln aufstellen, um den Bürgern Klarheit über mögliche 30 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 13. 31 BVerfGE 98, 218, 251 f.; ebenso Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 14; a.A.: Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 107; Hölscheidt, Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, JA 2001, 409 (412); Voßkuhle, Grundwissen – Öffentliches Recht: Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, JuS 2001, 119. 32 BVerfGE 49, 89 (133 ff.); Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 23. Edition 2014, Art. 20 Rn. 180. 33 BVerfGE 79, 106 (120); 58, 257 (275 f.); Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK GG, 23. Edition 2014, Art. 20 Rn. 180. 34 BVerfGE 58, 257 (270 f.); Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 72. Ergänzungslieferung 2014, Art. 20 Rn. 107; ausführlicher zu den Kapazitätsgrenzen des Parlaments: Kube, Vom Gesetzesvorbehalt des Parlaments zum formellen Gesetz der Verwaltung?, NVwZ 2003, 57. 35 Dazu 2.4.; BVerfGE 91, 148 (162 ff.); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 9 belastende Maßnahmen zu verschaffen und eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle anhand eindeutiger Maßstäbe zu ermöglichen.36 Dies schließt allerdings keinesfalls die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe aus.37 Schließlich sind solche gerichtlich voll überprüfbar.38 So kann der parlamentarische Gesetzgeber auch in Verordnungsermächtigungen unbestimmte Rechtsbegriffe vorsehen, solange sich die geforderte Bestimmtheit durch Auslegung nach allgemeingültigen Methoden ermitteln lässt und die Exekutive dadurch in die Lage versetzt wird, die Konkretisierung vorzunehmen. Als anerkannte Fallgruppe gelten hier etwa Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen sowie Entscheidungen wertender Art durch weisungsfreie, mit Sachverständigen und/oder Interessenvertretern besetzte Ausschüsse.39 4. Grenzfälle und Leitentscheidungen zur „Wesentlichkeit“ einer Materie 4.1. Grenzfälle aus dem Schulrecht Nachdem das Bundesverfassungsgericht in seiner Strafgefangenenentscheidung40 die Lehre vom „besonderen Gewaltverhältnis“ abgelöst hat, setzte sich die Auffassung durch, dass der Gesetzgeber auch im Bereich des Schulrechts die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen habe.41 Damit wurde die Anfang der 1970er Jahre weit verbreitete Praxis, Reformen dem Verordnungsgeber zu überlassen, überwunden.42 Entsprechend findet sich gerade im Schulrecht eine Vielzahl von Entscheidungen, welche das Problem der Wesentlichkeitslehre aufgreifen. Hier wirkt sich insbesondere die Grundrechtsrelevanz aus. Insbesondere wirken der staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG), das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) sowie die Grundrechte der Schüler aus Art. 2 Abs. 1 GG oder Art. 12 Abs. 1 GG in erheblichem Maße ein.43 36 BVerfGE 113, 348 (375 ff.); zuletzt BVerfG, Beschluss vom 17. September 2013, 2 BvR 2436/10, 2 BvE 6/08, Rn. 126; Leibholz/Rinck, Grundgesetz - Rechtsprechung des BVerfG – Kommentar, Ergänzungslieferung 63, Stand August 2013, Art. 20 Rn. 1037. 37 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 18. 38 BVerfGE 84, 34 (50); BVerwGE 94, 307 (309); 100, 221 (225). 39 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 7 Rn. 40 f. 40 BVerfGE 33, 1. 41 BVerfGE 45, 400 (417 f.); 53, 185 (204); 58, 257 (268); 98, 218 (252); 108, 282 (312); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht , 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 26. 42 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 26. 43 BVerfGE 47, 46 (80); Hess VGH NJW 1976, 1856 (1858); Schulze-Fielitz, in Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 117; Hölscheidt, Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, JA 2001, 409 (412). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 10 4.1.1. Nichtversetzung eines Schülers Besonders anschaulich werden die Grenzen zwischen der Erforderlichkeit eines Gesetzes und einer ausreichenden Rechtsverordnung in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Nichtversetzung eines Schülers aufgezeigt.44 Als maßgebliches Abgrenzungskriterium wird hier wiederum die Intensität des Eingriffs herangezogen. In dem zu entscheidenden Fall führte das Gericht aus, dass ein zwangsweiser Ausschluss aus einer Schule, insbesondere wenn er mit dem Ausschluss vom Besuch einer ganzen Schulform verbunden ist, einen sehr einschneidenden Eingriff darstelle. Eine Ermächtigungsnorm, welche lediglich die zu regelnde Materie (Entlassung und Beendigung des Schulverhältnisses) nenne und alle weiteren Voraussetzungen dem Verordnungsgeber überlasse , genüge daher nach Ansicht des Gerichts nicht den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre.45 Handle es sich jedoch lediglich um die Nichtversetzung eines Schülers, sei die Maßnahme erheblich weniger einschneidend. Das Bundesverfassungsgericht stellte im Übrigen darauf ab, dass der Gesetzgeber schlicht damit überfordert wäre, müsste er die Voraussetzungen für die Nichtversetzung selbst regeln (Kapazitätsgrenzen). Insbesondere könne dies auch aufgrund der Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit der Materie nicht gefordert werden.46 4.1.2. Weitere Beispiele aus dem Schulrecht Es finden sich auch weitere höchstrichterliche Entscheidungen, aus denen sich ergibt, welche Regelungskomplexe des Schulrechts durch Rechtsverordnungen geregelt werden dürfen oder gesetzlich normiert werden müssen. So hat der hessische Verfassungsgerichtshof entschieden, dass die Organisation der Schule für den Einfluss auf die Berufsmöglichkeiten so maßgebend sei, dass eine Rechtsverordnung nicht ausreiche.47 Insofern wurde die durch Verordnung geregelte Reform der gymnasialen Oberstufe von 1972 als rechtswidrig erklärt. Auch das Bundesverfassungsgericht erachtete die Regelungsgegenstände der Reform zur gymnasialen Oberstufe als wesentlich .48 Als „wesentlich“ wurden weiter eingestuft: Die Festlegung des Sexualkundeunterrichts 49, die Festlegung der Pflichtfremdsprache50 sowie die politische Werbung in der Schule51. 44 BVerfGE 58, 257. 45 BVerfGE 58, 257 (275). 46 BVerfGE 58, 257 (276). 47 Hess VGH NJW 1976, 1856. 48 BVerfGE 45, 400 (417 ff.). 49 BVerfGE 40, 46 (80 ff.). 50 BVerfGE 64, 308 (312 ff.). 51 BayVerfGH DÖV 1982, 691. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 11 4.2. Rechtschreibreform Das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahre 1998 darüber zu entscheiden, inwieweit die Rechtschreibreform einer detaillierten Regelung des parlamentarischen Gesetzgebers bedurft hätte.52 Die Rechtschreibreform wurde von dem Gericht auf die §§ 4, 11 SchulG Schleswig-Holschein, welche die allgemeinen Bildungs- und Erziehungsziele der Schule regeln, gestützt. In der Sache ging es also nicht um die Frage, ob es eines Gesetzes bedürfte, sondern vielmehr darum, ob die Regelungsdichte dieser Normen den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre genügt, oder eine gerade die Rechtschreibreform tragende Regelung erfordert.53 Das Bundesverfassungsgericht erachtete dabei die Unterrichtung der SchülerInnen nach der neuen Rechtschreibung nicht als von wesentlicher Bedeutung.54 Als Maßgebliches Kriterium zog das Bundesverfassungsgerichts auch hier die Intensität des Eingriffs in die Grundrechte der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und der Schüler aus 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 12 Abs. 1 GG heran.55 4.3. „Kalkar-Beschluss“ Dieser Beschluss56 stellt eine Leitentscheidung zur Reichweite des Parlamentsvorbehalts bzw. der Wesentlichkeitslehre dar. Dem Bundesverfassungsgericht lag folgender Sachverhalt57 vor: Die zuständigen Ministerien erteilten im Jahre 1972 die erste Teilgenehmigung zur Errichtung eines Kernkraftwerks neuen Typs. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf lehnte die Klage eines benachbarten Landwirts der geplanten Anlage als unbegründet ab, sodass das Oberverwaltungsgericht Münster in der Berufung über die Sache zu entscheiden hatte. Dieses erhob Bedenken, ob § 7 Abs. 1 und 2 AtomG verfassungsgemäß sind, soweit sie die Genehmigung von Kernkraftwerken des neuen Typs ermöglichen. Darum legte das Gericht diese Frage dem Bundesverfassungsgericht vor. Dabei vertrat der Senat des Oberverwaltungsgerichts die Auffassung, § 7 Abs. 1 und 2 AtomG seien zu unbestimmt, weil eine Aufzählung der möglichen Kraftwerkstypen fehle. Die Entscheidung über die Errichtung entsprechender Kernkraftwerke ziehe so einschneidende Folgen nach sich, dass sie vom Gesetzgeber getroffen werden müsse. Damit stellte sich dem Bundeverfassungsgericht die Grundsatzfrage, wie detailliert und umfassend das Parlament umweltgefährdende Technik selbst regulieren muss. Dieser Frage ging das Gericht nach, indem es die Wesentlichkeitslehre sowie den Bestimmtheitsgrundsatz heranzog.58 52 BVerfGE 98, 218. 53 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 26. 54 BVerfGE 98, 218 (252 ff.). 55 BVerfGE 98, 218 (252 ff.). 56 BVerfGE 49, 89. 57 Sachverhalt entnommen aus: Beaucamp, Der „Kalkar-Beschluss“ – Leitentscheidung des BVerfG zur Reichweite des Parlamentsvorbehalts und zum Grundrechtsschutz vor Gefahren durch kerntechnische Anlagen, JA 2002, 854 ff. 58 Beaucamp, Der „Kalkar-Beschluss“ – Leitentscheidung des BVerfG zur Reichweite des Parlamentsvorbehalts und zum Grundrechtsschutz vor Gefahren durch kerntechnische Anlagen, JA 2002, 854 (855 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 043/15 Seite 12 Zwar erachtete Bundesverfassungsgericht die Zulassung kernenergetischer Anlagen angesichts der Intensität des grundrechtlichen Eingriffs in Abhängigkeit zu der Relevanz des Regelungskomplexes für Grundrechte als wesentlich. Die Zulassung einzelner genehmigungsfähiger Reaktortypen hielt das Gericht jedoch nicht für wesentlich, sodass auch keine Aufzählung dieser Typen durch Gesetz erforderlich sei. Hinsichtlich des Bestimmtheitsgrundsatzes erachtete das Gericht die Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs „nach dem Stand von Wissenschaft und Technik“ für unbedenklich. Schließlich richten sich die Anforderungen an die Bestimmtheit unter anderem nach der Komplexität des Regelungsgegenstandes sowie ihrer raschen Entwicklungsgeschwindigkeit.59 Insofern stellte das Gericht fest, dass eine exakte Festschreibung des Sicherheitsstandards schwierig sei und sich bezüglich der Anpassung an die aktuellen Sicherheitserfordernisse auch hemmend auswirken könne. Dass der Exekutive die Risikoermittlung überlassen werde, hielt das Bundesverfassungsgericht ebenso für verfassungsgemäß. Als tragendes Argument – auch in der fortgesetzten Rechtsprechung60 – ist also, dass die Verwaltung zur Bewältigung zukunftsgewandter und auf ständige Aktualisierung angelegte Aufgaben besser in der Lage sei als der parlamentarische Gesetzgeber.61 5. Fazit In welchen Bereichen staatliches Handeln einer parlamentarischen Rechtsgrundlage bedarf und wie weit die erforderliche Regelungsdichte geht, lässt sich nur mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich ermitteln.62 Insofern hat das Bundesverfassungsgericht die Wesentlichkeitslehre bereichsspezifisch ausgeprägt. Eindeutige Abgrenzungskriterien zu der Frage, inwieweit der parlamentarische Gesetzgeber die inhaltlichen Anforderungen eines Gesetz selbst regeln muss und diese Entscheidung nicht durch administrative Normsetzung der Exekutive überlassen darf, existieren allerdings nicht.63 59 Beaucamp, Der „Kalkar-Beschluss“ – Leitentscheidung des BVerfG zur Reichweite des Parlamentsvorbehalts und zum Grundrechtsschutz vor Gefahren durch kerntechnische Anlagen, JA 2002, 854 (856.). 60 BVerwGE 72, 300 (317). 61 Beaucamp, Der „Kalkar-Beschluss“ – Leitentscheidung des BVerfG zur Reichweite des Parlamentsvorbehalts und zum Grundrechtsschutz vor Gefahren durch kerntechnische Anlagen, JA 2002, 854 (857.). 62 BVerfGE 49 89 (126). 63 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, § 6 Rn. 14; Schulze-Fielitz, in Dreier (Hrsg.), GG Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 121; Busch, Das Verhältnis des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zum Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt, 1992, S. 55.